Mein Deutschland:Der Wehrdienst in Russland

Eine informelle Hierarchie gibt es in jedem Team, Russlands Armee aber ist noch immer eine geschlossene, von der Gesellschaft getrennte Institution.

Andrey Kobyakov

Rohe Schweineleber, Rollmöpse und Bier bis zum Erbrechen - viele Deutschen entdecken mit Entsetzen, was sich hinter den Mauern der Kasernenhöfe an Ritualen abspielt. Als Russe möchte man darüber erst einmal müde lächeln. Wie sagte Lenin 1918? "Das Militärwesen auf echte Weise kennenlernen!"

Zahllose Verbrechen in der sowjetischen und später in der russischen Armee wurden unter diesem Motto begangen. Lenins Worte gelten noch heute, auch wenn der Führer des Weltproletariats längst demystifiziert ist. Russische Militärwissenschaftler nutzen den Spruch als Epigraph, Generäle bauen ihn gerne in ihre feierliche Reden ein, und Offiziere interpretieren ihn durchaus wörtlich im Umgang mit frischgebackenen Rekruten.

Kniebeugen und Liegestützen, bis das Blut aus der Nase fließt, halbstündige Kommando-Ausführung "Stillgestanden!" und "echte" Kriegsübungen sind beim postsowjetischen Militär üblich, wobei die meisten Schikanen gar nicht von Offizieren ausgehen. Zumindest in der Nacht regieren in Kasernen die "Großväter", die altgedienten Soldaten. "Dedowschtschina", die Herrschaft der "Deds", der Großväter, ist in jedem modernen russischen Wörterbuch zu finden, man schreibt es längst ohne Anführungszeichen.

"Nimm das Brecheisen und fege den Übungsplatz ab!" so beginnt ein typischer Dialog in der Kaserne. "Darf ich auch den Besen nehmen? Das ist schneller und sauberer." Antwort: "Ich will nicht schnell und sauber. Ich will, dass du fertig bist"

Das erzählt man sich in Russland als Witz, und tatsächlich ist es witzig, weil viel zu harmlos angesichts der bitteren Realität. Die perversen Phantasien der Großväter reichen vom Putzen der Pissoirs mit Zahnbürsten bis Gruppengewalt im Alkoholrausch. Offiziellen Statistiken zufolge werden in Russland wegen "vorschriftswidriger Beziehungen" jährlich etwa tausend Soldaten verurteilt, mehr als hundert Rekruten bringen sich um.

Trotzdem: Auch im Vergleich zur russischen Wirklichkeit erscheinen die jüngsten Skandale bei der Bundeswehr gar nicht lächerlich und keinesfalls harmlos. Die Situation ist alarmierend vor allem deshalb, weil offenbar nicht alle Fälle bekannt werden. Allerdings ist die deutsche Gesellschaft viel offener als die russische - solange alle politischen und sozialen Institutionen demokratisch funktionieren, besteht keine Gefahr.

Die deutsche Dedowschtschina lässt sich noch kontrollieren. Was man von der russischen derzeit nicht sagen kann, weil grundlegende Strukturen es verhindern.

Nach der Reform der Sowjetarmee im Jahr 1968, mit der sich der Wehrdienst um ein Jahr verkürzte, fühlten die altgedienten Soldaten sich düpiert und ließen ihre Wut an den Rekruten aus - ein Spiel, das sich bis heute fortsetzt und das sich dadurch verschärft, weil wegen Kadermangel sogar vorbestrafte junge Leute einberufen wurden und mit ihnen die Kriminalität in die Kasernen einzog. Offiziere fördern zudem die Dedowtschina, weil die "Großväter" sie entlasten.

Eine informelle Hierarchie gibt es in jedem Team, Russlands Armee aber ist noch immer eine geschlossene, von der Gesellschaft getrennte Institution, die die Straffreiheit von Offizieren befördert. Solange das sich nicht ändert, bleibt der Wehrdienst in Russland - im Gegensatz zu Deutschland - eine gefährliche Herausforderung für junge Männer.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Andrey Kobyakov arbeitet in der russischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.

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