Mein Deutschland:Dann doch lieber Marylin

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Wenn sich Menschen in lebende Litfaßsäulen verwandeln.

Pascale Hugues

Studenten der Harvard Kennedy School in Cambridge, Massachusetts (USA), unterstützen den amerikanischen Präsidenten Barack Obama bei der Wahl 2012. (Foto: Bloomberg)

Bei einem Abendessen trug jüngst einer der Gäste - deutsch, über sechzig, ehrwürdig und wohlsituiert - ein anthrazitfarbenes T-Shirt, auf dem in großen weißen Buchstaben geschrieben stand: "Keep calm. Vote Obama." ("Nur die Ruhe. Obama wählen.") Während ich meinen Löffel in die Kürbissuppe gleiten ließ, fragte ich mich, was einen Mann, der das Alter der pubertären Schwärmereien schon lange hinter sich gelassen hat, nur dazu veranlassen kann, so viel frömmlerische Bewunderung für den Präsidenten eines Landes vor sich herzutragen, das nicht einmal sein eigenes ist.

Man muss dazu sagen, dass die offene Werbung für amerikanische Symbole ein altes Trauma für mich darstellt. Für das Tragen einer Jeans in den Farben der US-Flagge wurde einer meiner Klassenkameraden einst nach Hause geschickt mit der Bitte, doch mit "anständiger Kleidung" zurückzukehren. Der Schulleiter sah die Darstellung der Symbole einer imperialistischen Nation nämlich mit großem Missfallen. Über dem Tor des Gymnasiums flatterte allerdings die Trikolore der französischen Republik. Das T-Shirt mit den in den USA zum Tode verurteilten Anarchisten Sacco und Vanzetti und das Palästinensertuch - das war eher der Stil des Hauses.

Es ist gar nicht so lange her, da verletzte man die grundlegendsten Höflichkeitsregeln, wenn man bei Tisch über Geld, Sex, Religion oder Politik sprach. Doch heutzutage ist alles erlaubt. Im französischen Wahlkampf im Frühjahr eroberten T-Shirts mit der Aufschrift "Ich wähle Sarko!" und darunter in kleinen Buchstaben "Scherz!" die Restaurants, die die Pariser Linke frequentierte.

Am Mittwochmorgen stellte ich mir dann meinen jubelnden Tischnachbarn vor, als - nach einer schlaflosen Nacht vor dem Fernseher - der Wahlsieg seines Helden ausgerufen wurde. Und mir läuft ein Schauder über den Rücken, wenn ich daran denke, wie der herannahende Wahlkampf jetzt schon dieses Land zu zerreißen beginnt. Und wenn wir nun von exhibitionistischen Fans überschwemmt werden? Wenn sich die Deutschen in lebende Litfaßsäulen verwandeln, um für ihren Kandidaten zu werben? Wenn jeder auf der nackten Haut das Porträt seines Favoriten trägt? "I love Angela Merkel" in knallrosa Buchstaben zwischen Hals und Bauchnabel am Nachbartisch im Café. Der Kopf von Peer Steinbrück mit schmalen Lippen und großer Brille auf allen sozialdemokratischen Brustkörben. Eine grausame Vorstellung! Deshalb plädiere ich für die klassische Formel: Marilyn Monroe für die Herren, James Dean für die Damen.

Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

© SZ vom 10./11.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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