Mein Deutschland:Bewunderung vor Risiko

Bereit alles zu geben, damit man ins Fernsehen kommt.

Pascale Hugues

Deutsche Leitartikel erinnern mich manchmal an die Sonntagspredigten von früher. Der Leitartikler stellt sich vor seine Leser, verpasst ihnen eine gute Portion Moral und weist ihnen mit erhobenem und empörtem Zeigefinger, wo es langgehen soll. Seit dem Unfall bei "Wetten, dass. .?" am vergangenen Samstag hagelt es Schuldzuweisungen: die Medienhysterie, der Quotenwahn, die unverantwortliche Haltung der Sender, der steigende Konkurrenzdruck.

ZDF-Show ´Wetten, dass...?" nach Unfall abgebrochen

Die ZDF-Show "Wetten, dass...?" wurde nach dem  Unfall von Wettkandidat Samuel Koch abgebrochen. Moderator Thomas Gottschalk spricht in Düsseldorf  nach einer Unterbrechung zum Fernsehpublikum.

(Foto: dpa)

Wir sitzen derweil gemütlich auf unseren Sofas vor den Fernsehschirmen und haben vergessen, dass waghalsige Übungen immer auch riskant sind. Ob auf dem Zirkustrapez, auf Skisprungschanzen oder Rennfahrstrecken - Unfälle passieren. Absolute Sicherheit gibt es nirgends, noch nicht einmal auf der glänzenden Bühne eines Thomas Gottschalk. Die unglaubliche Geschicklichkeit von Samuel K. war eben nicht unfehlbar. Und der junge Mann war sich sicher des Risikos, das er auf sich nahm, bewusst.

"Wat soll denn det?" rief mir meine betagte Berliner Nachbarin entgegen, die ich ein paar Tage nach dem Unfall besuchte. "Warum brauchen alle heute so einen Kick?" Die sehr alte Dame hat zwei Weltkriege überlebt. Den Bombenregen über der Hauptstadt, die Trümmer in den zerstörten Straßen, mehrere Fehlgeburten und etliche Krankheiten. Den ganz gewöhnlichen Nervenkitzel des 20. Jahrhunderts. Sie ist dankbar und auch ein bisschen erstaunt, dieses hohe Alter erreicht zu haben. Sie wird kurz vor Weihnachten ihren 98. Geburtstag feiern. Und sie versteht nicht, wie ein junger Mann von 23 Jahren, in bester Gesundheit, Spaß daran findet, über Autos zu springen, die auf ihn zufahren. Wie kann man sich nur freiwillig in Lebensgefahr begeben? Und wie kann ein Vater auf das Gaspedal drücken - in Richtung seines eigenen Sohnes? Das alles nicht von ungefähr unter den Augen von Millionen Fernsehzuschauern mit Gänsehaut.

Wollte Samuel K., im Falle eines Wettgewinns, seine Jobaussichten als Stuntman verbessern? Oder hoffte er, wie tausend Menschen, die bei Casting-Agenturen vorstellig werden, für einen kleinen Augenblick zum Promi zu werden? Im Fernsehen aufzutreten, das bedeutet auch immer eine Bestätigung. Wer drei Sätze vor der Kamera stottert, ist sich der Bewunderung seinesgleichen gewiss. Man beobachte nur die Menschen, die sich in den Radius einer Kamera stellen, um dann mit großen Gesten die Verwandten daheim auf sich aufmerksam zu machen. Die Bilder sind bekannt: im Hintergrund Gedrängel und grinsende Gesichter, im Vordergrund ein Reporter, der verkrampft versucht, einen Live-Kommentar abzuliefern.

Heute sind manche bereit, alles zu geben, nur um ins Fernsehen zu kommen. Lebendige Heuschrecken essen, ein mittelalterliches Kostüm überziehen, sich von einer sadistischen Jury niedermachen lassen oder eben über Autos springen. Immer höher, immer schneller, immer spektakulärer und immer absurder - würde meine Nachbarin sagen. Im Fernsehen aufzutreten sichert den Status eines Halbgotts, der oberhalb der gewöhnlichen Masse der Sterblichen schwebt. Dafür nimmt man gerne Risiken in Kauf.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

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