Wasserfälle in New York:Alles, was der Fall ist

Der dänische Künstler Olafur Eliasson schenkt den New Yorkern vier künstliche Wasserfälle, aber die Leute sehen sie gar nicht - eine Radtour zu einer versteckten Sensation des Jahres

Holger Liebs

Montag, 16.35 Uhr.

Der Einwanderungsbeamte am Flughafen JFK ist ziemlich aufgeräumt. Man könnte auch sagen: Er ist belustigt. Auf die Frage, was man in New York vorhabe, hatten wir fröhlich, vielleicht sogar ein bisschen stolz unsere zurechtgelegte Antwort verkündet: "Biking the waterfalls". Biking the waterfalls, hatte der Mann den Ausspruch wiederholt, sinnierend in die Länge gezogen, um dann zurückzufragen: Äh, welche Wasserfälle denn? - Die von dem Künstler, an den Brücken. - Ach, diese Wasserfälle, meint er, na dann viel Spaß. Stempelt den Pass und händigt ihn aus. Wobei dieses beunruhigend süffisante Schmunzeln, fast ein Zug des Bedauerns, um seinen Mund spielt.

Na gut, der Mann muss den ganzen Tag so eine Art Türsteher für seine Heimat spielen, Identitäten überprüfen, rechter und linker Zeigefinger bitte da drauf, und jetzt noch in die Kamera schauen, "Du kommst hier nicht rein", die ganze Immigrationsprozedur eben - da bleibt nicht viel Sinn für Leichtigkeit, Offenheit, Experimentelles, wie es zum Beispiel die naturverbundenen Kunstwerke des dänisch-isländischen Erlebniskünstlers Olafur Eliasson offenbaren. So wäre das Schmunzeln des Beamten jedenfalls im Nachhinein interpretierbar. Oder war es nur Einbildung gewesen?

Fest steht: Der New Yorker an sich glaubt, seine Stadt sei konkurrenzlos. Wasserfälle? Pah! Wir reden ja nicht von irgendeinem Ort. New York, die erstaunlichste Stadt des Universums, ist sowieso vom nassen Element umzingelt und sogar schon überflutet und dazu noch schockgefroren worden - in Roland Emmerichs Film "The Day After Tomorrow". Okay, das war nur Fiktion, und Eliasson hat seinerseits im Jahr 2002 mit dem Aufbau einer riesigen künstlichen Sonne ganz real zwei Millionen Menschen in die Tate Modern in London gelockt.

Vielleicht war es das britische Nieselregenwetter, das derart akute kollektive Abenddämmerungssehnsucht hervorgerufen hatte; vielleicht machte Eliasson aber auch heitere, nicht allzu bedeutungsschwere Gemeinschaftserlebnisse möglich, die es in einem Museum lange nicht mehr gegeben hatte - jedenfalls waren noch nie so viele Menschen zur Ausstellung eines Gegenwartskünstlers gepilgert - und dortselbst teilweise selig-traumverloren lächelnd anzutreffen.

Man weiß, es ist keine Natur, obwohl es so aussieht und auch so funktioniert - aber man geht trotzdem hin und lässt sich bezaubern: Das ist der Eliasson-Effekt. Den wollte sich auch New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg einkaufen. Er gab Eliasson einen Auftrag und 15,5 Millionen Dollar aus für 200 Ingenieure, Designer, Berater, Beamte, Elektriker (plus Eliassons eigenes Team) - und warf eine Marketingmaschine an, welche die vier Wasserfälle am East River zum Kunstereignis des Sommers erklärte. Wie werde ich mir auf zwei Rädern nur einen Weg durch die anbrandenden Menschenmassen bahnen können? Das waren die letzten Gedanken, bevor der Jetlag seinen Tribut forderte und ein komatöser Schlaf eintrat.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso man sich als europäischer Radfahrer in Brooklyn exotisch fühlen kann.

Alles, was der Fall ist

Dienstag, 11.20 Uhr.

Bei "Bike & Roll" am Pier 17 des South Street Seaport, nahe der Brooklyn Bridge und fast am südlichen Zipfel von Manhattan, nimmt man die Sache mit den Helmen sehr ernst. Vielleicht auch, weil da sonst niemand ist, um den man sich kümmern müsste. Es scheint hier eine recht exotische Angelegenheit zu sein, überhaupt Rad zu fahren. Liegt vielleicht an der prallen Sonne, 91 Grad Fahrenheit sollen es heute werden - mehr als 30 Grad Celsius also. Der zitronengelbe Helm scheint maximale Sichtbarkeit auch im Mittagsdunst zu garantieren: Nehmen wir also den. Wo geht's zur Brooklyn Bridge? Da lang und beim Burger King rechts, sagen die Damen von Bike & Roll. Also losgerollt.

11.25 Uhr.

An der Fulton Street, einer restaurierten Häuserzeile aus dem 18. Jahrhundert, wo heute Body Shop, Benetton oder "Mrs. Field's Pretzel Time" Touristen anziehen, kurz angehalten und überlegt: kleiner Abstecher zum Besuch der Ausstellung "Bodies"? Dagegen entschieden: Wasserfälle sind schöner als die plastinierten Kadaver chinesischer Strafgefangener in Tennisspielerpose. Jedenfalls dann, wenn man den zahlreichen Wasserfall-Bildern auf Flickr Glauben schenkt. Die Kaskaden sind dort eines der beliebtesten Motive.

11.28 Uhr.

Wo ist die Brückenauffahrt? Die Ausläufer der Brooklyn Bridge bohren sich wie eine riesige, rostige Nadel ins Straßengewirr von Manhattan: Der Abschnitt über dem East River macht weniger als ein Drittel ihrer Gesamtlänge aus. Ein Glück, da ist eine Treppe. Nicht gerade das, was man von einer Fahrradroute erwartet, aber immerhin.

Dann schwebt man auf den Holzplanken ein Stockwerk über den Autos dahin, genießt die Ingenieursleistung des Thüringers John August Roebling, der wie sein Sohn beim Bau der mächtigen Hängekonstruktion sein Leben ließ, bestaunt die mächtigen neugotischen Pylone aus Sandstein und Granit, hält Ausschau nach Eliasson und sieht - nun ja, nichts, denn der Wasserfall stürzt ja unter der Brücke herab. Wir müssen schon nach Brooklyn rein, um ihn zu sehen.

11.43 Uhr.

Brooklyn. Scharfes Bremsmanöver: Findet da ein Fußballspiel statt? Tatsächlich: Auf der Cadman Plaza rennen Menschen einem Ball hinterher. Die Latinos spielen am besten. Anders als in Europa: Ein Mädchen spielt mit. Auch anders als in Europa: Die Zuschauer lachen sich kaputt. Zum Beispiel: Einer macht einen Einwurf - totaler Brüller! Ein Schlaks mit Glatze verliert den Ball: Jetzt hauen sich die HipHop-Jungs auf der Parkbank auf die Schenkel, schreien vor Vergnügen, können nicht mehr. Der zitronengelb behelmte Radfahrer fühlt sich auf einmal sehr mulmig, irgendwie exotisch, er hat's ja sowieso eilig: weiter, zum ersten Wasserfall.

11.52 Uhr.

Na endlich. Old Fulton Street, am Wasser. Schöne Sicht auf das Gestänge mit fließendem Wasser, im Schatten der Brücke. Ein Paar möchte fotografiert werden. Nein, nein, bitte vor der Kulisse von Manhattan. Ach so.

Vorm schwimmenden River Café, direkt neben dem Wasserfall, ein Kellner, gelangweilt.

- Warten Sie auf Kundschaft?

- Mmh.

- Gefällt Ihnen der Wasserfall?

- Ja, schon.

- Warum?

- Weiß nicht.

- Hm. Kommen viele Leute deswegen?

- Ja, denke schon.

- Und die setzen sich dann auf die Café-Terrasse am Fluss. Wegen der Sicht.

- Nee, da kann man gar nichts sehen. Zu der Seite geht nämlich die Küche raus.

- Also muss man doch von Manhattan aus draufschauen?

- Vielleicht schon. Da sieht man das Gerüst nicht. Da sieht er aus wie ein echter Wasserfall. Vor allem abends, bei Beleuchtung.

Man wollte noch anmerken, dass es zu Eliassons Naturkunstwerken, zum Eliasson-Effekt dazugehört, dass ihre Konstruktion immer transparent bleibt. Aber die Bemerkung schien irgendwie fehl am Platz.

Auf der nächsten Seite erfahren Sie, warum die künstlichen Wasserfälle in New York so winzig wirken.

Alles, was der Fall ist

12.06 Uhr.

Brooklyn Heights, keine Uferpromenade wie jede andere: Sie schwebt hoch über dem Wasser. Die Holzbohlen rattern, darunter rauscht der Brooklyn-Queens-Expressway. Das Ufer ist eine postindustrielle Einöde. Mittendrin: ein weiterer, wackerer, einsamer Wasserfall mit Gerüst. Sieht vor dem Panorama Manhattans irgendwie aus wie die Miniaturausgabe einer Wolkenkratzerbaustelle mit, nun ja, Wasseranschluss.

Aha! Ein Hobbymaler. Leinwand in Richtung Kaskade ausgerichtet. Malt ganz gut, pastellfarben, viel blau. Leider nur die Kulisse Manhattans.

- Hallo!

- Hi.

- Warum malen Sie nicht den Wasserfall?

- Welchen Wasserfall?

- Na, den da!

- Ach, schau mal an. Den hatte ich gar nicht bemerkt.

In einem Zeitungsartikel stand unlängst zu lesen, Eliassons Werke seien in letzter Zeit so gigantomanische Technikmonster geworden, dass ihnen die Seele verlorengegangen sei. Oder so ähnlich. Angesichts der vor den Wolkenkratzern sich zwergenhaft duckenden, winzigen Wasserfälle, die vom Moloch New York einfach geschluckt werden, so dass keiner sie mehr sieht, muss man sagen: stimmt nicht. Zu klein sind die Dinger, nicht zu groß. Wenigstens die Höhe der Niagara Falls (52Meter) könnten sie haben. Stattdessen: Maximum 40Meter. Höher als die Freiheitsstatue, immerhin.

Drüben, auf Governors Island, steht noch ein Wasserfall, Nr.3, aber mit bloßem Auge ist er nicht zu erkennen. Verschwimmt im Dunst. Diese Kunst, woanders riesenhaft und massentauglich, ist im Babylon der Moderne nurmehr ein Hauch, eine Andeutung ihrer selbst. Den Hudson River rauf und noch ein Stück weiter sollen sie ja auch ganz schöne Wasserfälle haben.

12.23 Uhr.

Zur Manhattan Bridge. Die Temperaturen steigen, der Grad an Verausgabung auch. Diesen kurzen achtspurigen Abschnitt der Biker's Route würde man in Deutschland Autobahn nennen - aber auf der Brücke selbst ist man dann wieder allein mit sich und einer Steigung, die sich locker anlässt, aber dann zu einer Art Mini-Alpe-d'Huez wird. Pause! In Richtung Norden der Blick auf Wasserfall Nr.4, am Pier 35. Der ist noch kleiner als die anderen.

Am anderen Ufer, 150 Meter Luftlinie von Nr.4 entfernt, ist man wieder mal so gut wie alleine. Bis auf eine vierköpfige Familie. Der Junge sagt: "Daddy, schau mal, rote Quallen!" Und alle rennen zum Ufer, schauen in die braune Brühe.

Es ist nicht Eliassons Schuld. Er wollte es ja so subtil, erst die Bloomberg-Maschinerie hat den Rest besorgt. Die hohen, zu hohen Erwartungen, dann die Diskussion um die 15,5 Millionen Dollar. Mussten die denn ausgegeben werden? Es ist immer dieselbe Frage: nein, mussten sie natürlich nicht. Aber das Empire State Building musste ja auch nicht sein. Hat aber trotzdem jemand gebaut. Heute ist das Empire State Building Teil des Problems, das die Wasserfälle haben. Im Death Valley hätten sie bestimmt sensationell ausgesehen.

12.47 Uhr.

Gut in der Zeit: schon zurück bei Bike&Roll. Dort parkt ein Polizeiwagen, mit Blaulicht. Mehrere Beamte sind vor Ort: Ein Fahrrad ist geklaut worden. Das scheint ja eine Riesensache zu sein und kommt wahrscheinlich eher selten vor. Bei Autodiebstählen sagen sich die Polizisten bestimmt, na ja, kann man nichts machen, es gibt eh so viele. Wer will schon ein Auto wiederfinden? Hoffnungslos. Aber Fahrraddiebe? Stoff für die Abendnachrichten, ganz klar.

Und dann ist man am Ende doch neidisch. Auf die New Yorker. Ihre Polizisten. Und ihre Wasserfälle.

Anreise: Mit vielen Fluggesellschaften von Deutschland nach New York und zurück, zum Beispiel mit Lufthansa, Air Berlin, Air France, Iberia oder American Airlines ab 700 Euro.

Weitere Auskünfte: Fremdenverkehrsamt NYC&Company über Aviareps Mangum in München, Tel.: 089/2366210, E-Mail: newyork@aviarepsmangum.com

Infos zu den Wasserfällen: www.nycvisit.com/waterfalls, www.nycwaterfalls.org

Fahrradverleih: www.bikeandroll.com

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