Vietnam:Im Nebel der Erinnerung

Hanoi ist auf dem Weg, die Megalopole Vietnams zu werden, aber die Menschen sind noch geprägt von den Tabus früherer Zeiten.

Arnd Wesemann

Nach 23 Uhr ist Hanoi wie ausgestorben. Langsam bewegt sich das Taxi durch die Nacht. In der Konsole stecken lose CDs. Auch verbotene Musik ist dabei. Die Fahrt durch die Nacht verlangsamt sich weiter. Der Fahrer erkurvt sich Umwege als Gegenleistung dafür, dass die indizierte Scheibe eingelegt wird.

Er gleitet die Touristenmeilen entlang um den innerstädtischen Ho-Hoan-Kiemsee und am legendären Hotel Métropole der Kolonialzeit vorbei, einmal um den Leninpark und am Regierungspalast durch die Alleen aus französischen Herrschaftszeiten.

Die Sängerin singt von der Seele, die nicht unterging, als die Japaner, als die Franzosen, als die Amerikaner Vietnam besetzten.

Die Unglücklichen der Nacht

Warum so ein Lied verboten sei? Der Fahrer lacht nur. Links gleitet das Mausoleum des Revolutionsführers Ho Chi Minh vorbei. Ein paar Quartiere weiter ruft die im Taxi versammelte vietnamesische Gesellschaft auf einmal: "Hier, hier!" und "Weißt du noch?"

Vor ein paar Jahren standen Militärs und Jugendliche gebannt um vier Uhr nachts am Straßenrand, wenn Hanoi besonders tief schläft. Wahnsinnige schnitten die Bremsleitung ihres Mopeds durch und bretterten mit Höchstgeschwindigkeit durch den nächtlichen Hoan-Kiem-Distrikt. Was war schon James Dean gegen diese tödlichen Rennen?

Hier starben die Unglücklichen der Stadt als Helden. Verboten, aber umjubelt von Hunderten rasten die Verzweifelten unter Applaus in den Tod.

In diesem Distrikt hat sich das Hilton-Hotel wie ein salopper Schal um die kleine Oper von Hanoi gelegt. Davor proben Chöre und das Ballett den zehnten Parteitag der kommunistischen Partei. In den Gassen wehen goldene Sterne auf rotem Grund, überall flattert das Tuch mit Hammer und Sichel.

Um die Ecke befindet sich ein Club, eingerichtet, wie man sich das 19. Jahrhundert vorstellt: mit Zigarren und feinem französischen Cognac, mit vornehm rotbraunem Mobiliar und vorzüglicher Küche. Wir sitzen allein auf der Veranda.

Nebel zieht auf, so schnell, als würde ein Tischtuch über uns gebreitet. Unverdrossen erklingt das Stakkato "Ho Ho Ho Chi Minh" zur Feier der Partei. Es tönt vom Opernplatz durch die weiße Nacht, begleitet vom kreischenden Bremsen eines Busses, dem Scheppern eines verunglückenden Mopeds.

Sehen kann man nichts. Von einer Sekunde auf die andere ist Hanoi versunken, als läge es tief im Meer und nicht im Delta des Roten Flusses im Norden von Vietnam. Und weiter gellt durch die Nebelwand die Lobpreisung des Gründers der Sozialistischen Republik Vietnam: "Ho Ho Ho".

Das unsichtbare Hanoi. Im Norden der Stadt liegt flach und unbewegt der gewaltige Westsee, ein Überbleibsel des Roten Flusses. Kleine Boote dümpeln licht- und lautlos auf dem Wasser. Paare steigen ein. Nur die glimmende Zigarette des Fährmanns tanzt in der Dunkelheit.

Das gewaltige Schweigen nach dem Krieg

In vier Jahren wird die Stadt ihr tausendjähriges Bestehen feiern. Das gewaltige Schweigen nach dem Krieg, nach der Revolution, nach dem Zusammenbruch der Familien. An ihre Stelle traten in Vietnam die kommunistischen Machthaber wie Verwandte, wie Onkel und Großvater für all die Neffen und Enkel, die ihr Volk sind.

Deshalb sei Hanoi durchwebt von einem unsichtbaren Geflecht von Beziehungen, die Übelmeinende einfach Korruption nennen. Genauso, wie Hanoi durchwebt ist von einer vollständig unsichtbaren Gewalt, die sich heimlich ihre brutalen Ventile sucht. Das Boot legt an. Hier soll ein Café sein. Man sieht es nicht.

Die Erde ist wirklich schwarz. Licht kommt nur vom Seeufer am Horizont. Man denkt unwillkürlich an europäische Blindenrestaurants, wo Sehende in die Lage von Nichtsehenden versetzt werden. Hier dagegen wird die blinde Liebe gefeiert.

Von einem stolpernden Mann geführt, erreicht die Dame den unbeleuchteten Tisch. Stimmen am Ohr verraten die Getränkekarte. Zigarettenglut ist die einzige Orientierung. Hier glühen die Verliebten. Kichern. Irgendwo im Westsee. Unwiederfindbar.

Es wird Tag. Der Nebel hat sich gelegt. Dunst steht über der Stadt. Dreieinhalb Millionen Frühaufsteher knattern auf ihren Mopeds um die Wette zu ihren Arbeitsstellen. Kaum eine Ampel hält die Schwärme auf.

Das "Millenium des Schweigens" über Krieg und Revolution in Vietnam durchkreuzt ein heulendes Konzert tausender Motoren.

Hier soll es sein, das "Reiseziel des Neuen Jahrtausends". Wunschbotschaften dieser Größe klingen nach Übererfüllung tausendjähriger Pläne.

Das Gegenteil eines Reiseziels

Denn Hanoi ist beinah das Gegenteil eines Reiseziels. Sitte, Scham, eine Unzahl von Tabus nimmt diese Gesellschaft nicht nur vom Nachtleben aus. Hanoi ist keine Stadt, die sich herzeigt. Sie ist zudem übersatt an Erinnerungen. Dort, sagt die Begleiterin, fielen die Bomben der Amerikaner.

12 Tage und 12 Nächte lang. Und behauptet, sie habe den Leichengeruch noch immer in der Nase. Damals war sie elf. Hier im Viertel Van Chuong sehen die Häuser trotzdem aus wie hundertjährig, wie auf schmale Handtuchgröße gesetzte Betonzinken, Butzen, die wirken, als nähmen die durch die wenigen Stockwerke führenden Treppen selbst den gesamten Raum ein.

Was aussieht wie ein kleiner Marktplatz, mit wenigen Gemüsen, den winzigen Plastikstühlen, auf denen Bier gereicht wird, verengt sich in der Nebengasse zu einem Labyrinth. In den Hausfluren stehen Billardtische, in den winzigen Ladengeschäften räkeln sich Kinder, ein Frisiersalon, der zugleich Internetcafé ist, vollgeparkt mit Mofas.

Daneben ein Holztisch, auf der eine Frau frisch gebratene Hunde anbietet: glasiertes Fleisch, der Schwanz steht knusprig in die Höh'. In der blauen Plastikwanne daneben kreuchen tiefschwarze Skorpione.

Eine Gasse endet, ein schmales Haus wird quer gebaut. Der Stromkasten hängt bereits im Mast, von dem bündelweise Kabel wie schwarze Nudeln durch die schulterschmalen Gassen ziehen. In jedem Hauseingang riecht es anders. Drinnen sitzen Frauen mit dunkel gefärbten Zähnen, die sie mit einem breiten Lächeln entblößen, den Enkel auf dem Schoß.

Essen köchelt draußen auf kleinen Topftürmen vor den weit geöffneten Türen. Frauen tragen Müll und durchkämmen mit schwarzen Handschuhen jeden Winkel nach Brauchbarem. Glasigen Blicks werden sie beobachtet von einer Horde Männern mit Bambuspfeifen. Es wirkt wie eine Remiszenz an das alte Opiumviertel und die Bordelle, die hier einmal standen und die alten Frauen in den Opiumhöhlen, die das vietnamesische Ca Tru aus dem 11. Jahrhundert sangen, eine Salonmusik, die von fernen Welten, von Abenteuern und Liebe handelte.

Heute zwitschern nur noch Singvögel in Käfigen. Im Hintergrund einer drögen Kneipe läuft Fußball, daneben ein Hauswart, der die Stromrechnung in einem Kollektiv eintreibt, das kilometertief in den verwinkelten Gassen nistet.

Dazwischen ein kleiner Tempel, Rosenstöcke, wieder ein Marktfleck, nur wenige Meter breit, mit Fischen, die noch schwanzlos zucken, dazu eine gebratene Ente mit Hals und Kopf. Ordentlich gestapelte Seife liegt in einer staubigen Glasvitrine, dahinter Jungs, die mit Perücken auf Puppenköpfen ihr Friseurhandwerk lernen.

Wäre Hanoi ein Körper, befände sich hier das Bindegewebe. Der Anschein des Unabänderlichen verbreitert diese armen Gassen enorm. Es ist eine Sehnsucht nach dem Beharrlichen. Den Touristen stimmt das sonderbar glücklich.

Aber nach dem Vorbild aller Tigerstaaten werden Hochhäuser auch in Hanoi alles plattmachen, was sich in allzu armer Selbstverständlichkeit wiegt. Noch hat die Stadt nicht das Soll einer Megalopole erfüllt. Noch sind es keine zig Millionen, die hier leben wie in Schanghai. Das Bankenviertel ist erst eingerüstet, nur wenige Klötze dominieren.

Brandenburger Tor, in doppelter Größe

Der Kommunismus mit seiner kapitalistischen Seite hat die Angst der Bevölkerung noch vor sich, an genau den Rand gedrängt zu werden, von dem aus sie einst ins Zentrum floh. An diesem Rand ist wenig Platz. Vor der Stadt wuchert der lustige Reichtum, blüht, was in Europa vorlaut abgeblasen wurde: eine Postmoderne, die alle Baustile, die bis dato auf der Welt vorkamen, noch einmal baut.

Aus Sehnsucht nach Geschichte. In ungeschminkter Erinnerung an die zeitgleiche Besatzung durch die Japaner und Franzosen stehen überall gegenwärtige Pagodendächer auf gegenwärtigen Kolonialbauten. Keine dieser türkis- und sonstwie bunten Spielereien ist älter als zehn Jahre. Hanoi, klein wie Berlin, hat sogar das Brandenburger Tor ausgelagert, in doppelter Größe.

Es steht auf dem Weg zum Flughafen, mit zwei mal acht schwarzen, überlebensgroßen Wildpferden obendrauf, Zeichen für doppeltes Glück. Hanoi, unberührt vom Tsunami, hat eine Kongresshalle gebaut, welche die Riesenwelle als Dachform trägt. Es ist die vietnamesische Diaspora, die in Europa und den USA lebt und mit Genuss einfach baut, was sie gerade bewegt.

Noch einmal zehn Kilometer weiter, vor den Toren Hanois, im fruchtbaren, von Reisfeldern durchzogenen Schwemmland des Roten Flusses, führen Dämme schnurgerade in die Dörfer. Eine Millionen Dörfer, sagt man hier, bedeuten eine Millionen Könige.

Besuch beim Dorfkönig von Hien Van: In dem kleinen Straßendorf in der nördlichen Region Bas Ninh trifft man auch auf eine alte Dame, die noch die Bordelle kannte, und das Opium, und jetzt das vietnamesische Ca Tru aus dem 11. Jahrhundert singt: Ihre Zähne sind schwarz und spitz gefeilt.

Ihr Alter, 85 sagt man, sieht man ihr kaum an. Sie kaut die Betelnuss, das vietnamesische Heilmitttel gegen die Schmerzen des Alters. Ihre Freundinnen sind mitgekommen. Sie schließt die von Hunderten Falten umringten Augen.

Die Freundinnen, auf kleinen Stühlen sitzend, wippen zu ihrem heiser trällernden Gesang mit den Füßen einen Takt. Ihre Gesichter sind zerfurcht, ihre Hautfarbe der Erde gleich. Sie alle leben in kleinen Häusern, die nahezu identisch eingerichtet sind, mit zwei Betten an den Seiten, einem Hausaltar in der Mitte und davor die Stühle um einen Tisch, unter dessen Glasplatte die kommunistischen Volksvertreter fast erotisch retuschiert auf die Anwesenden schauen.

Hier gilt aber auch ohne Kommunimus traditionell die Zusammengehörigkeit des Dorfes, die über der Einheit der Familie steht. Das Dorf wirkt wie eine Trutzburg, mit wenigen Eingängen zu den von hohen Mauern flankierten Gassen. Mühelos tritt man von Hof zu Hof, ist überall willkommen, überall wird man, einmal vom Dorfkönig begrüßt, auf einen Tee eingeladen.

Das Dorf Hien Van liegt wie die meisten an einem Hügel, auf dessen Gipfel der Friedhof liegt, beschützt von den trutzigen Häusern, die auf die endlosen Reisfelder schauen. Und die alte Dame singt vom weiten Land und ferner Zeit und einer Welt, die es nicht mehr gibt. Sie singt von Hanoi, und davon, dass es nicht zu sehen ist. Dass es unsichtbar geworden ist.

Dass ein Fremder, der nie ins Innerste vordringt, nichts wird sehen können. So singt sie mit schwarzen Zähnen, geschlossenen Augen und die Dunkelheit bricht jäh herein. Hanoi schläft bereits. Es träumt. Von seiner eigenen Unsichtbarkeit.

Informationen

Einreise: Touristen benötigen für die Reise nach Vietnam ein Visum. Anträge unter: www.vietnambotschaft.org

Anreise: Hin- und Rückflug täglich ab Frankfurt mit Thai Airways via Bangkok nach Hanoi ab 700 Euro, Internet: www.thaiairways.com

Unterkunft: Das schönste Hotel ist das 1910 erbaute und renovierte Sofitel Métropole, 15 Ngo Quyen, Internet: www.sofitel.com,DZ ab 100-200 Euro

Das Hilton Hanoi Opera in der 1 Le Thanh Tong gilt als das zweitbeste Haus am Platz. Internet: www.hilton.com, DZ ab 144 Euro

Weitere Auskünfte: Ein offizielles Fremdenverkehrsamt für Vietnam gibt es im deutschsprachigen Raum nicht. Kostenlose Informationen erteilt Indochina Services, Enzianstr. 4a, 82319 Starnberg, Tel: 081 51/77 02 22, Internet: www.indochina-services.com

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