Unterwegs in Tallinn:Hanse und Hightech

Kann sich die New York Times irren? Nein, Estlands Hauptstadt Tallinn ist eine der angesagtesten und innovativsten Städte Europas - Mittelalter gibt es aber auch.

Matthias Kolb, Tallinn

Der Weg zu Estlands Mister Internet ist gut gesichert. Jeder Besucher bekommt eine Chipkarte, um die Sicherheitstüren des IT-Colleges zu öffnen. Am Ende eines langen Gangs mit Hörsälen wartet Linnar Viik. Er hat fast alle Regierungen seines Landes in IT-Fragen beraten: "1996 haben wir begonnen, öffentliche Internet-Stationen einzurichten und alle Schulen ans Netz anzuschließen."

"Tiigrihüppe" hieß das Programm und dieser "Tigersprung" war sehr erfolgreich. Heute gehört die moderne Technik zum Alltag: Seit 2006 kann jeder Este online wählen, und in Tallinn werden Bustickets oder Rechnungen im Restaurant per SMS bezahlt. Die komplette Altstadt ist ein großer Hotspot, also eine Zone mit drahtlosem Internetzugang. Das ganze natürlich gratis, weshalb selbst wartende Taxifahrer im Auto E-Mails schreiben. Die Absolventen des IT-Colleges sind überall gefragt: Firmen wie Skype, die Pioniere der Internet-Telefonie, haben ihre Entwicklungsabteilungen in Tallinn.

"Estland hat nur 1,4 Millionen Einwohner, da müssen wir schneller und beweglicher sein als andere Staaten", sagt Viik. Neben dem estnischen Pragmatismus ist auch die Nähe zu Finnland, der Heimat von Nokia und Linux, ein entscheidender Faktor.

Invasion der Elche

Achtzig Kilometer trennen Tallinn und Helsinki, doch sechs tägliche Linienflüge, regelmäßiger Fährverkehr und eine ähnliche Sprache verbinden die Hauptstädte. In der Sowjetzeit guckten die Esten finnisches Fernsehen und schon damals durften Finnen nach Tallinn reisen. Seit 1991 ist Finnland neben Schweden der größte Investor, und die enge wirtschaftliche Verbindung sorgt dafür, dass die Esten mehr verdienen als Letten und Litauer. "Ehrlich gesagt: Wir vergleichen uns nicht mit den südlichen Nachbarn, sondern mit denen im Norden", gibt der 30-jährige Schriftsteller Peeter Helme zu, der soeben seinen ersten Roman veröffentlicht hat - der natürlich in Tallinn spielt.

Noch etwas festigt die Beziehung der Nachbarn: Die Hälfte der 1,2 Millionen Touristen, die pro Jahr nach Tallinn kommen, sind "Elche", wie die Finnen genannt werden. Sie kommen auch wegen des günstigen Alkohols - doch anstelle des süßen Blaubeerweins kaufen sie kistenweise Wodka.

Aus der ganzen Welt kommen junge Leute in die "Partyhauptstadt des Jahres 2006", wie die New York Times meinte - der Spiegel kürte Tallinn im Sommer 2007 zu einer der coolsten Städte Europas, neben Barcelona, Dublin, Hamburg und Amsterdam. Priit Juurmann grinst, wenn er über diese Titel spricht. "In Tallinn ist schon einiges los, es gibt eine gute und aktive Szene, aber wenn ich an London, Moskau oder Berlin denke..."

Juulmann weiß, wovon er spricht: Als DJ Julm ist er einer der Stars der estnischen Party-Szene, legt seit Jahren weltweit in Clubs auf und kehrt immer wieder nach Tallinn zu Frau und Kind zurück. "Mir gefällt es hier", sagt der 36-Jährige, "ich brauche keine Riesenstädte". Wie viele Esten zieht er sich im Sommer in ein einfaches Landhaus zurück und überlässt den Touristen die Altstadt, die oft mit Kreuzfahrtschiffen anreisen und über die mittelalterlichen Mauern staunen.

Hansestadt Reval

Tallinn wurde 1154 erstmals urkundlich erwähnt und erst von Dänemark und dann vom Deutschen Orden erobert; später hatten die Schweden das Sagen. Über Lübeck kamen tausende Handwerker nach Reval, wie die Hansestadt bis 1918 hieß. Jahrhunderte lang bestand Reval aus zwei topographisch getrennten Teilen: In der Unterstadt lebten die Kaufleute, während in der Oberstadt "die Macht" residierte, also der Bischof und die Ritterorden. Die einzige Verbindung war die streng bewachte Gasse "pikk jalg", auf Deutsch "langes Bein", und es galten unterschiedliche Rechtssysteme.

Als Demonstration seiner Macht ließ der Zar 1894 die riesige Newski-Kathedrale auf den Domberg bauen, deren russisch-orthodoxe Zwiebeltürme zum Leidwesen der Esten bis heute die Silhouette Tallinns prägen. Ein knappes Drittel der 400.000 Tallinner ist russisch-sprachig, doch die beiden Gruppen leben im Alltag eher neben- als miteinander. Seit dem Streit um die Verlegung eines Sowjetdenkmals im April 2007, bei dem zu Straßenschlachten und Plünderungen kam, ist das Misstrauen weiter gewachsen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso es in Estland so viel Bärenfleisch zu essen gibt und was Estland und München gemeinsam haben.

Hanse und Hightech

In der Unterstadt stehen die alten Kaufmannshäuser so dicht aneinander, als müssten sie sich gegenseitig stützen. Wer die Stadtmauer mit den Wehrtürmen wie der "Dicken Margarethe" entlang flaniert, fühlt sich in die Vergangenheit zurückversetzt - oder wie im Freilichtmuseum. Als Knappe oder Burgfräulein verkleidete Studenten verkaufen Leckereien und Schmuck oder laden in die "Olde Hanse" ein. Dort werden die Teller mit Bären- und Elchfleisch beladen, aus Tonkrügen kippen die Gäste Zimt- und Honigbier. In Estland gibt es mehr Bären als irgendwo sonst in Europa und so werden jedes Jahr einige Brunos geschossen.

Unterwegs in Tallinn: Priit Juurmann, in Estland bekannt als DJ Julm

Priit Juurmann, in Estland bekannt als DJ Julm

(Foto: Foto: oh)

Älteste Apotheke Europas

Alle Wege enden irgendwann auf dem Raekoja Plats mit dem impo-santen spätgotischen Rathaus, an dessen Mauern noch ein Pranger befestigt ist. An der Nordseite des Platzes verkauft die Raeapteek seit 1422 Medikamente - und ist damit die älteste Apotheke Europas, die immer noch in Betrieb ist.

Das neue Kunstmuseum KUMU sitzt wie ein Keil in der Parklandschaft, die Zar Peter I. fernab des Stadtkerns für sein Schloss Kadriorg anlegen ließ. Empfehlenswert ist ein Spaziergang am Strand von Pirita, wo 1980 die Segelwettbewerbe der in Moskau ausgetragenen Olympischen Spiele stattfanden und der Wind mächtig bläst. Im Sommer wird hier auch geschwommen. Auf der Rückfahrt im Linienbus passiert man das Russalka-Denkmal, das an ein 1893 gesunkenes russisches Kriegsschiff erinnert, und hat einen fantastischen Blick auf die Silhouette Tallinns.

Auch wenn viele Tallinner über den "kitschigen Themenpark" in der Altstadt lästern, zieht es viele abends genau dorthin in die Bars und Clubs. Das Café Moskva oder der Club Privé sind immer voll - viele Türen öffnen sich aber nur mit einer Mitgliedskarte, um etwa britische Junggesellen fernzuhalten. Ein Zentrum der Tallinner Nachtszene ist das "Von Krahl" in der Altstadt. Hier legt DJ Julm einmal im Monat beim "Tallinn Express" House und Elektro auf, auch den legendären Partyabend "Mutant Disco" verlassen die wenigsten vor dem Sonnenaufgang.

"Die estnische Elektro-Szene ist sehr gut", berichtet DJ Julm stolz. In ganz Estland leben weniger Menschen als in München, insofern kennen sich die Protagonisten gut und arbeiten immer wieder in Projekten zusammen - Priit Juulmann ist Teil des Broken Time Orchestra, in dem Jazz mit Elektro kombiniert wird, und bringt die CDs auch auf seinem eigenen Label heraus.

Doch eine kleine, überschaubare Szene hat auch gewisse Nachteile: Für Neulinge ist es nicht leicht, sich einen Namen zu machen, denn die Platzhirsche verteidigen ihr Revier. DJ Julm hat dafür eine Erklärung: "Es gibt sehr wenig Platz für neue Clubs in der Altstadt." Gegen Boutiquen oder Büros haben Musiker keine Chance und die Tallinner sind es gewöhnt, zu Fuß von einem Club zum nächsten zu gehen, bis es wieder hell wird.

Auch tagsüber gibt es in der Unterstadt viel zu entdecken: Im Meisterhof in der Vene-Straße töpfern, weben und schnitzen Handwerker vor den Augen der Besucher und im Café "Chez Pierre" isst man die besten Pralinen der Stadt - Konditor Kaspar Kütt hat sein Handwerk in Münster gelernt. Seit kurzem werden die Schokoleckereien (unbedingt probieren: Chili-Trüffel) auch im Café Josephine angeboten. Schicke Accessoires und Kleidung im skandinavischen Design von jungen estnischen Künstlern gibt es im NU NORDIK.

Zwei Nebenstraßen weiter, in der Müürvahe 19, liegt das Studio der Designerin Reet Aus. Sie schneidert aus Schlafsäcken, Uniformen und anderen Resten neue, extravagante Damenkleider. Ihre Mode verkauft sich gut, denn immer mehr Esten suchen nach Individualität und setzen auf Ökologie. Auch eine grüne Partei hat sich mitterweile etabliert und ist im Parlament vertreten. "Früher haben alle große Jeeps gekauft, doch jetzt reicht ein sparsames Auto", sagt Reet Aus. Sie plant mit Freunden ein Ökodorf vor den Toren der Stadt - drahtloses Internet inklusive, versteht sich.

Informationen:

Die Website von Tallinn hat eine gute Übersicht: http://www.tourism.tallinn.ee/fpage/travelplanning/arrival

Weitere nützliche Tipps gibt es unter www.baltikuminfo.de.

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