Unterwegs im Norden von Kerala:Der zweite Blick

Reisende müssen schon genau hinschauen, um die Reize Nordkeralas wahrzunehmen. Doch wer sich die Mühe macht, entdeckt Märchenhaftes im "Land der Kokospalmen".

Tanja Rest

Wer je an diesem elenden Wasserloch gestanden und auf das Erscheinen des vegetarischen Krokodils gewartet hat, der hat sich vielleicht auch gefragt, ob ihm die triefig schwüle Hitze von Kerala allmählich auf die Hirnrinde drückt. Das Krokodil sei jedenfalls vorhanden. Vom Wasserloch aus bewache es den benachbarten Ananthapuram-Tempel im See, es werde im Todesfall stets wiedergeboren und ernähre sich streng pflanzlich. Haben die Mönche versichert. Das Wasserloch misst etwa sechs Meter im Durchmesser. Man sagt sich, dass das zu klein ist für ein Krokodil, dass noch dazu die Sicherheitsumzäunung fehlt, dass keralesische Seetempelmönche fürchterliche Fabulierer sind, und man hat sicher recht damit. Bis auf die Tatsache, dass das Krokodil da ist. Zwei gut getarnte Kroko-Meter von der Schwanzspitze bis zur Schnauze, die zwischen schlammgrünen Seerosenblättern hervorlugen. Vermutlich sind Seerosen sein Leibgericht.

Kerala Indien Asien Tempel Kokospalmen Kathakali

"Kerala" bedeutet übersetzt "Land der Kokospalmen". Bei einer Fahrt durch die Region wird schnell deutlich, warum.

(Foto: dpa-tmn)

Wenn diese Geschichte etwas bedeuten soll - und eigentlich bedeuten alle Geschichten in Indien irgendetwas -, so vielleicht, dass man in dieser Ecke des Landes etwas genauer hinschauen muss, dann aber Märchenhaftes entdecken kann.

Diese Ecke des Landes, das ist der Norden von Kerala, jenem Bundesstaat, der sich die Malabarküste entlang bis zur Spitze des indischen Subkontinents erstreckt. Die Reiseroute führt von Kasargod südwärts bis nach Kalikut - knapp 185 Kilometer, für die der Kleinbus mehr als sechs Stunden benötigt. Schon nach wenigen Kilometern immerhin ist klar, warum Kerala (wörtlich übersetzt: Land der Kokospalmen) so heißt: Der Kokoswald kennt kein Ende und wuchert nonchalant bis in die Städte hinein. Davon abgesehen lässt sich der Landstrich am besten durch das beschreiben, was er alles nicht beinhaltet.

Die Ausnahme ist der Tourist

Ein Blick auf die "Top Highlights" im "Lonely Planet", und jeder weiß: Die hohen Berge sind in Kaschmir, die Maharadschapaläste in Rajasthan, die Gangespilger in Varanasi, die Tigerreservate im Landesinneren und die Tempel mit den tantrischen Sex-Skulpturen in Khajuraho. Selbst das Elend ist anderswo, es krallt sich an Mumbai, Delhi und Kalkutta fest. Touristische Infrastruktur? No, Madam. Fünf-Sterne-Hotels, Traveller-Guesthouses, klimatisierte Shuttlebusse und Restaurants mit Burger auf der Speisekarte sind die Ausnahme.

Die Ausnahme ist auch der Tourist selbst. Nicht ein Mal sieht man einen Guide ein Fähnchen hochhalten und eine Horde fotografierender Bauchbeutelträger hinterhertrampeln. Es gibt keinen Grund, ins nördliche Kerala zu fahren, außer eben diesem einen, schönsten: dass es keinen gibt.

Nichts lenkt vom Nichtstun ab

Nichts ist ja anstrengender als ein Urlaubsland, in dem es von Must-Have-Seens nur so wimmelt. Wie soll man abschalten, wissend, dass um die Ecke ein Weltkulturdenkmal lauert, das man eigentlich nicht anschauen will, aber wohl gesehen haben sollte? Indische Familien, die es sich leisten können, trennen hier übrigens ganz fein. Besichtigungstrips unternehmen sie in viele Winkel ihres Riesenlandes, Urlaub aber machen sie bevorzugt an den Stränden und in den Ayurveda-Zentren von Kerala. Weil sie da beim Nichtstun von nichts abgelenkt werden. Von all den erstaunlichen Dingen, die man dort dennoch zu sehen bekommt, ist zu sagen, dass ihnen keine Hotelmeile, kein Souvenir-Shop, kein Kassenhäuschen, nicht mal ein Wegweiser vorausgeht. Mit großer Beiläufigkeit ergeben sie sich einfach so.

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Aufwändige Kostüme, ausdrucksstarke Masken: Kathakali heißt eine Tanzform, die zu den ältesten der Welt zählt und in Kerala besonders intensiv gepflegt wird. Sie ist mit religiösen Ritualen wie Teyyam verwandt, bei dem sich die Darsteller in einen Zustand der Besessenheit versetzen, um Schicksalsschläge von ihren Auftraggebern abzuwenden.

(Foto: REUTERS)

Man fährt zum Beispiel von Bekal aus ein bisschen über die Dörfer und trifft vor einem Tempelchen eine kleine Menschenmenge an. Drinnen steht händefuchtelnd eine grausig gelbe Gestalt mit Hörnern, Tigernüstern und schwarz umrandeten, wild rollenden Augen. Das ist der Teyyam. Ein Dämon, den es so nur hier gibt. Mithilfe von Trommeln, Tanz und fauchendem Gesang muss sich der Teyyam-Darsteller in einen Zustand der Besessenheit versetzen, um dann als Dämon Schicksalsschläge abzuwenden. Eine Familie aus dem Dorf ist an diesem Tag sein Auftraggeber. Vater, Mutter und vier Kinder, sie drücken sich verlegen an die Wand und blicken bang. Eine volle Stunde lang dauert das Ritual. Es umfasst: das Verteilen von Reiskörnern; Schwertkampf und Schellengerassel; eine mit Pfeil und Bogen beschossene Kokosnuss; ein Fisch- und ein Alkoholopfer an den winselnd herbeikriechenden Dorfhund; und zu guter Letzt die Lossprechung der Familie. Alles stiebt glücklich auseinander.

Diese Gegend kennt keine Eile

Der Teyyam aber kommt wenig später in den Kleinbus gestiegen, er will ein wenig schwätzen. Schmuck, Kostüm und Kopfputz hat er abgelegt, die gelbe Farbe rinnt in Sturzbächen über seinen Kugelbauch. Er lächelt und leckt sich schmatzend die Lippen: "Habt ihr unseren Toddy schon gekostet, wie fandet ihr ihn?" Toddy ist gegorener Palmsaft, der im Tempel-Hinterstübchen ausgeschenkt wird. Und die Frage beantwortet man dann lieber doch nicht wahrheitsgemäß.

Weiter geht die Fahrt auf dem National Highway 17. "National Highway" ist grob übertrieben, auf dem zweispurigen Sträßchen zuckelt die größtmögliche Masse von Fahrzeugen in der kleinstmöglichen Geschwindigkeit dahin. Dies ist eine Gegend, die keine Eile kennt. Hinterm Fensterglas zieht die Landschaft mit heiterer Gleichförmigkeit vorbei. Spielzeugbunte Häuschen und Buden und Schulen und Tempel in Endlosschleife, so beliebig im Palmenwald verstreut, als seien sie aus einem Knobelbecher auf die rote Erde gekullert.

Orgien an Fruchtbarkeit

Kerala Indien Asien Tempel Kokospalmen

Besichtigungstrips unternehmen Inder in alle Winkel ihres großen Landes. Doch zum Ausspannen fahren sie nach Kerala.

(Foto: SZ-Karte)

Die Menschen leben einfach, aber nicht in großer Armut. Kerala hat eines der besten Bildungs- und Gesundheitssysteme des Landes und zwei unerschöpfliche Arbeitgeber: das Meer auf 590 Kilometern Küstenlänge und mehr als 30 000 Quadratkilometer Wald, in dem wirklich alles wächst, was man nicht mit Gewalt daran hindert. Unübertrieben: Orgien an Fruchtbarkeit.

"Hier haben wir zum Beispiel Sandelholz", sagt Ajit Rathnakaran und deutet auf ein unscheinbares Pflänzchen, das ihm gerade bis zur Hüfte reicht. "Es ist sehr kostbar. Erst letzte Nacht waren wieder Leute da und haben ein paar Pflanzen abgehauen." Er zeigt ein entschuldigendes Lächeln. "Das hier ist die Cashewfrucht." Sie ähnelt einer kleinen gelben Paprika. Auf den 30 Hektar Wald, die Ajit mit seiner Familie bewirtschaftet, wachsen außerdem noch: Bananen, Betelnüsse, Jackfrüchte, Lorbeer, Gewürznelken, Chili, Pfeffer, Currybaum, Koriander und Baumwolle, und das ist längst nicht alles. Der 39-Jährige aber ist nur noch im Nebenberuf Landwirt. Tagsüber arbeitet er in Kasargod in einem Computershop. "Ich möchte meinen Kindern etwas bieten", sagt er.

Wer leben will, wird Bauer. Wer besser leben will, wird Städter. Und wer reich werden will, geht nach Mumbai. Die sorbetfarbenen Villen mit ihren weitläufigen Veranden und protzigen Auffahrten, die seit einiger Zeit entlang der Highways auftauchen, sind das Ergebnis. Das Geld dafür wurde Flugstunden entfernt verdient, doch vorführen und genießen will man es dann doch lieber hier.

Arche Noah im Kokoswald

Die letzte Station ist Kalikut. Eine 500 000-Einwohner-Stadt, von der selbst der lokale Reiseführer in gelangweiltem Tonfall sagt, es gebe nicht allzu viel zu sehen. Es gibt aber doch etwas. Das Werksgelände der Bichu Company ist von der Straße aus nicht zu erkennen. Allein das Wort Werksgelände ist ein Euphemismus. Es handelt sich um einen Abschnitt des unvermeidlichen Kokoswaldes, in den ein Trampelpfad hineinführt. Ein paar Schritte ins Zwielicht, und allmählich schälen sich vier riesige, dunkle Silhouetten heraus.

Der Bau traditioneller Holzsegelschiffe ist seit Jahrhunderten eine keralesische Spezialität. Und was man hier sieht, aufgebockt unter Palmen, ist vier Mal die Arche Noah in unterschiedlichen Stadien der Vollendung. Bis zu 20 Meter sind die Schiffe lang, bis zu sechs Meter hoch. Konstruiert mit archaischen Mitteln. Hunderte Teakholzplanken, die je zwei Arbeiter erst mit der Handsäge aus dem Stamm schneiden und dann schnaufend durch die Schleifmaschine drücken. Tausende Nägel, die von grob verschnürten Holzgerüsten aus in den Rumpf getrieben werden. Eineinhalb Jahre dauert es, bis allein ein Rohbau fertig ist. Was das kostet? "Eine solche Summe kann ich mir nicht vorstellen", gesteht Abdul Naziv, der Projektmanager.

Dem Auftraggeber dürfte der Preis kaum den Schlaf rauben. Es ist der Emir von Katar. Zur Fußball-WM 2022 sollen die vier Prachtstücke für jedermann sichtbar vor der Küste im Persischen Golf kreuzen. Dann, sagt Herr Naziv, werde er wohl in Kalikut vor dem Fernseher sitzen und ein bisschen stolz sein. Wenn auch nur auf die äußere Hülle. Die goldenen Wasserhähne und damastenen Sitzlandschaften hat der Emir dann doch lieber in Dubai bestellt.

Informationen:

Reisearrangement: Der Veranstalter Comtour bietet eine neuntägige Kerala-Reise an. Flug ab/bis München mit Emirates über Dubai pro Person im DZ mit Frühstück ab 2753 Euro, inkl. Transfers, englisch sprechender Reiseleitung, Stadtrundfahrten und Ausflüge. Übernachtungen im Taj West End in Bangalore, im The Gateway Hotel Beach Road in Calicut und in einer Villa des Vivanta by Taj in Bekal. Tagesaktuelle Preise und Informationen zu allen Hotels unter www.tajhotels.com, Reservierungen unter der kostenfreien Telefonnummer 00800/45881825. Comtour, Corneliusstr. 2, 45219 Essen, Tel.: 02054/95470, www.comtour.de Weitere Auskünfte: India Tourism Frankfurt, Regional Office for Europe, CIS and Israel, Baseler Str. 48, 60329 Frankfurt, Tel.: 069/2429490, www.india-tourism.de

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