Unangenehme Reisebegleiter:Ein Typ von Welt

Reisende sind selten allein und egal, wohin die Reise geht - einer ist immer schon da: Phil. Er ist ein unkomplizierter Kosmopolit, extrem unsüß und ein Sprinter im ungefähren Umriss einer prallen Dattel.

Jochen Temsch

Es war nicht gerade vorbestimmt, dass es eines Tages tatsächlich zu einem Zusammentreffen mit Phil kommen würde. In der Kindheit in der schwäbischen Provinz gab es zu viele auf Ordnung und Sauberkeit bedachte Menschen. Einen schmuddeligen Typen wie ihn duldeten sie nicht. Die Bewohner des Mietshauses sorgten stockwerkweise für blankgewienerte Stufen im Treppenhaus. Wer an der Reihe war, bekam von seinem Vorgänger ein Schild mit der Aufschrift "Kehrwoche" an die Wohnungstür gehängt.

Kakerlake

Der kleine Reisebegleiter ist faszinierend anpassungsfähig und er ist überall: im heruntergekommenen Grandhotel, in Ventilatoren und im eigenen Rucksack.

(Foto: dpa/dpaweb)

Besuchte man einen Freund zum Spielen, musste man auf dem Fußabstreifer die Schuhe ausziehen. Verirrte Stubenfliegen wurden mit einer zusammengerollten Zeitung gejagt. Wo immer die Mütter den Boden mit Staubsauger und Schrubber berührten, musste man hinterher theoretisch von ihm essen können - was selbst Stellen des Badezimmers mit einschloss, wo niemals die Sonne hinschien. Nein, Phil wohnte ganz bestimmt nicht hier.

Phil ist im tiefsten Inneren seines aus bis zu 17 Teilen bestehenden Schlauchherzens kein penibler Schwabe, er ist ein unkomplizierter Kosmopolit.

Am besten gefällt es ihm in exotischen Ländern, in denen es so heiß und schwül ist, dass die Leute langsam und gelassen durchs Leben gehen. Länder, in denen die Müllabfuhr gerne mal zwei Wochen lang streikt. Wo Fenster und Türen andauernd offen stehen. Wo es zu anstrengend ist, sich nach jedem Krümel am Boden zu bücken. Das sind Länder, in denen zwölf verschiedene Begriffe für Oliven in ihren sämtlichen Reifegraden existieren, aber kein einziger für "Kehrwoche". Zum Beispiel Marokko.

Es war noch zu Schulzeiten, die erste große Reise mit dem Rucksack, und die damalige Freundin fand alle Lebewesen extrem unsüß, die mehr als vier Beine hatten und keine Junikäfer waren. Einmal krabbelte eine Spinne über das Take-That-Poster in ihrem Zimmer, so klein, dass man sie mit bloßem Auge kaum erkennen konnte. Schreiend sprang die Freundin auf ihr Bett und kam erst wieder herunter, als die Bestie sich zwangsweise aus dem Fenster abgeseilt hatte.

Schlaflose Nacht in Casablanca

Um ähnliche Aufregungen zu vermeiden, hatten wir für die erste Nacht in Casablanca eine Unterkunft herausgesucht, in der man ein Doppelzimmer mit ziemlicher Sicherheit tatsächlich nur zu zweit bewohnen würde: ein ehemaliges, nun heruntergekommenes Grandhotel, über das es im Reiseführer reichlich untertrieben hieß, es verströme den angestaubten Charme vergangener französischer Kolonialpracht. Das Bett war mit einem pompös verschnörkelten Holzrahmen verziert, der zugezogene Vorhang war aus schwerem blauen Samt gefertigt, und die bräunlich schwarzen Flusen am Boden konnte man in dem spärlichen Licht auf den ersten Blick unmöglich als Chitinpanzer identifizieren.

Am Abend im Hotelrestaurant sah ich Phil zum ersten Mal in meinem Leben. Er erschien kurz an der Wand hinter der linken Schulter meiner Freundin, schwarz und mit den ungefähren Umrissen einer prallen Dattel. Ich war verblüfft, hatte ihn mir völlig anders vorgestellt, irgendwie - viel kleiner.

Rasselnde Geräusche

Meine Freundin erschrak bei meinem Anblick. Ich sagte, es sei nichts. Phil war so schnell verschwunden, wie er erschienen war. Vielleicht hatte ich ihn mir ja nur eingebildet, übernächtigt von der Anreise. Das Licht im Restaurant war sowieso so schummrig, dass man kaum erkennen konnte, was auf dem Teller lag.

Worker carries a sack of rice at a market in Jakarta

Am besten gefällt es Phil in heißen und schwülen Ländern, in denen die Leute langsam und gelassen durchs Leben gehen.

(Foto: REUTERS)

Dunkelheit hat für schreckhafte Schwäbinnen den Vorteil, dass sie Phil nicht gleich sehen. Für Phil ist Dunkelheit die Voraussetzung, sich überhaupt herauszutrauen. Kaum hatten wir uns schlafen gelegt und das Licht ausgemacht, erwachte der Raum zum Leben. Auf einmal waren schabende, kratzende und rasselnde Geräusche um uns herum zu hören. Wir redeten uns ein, dass ein altes Haus eben manchmal seltsame Töne von sich gibt. Als auch noch der Holzrahmen über unseren Köpfen knirschte, wurden wir nervös. Phil plumpste mir voll ins Gesicht.

Er erschrak mindestens so sehr wie ich. Kaum war die Nachttischlampe an, flüchtete er in Lichtgeschwindigkeit. Er schafft bis zu 1,5 Meter pro Sekunde - gemessen an seiner Körpergröße übertrifft das locker die Sprint-Rekorde von Usain Bolt. Die Schreie meiner Freundin gaben ihm zusätzlich Rückenwind. Und er war nicht allein. Die schwarzen Wände bewegten sich, nur ein paar Sekunden lang, dann waren sie wieder starr und weiß.

Einen Tinnitus, eine schlaflose Nacht mit allen Lichtern an und eine Rundreise nach Marrakesch später kamen wir zurück nach Casablanca. Wir stiegen in einem relativ neu erbauten Hotel am Flughafen ab. Hier wollten wir für den Rückflug packen. Vorher suchten wir am Boden nach bräunlichen Flusen. Tagelang waren wir nervös gewesen, hatten Phil aber nicht mehr gesehen.

Kein Wunder. Er hatte es sich in den tiefsten Schichten des Rucksacks meiner Freundin bequem gemacht, unter ihren gebrauchten T-Shirts und Socken. Jetzt flitzte er heraus und hechtete ins Bad, so schnell, dass meine Freundin erst schreien konnte, als er sich schon versteckt hatte. Drei Dinge waren sofort klar: Wir hatten Phil aus Versehen durch halb Marokko geschleppt; die Dusche fiel an diesem Abend aus; nach Hause würden wir nur mit Handgepäck reisen.

Es standen grundsätzliche Entscheidungen an. Vor jeder neuen Reise fragte die Freundin: "Gibt es da Tiere?" Und meinte damit: "Wenn in diesem Land Insekten leben, kannst du alleine fliegen." Und darauf lief es schließlich hinaus: entweder hierbleiben, bis zum Ende aller Tage Kehrwoche machen und vom Boden essen können oder die Welt erkunden - auch auf die Gefahr hin, immer wieder mal Phil zu begegnen.

Denn egal, wohin die Reise auch gehen würde, Phil wäre mit Sicherheit schon da. Außer an Nord- und Südpol, denn dort, und nur dort, ist es ihm zu ungemütlich. Ich entschied mich ganz klar fürs Reisen.

Schreie und Sprays

Ferien-Bungalows in Französisch-Polynesien

Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder zu Hause bleiben oder die Welt erkunden - auch auf die Gefahr hin, immer wieder einmal Phil zu begegnen.

(Foto: AP)

Phil war tatsächlich überall. In Griechenland schleuderte es ihn beim Einschalten der Kühlung aus den Ventilatorblättern. In Australien lag er auf dem Rücken in der leeren Badewanne und schlief fest, bis ihn der Wasserstrahl weckte, der ihn in den Abfluss befördern sollte. In Texas spielten die Katzen mit ihm, als wäre er eine Maus, wenn er mal wieder unter der Türschwelle hindurch in die Häuser gekrabbelt kam.

Auch in Deutschland gab es ein Wiedersehen. In einer äußerst gepflegten Herberge sogar. Dort musste ich feststellen, dass Phil Minibars liebt - aber nur ihre Rückseite, wo feuchte, warme Abluft ausströmt. In den Hütten Vietnams knabberte er an Chipsresten und knisterte mit den Tüten. Im thailändischen Boutique-Resort standen wegen ihm überall Spraydosen herum. Damit konnte man Phil bequem vom Deckchair aus einschäumen, bis er ganz müde wurde. Doch er arbeitete sich immer wieder unter den gelblichen, knisternden Shampoo-Häubchen heraus.

Phil ist faszinierend anpassungsfähig. Außer Giftsprays kann er einen Atomkrieg überleben. Zum Essen reicht ihm zur Not sechs Monate lang das, was er zwischen den Borsten einer Zahnbürste findet.

Auf Tahiti lebte Phil in der Dusche eines Campingplatzes. Die Hohlräume hinter den Sprüngen in den Fliesen teilte er sich mit anderen Wesen, von denen man nur hin und wieder haarige Beine hervorlugen sah. Man konnte sich nie ganz sicher sein, von welcher Seite einen diese Beine womöglich anspringen würden. Deshalb drehte man sich beim Duschen am besten ständig um die eigene Achse. Über diese Strategie waren sich alle Campingplatzgäste einig, die abends beim Bier zusammensaßen.

Ein Traveller aus den USA hatte noch eine bessere Idee: den Wesen Namen geben - Schaben hießen bei ihm Phil. Denn alles, was einen Namen hat, hat auch eine Seele und ist kein ekliges Monster mehr. Das hat nun besser funktioniert als alle Schreie und Sprays zusammen.

Nach all den Jahren mit Phil kann ich nicht sagen, dass wir Freunde geworden wären. Aber er schockt mich auch nicht mehr. Nach Hause möchte ich ihn trotzdem nicht einladen. Seit Marokko habe ich in einem Hotelzimmer nie wieder einen Koffer offen stehenlassen.

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