Tschernobyl:Ausflug ins GAU-Gebiet

Zwanzig Jahre nach der Katastrophe bieten Reiseunternehmer Touren für Touristen zum Reaktorblock an - und zu den Menschen, die noch immer in der verseuchten Zone leben.

Gerhard Waldherr

Draußen, hinter dem Eingangstor, steht die bleigraue Büste des Genossen Wladimir Iljitsch Lenin. Streng blickt er in die Ferne, unerschütterlich im Dienste der Revolution. Lastwagen fahren vorbei.

Arbeiter marschieren zur Kantine. Hinter ihnen ragt ein dunkler, klobiger Kasten in den mausgrauen Himmel. Mit seinen Stützpfeilern, die ihn wie ein Gerippe umfassen, sieht er aus wie ein monströses, seltsames Tier.

Drinnen im Besucherzentrum hängen bunte Plakate an der Wand, darüber kleine Flaggen aus aller Herren Länder. Auch hier thront der Kasten. Diesmal als Modell aus Holz, Gips und Kunststoff.

Man kann es aufklappen wie einen Schrank, und dann blickt man auf deformiertes Material, gebrochene Pfeiler, geborstene Wände und Decken, Schutt und Wirrwarr, in dem sich kleine gekrümmte Figuren verlieren. Der zerborstene Reaktor sieht aus wie eine zerfledderte Bürste.

Julia Marusitsch beginnt ihren Vortrag. Ihr Haar ist rötlich getönt, sie trägt einen dezenten Blazer und spricht mit energischer, monotoner Stimme. Immer, wenn ihr ein Detail wichtig erscheint, wiederholt sie es und hebt dabei den rechten Zeigefinger. So erfährt man noch mal, was passiert ist am 26.April 1986, 1.23 Uhr:

Turbinenstillstand.

Der Kühlwasserzufluss eingeschränkt.

Hitzestau.

Kühlwasserrohre bersten.

Wasserdampf reagiert mit dem Graphitmoderator.

Eine Explosion zerstört die 1000 Tonnen schwere Abdeckung des Reaktors.

Kettenreaktion.

Kernschmelze.

GAU.

Fazit Marusitsch: "Ein Kernkraftwerk ist eine gefährliche Sache."

So lapidar klingt das mitunter bei Julia Marusitsch, dass man glauben könnte, es ginge um ein misslungenes Kochrezept. Sie hält täglich mehrere Vorträge im Besucherzentrum des Tschernobylskaja Atomnaja Elektrostanziya. Was sie dabei verschweigt, sind die 50 mal 10 hoch 6Ci Radionuklide, die in die Atmosphäre geschleudert wurden, als der Deckel des Reaktors wegflog.

Das entspricht 500 Mal der Radioaktivität, die die Bombe auf Hiroshima freisetzte. Für die Aufräumarbeiten wurden 800.000 Menschen eingesetzt. 207 Tage wurde am Sarkophag gebaut, in dem noch 20 Tonnen Brennstoff vor sich hin brüten.

Es beginnt an einem nassen, kalten Tag im März in Kiew. Treffpunkt ist McDonald's am Maidan.

Um neun Uhr fährt ein weißer Kleinbus vor. Sergej Ivantschuk steigt aus und begrüßt einen Studenten aus Melbourne, einen Rechtsanwalt aus Aachen mit Unternehmensberatung im Kölner Raum, dessen ukrainische Freundin und zwei Journalisten aus Berlin.

"Guten Morgen zusammen", sagt Ivantschuk, "dann fahren wir also mal nach Tschernobyl." Vor sechs Jahren dachte der Reiseunternehmer: "Wenn Techniker und Wissenschaftler dorthin dürfen, warum nicht auch Touristen? Ich dachte, das wäre eine coole Idee."

Die ukrainische Atombehörde ließ sich überzeugen und stellt seither Fahrer und Begleiter. Inzwischen bieten schon drei Reiseunternehmen in Kiew den Trip an.

Der Kleinbus fährt los, 135 Kilometer Richtung Norden, vorbei an sozialistischen Prachtbauten und am Wahrzeichen der Stadt, einer gewaltigen Stahlskulptur, die die Mutter der Ukraine verkörpert. Schließlich durch schier endlose Trabantensiedlungen.

Nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken, nicht spüren

Doch bald werden die Orte kleiner, die Häuser niedriger, neben der Straße sieht man Kiefernwälder, Heide und Moorlandschaft. Maksim Grigin, der Begleiter der Atombehörde, der bislang geschwiegen hat, spricht von Pilzen und Beeren, die man in der Gegend finde, es gebe auch Wildschweine.

Der Rechtsanwalt schaltet sein Dosimeter ein, Modell Gammascout, geformt wie eine eckige 8, dottergelb. An der Fachhochschule Mannheim hat er es testen lassen. Das Ergebnis: maximale Abweichung fünf Prozent.

Schnurgerade ist die Straße, verlassen und öde das Land. Bis eine Schranke auftaucht, dazu mehrere Gebäude. 30 Kilometer vor dem Kernkraftwerk beginnt die Sperrzone. Auf einer Landkarte neben der Schranke ist das eingezeichnet mit Hinweisen auf unterschiedlich hohe radioaktive Strahlung im Gebiet. Der Rechtsanwalt fragt, wie gemessen wurde.

Millirem? Mikrosievert? Grigin sagt: "Diese Werte stimmen nicht mehr." Wir fahren weiter bis zur zweiten Schranke, zehn Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt. Grigin deutet auf verlassene Häuser.

Ausflug ins GAU-Gebiet

"Das war der Ort Tscherevatsch, dort lebt niemand mehr." Das große Gehöft mit Ställen? "War mal eine Schweinefarm." Grigin erzählt von 160 Hektar Wald, die hier gerodet werden mussten: "Alles verkohlt."

Tschernobyl: Verlassener Vergnügungspark in Pripyat.

Verlassener Vergnügungspark in Pripyat.

(Foto: Foto: dpa)

Ivantschuk hatte gesagt, die Strahlung, der man auf dem Trip ausgesetzt sei, entspreche der bei einer Röntgenuntersuchung. Man kann Radioaktivität nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken, nicht spüren. Grigins Dosimeter zeigt kaum erhöhte Strahlung an.

Das des Rechtsanwaltes piepst penetrant. Beide spekulieren über Isotope. Plutonium-239. Strontium-90. Caesium-137. Jod-131. Halbwertzeiten zwischen 24.360 Jahren und acht Tagen.

Sie sprechen von Ionendosis, Energiedosis, Äquivalentdosis, Aktivität.

Der Rechtsanwalt sagt: "Wenn ich richtig rechne, hätten wir hier nach drei Wochen die für den Menschen gesundheitsschädliche Jahresdosis erreicht."

So geht das eine Weile, während der Fahrer der Atombehörde zu singen anfängt. Und dann tauchen sie auf.

Erst die Baustellen der Reaktorblöcke 5 und 6, die nicht fertig wurden. Dahinter die Reaktorblöcke 1 bis 4, die einmal der Stolz der Ukraine waren, Demonstration der technischen und wissenschaftlichen Potenz des Sowjetimperiums.

Hochspannungsleitungen und Umspannwerke verkabeln nun nutzlos die platte Landschaft. Im Dezember 2000 wurde der letzte Reaktor vom Netz genommen. Trotzdem arbeiten auf der Anlage noch 3500 Menschen.

Sie sind mit Instandhaltung beschäftigt, vor allem aber mit den Vorbereitungen für den Bau einer halbrunden, 150 Meter hohen Betonröhre, die über den Sarkophag geschoben werden soll. Eine Milliarde Dollar soll sie kosten. Der Sarkophag hat Risse und Löcher und droht einzustürzen.

Während man am Eingangstor steht, während die Gruppe Erinnerungsfotos macht, denkt man an den Fahrer, der kurz zuvor im wenige Kilometer entfernten Ort Tschernobyl sagte: "Jetzt sind wir in der Zone, Gott steh' uns bei."

Ausflug ins GAU-Gebiet

Man denkt an das Buch "Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft" von Swetlana Alexijewitsch. Die Weißrussin hat mit Augenzeugenberichten die Katastrophe dokumentiert und die Touristentouren nach Tschernobyl eher höhnisch kommentiert: "Die Menschen gieren nach immer neuen starken Eindrücken. Das Leben wird langweilig. Aber man möchte doch etwas Ewiges... Besuchen Sie das atomare Mekka."

Ivantschuk sagt auf die Frage, warum jährlich 200 Touristen seine Tour buchen: "Wir alle sind fasziniert von Katastrophen. Ob Erdbeben, Tsunami, Hurrikane oder nur ein Unfall auf der Straße - man dreht instinktiv den Kopf."

Im drei Kilometer entfernten Pripjat erklärt Grigin, wo nach dem GAU die höchste Strahlung gemessen wurde.

Zum Beispiel neben den Apartmenthäusern. An einem steht die Parole: "Die Partei Lenins führt uns dem Kunstwerk des Kommunismus entgegen." In Pripjat lebten einmal 45.000 Menschen; es galt als Modellstadt, jede Schule hatte ein Schwimmbad.

Jetzt sind die Parks verwildert, Gebäude zerbröckeln. An den Laternenpfählen ist immer noch die verrostete Dekoration für die Parade zum 1. Mai 1986 zu sehen. Sie fand nie statt.

In der Mittelschule Nummer 3 blättert der Putz von den Wänden. Zerbrochene Fenster. Verrottetes Mobiliar.

Die Tiere erschossen

Eine Wohnung dürfen wir nicht betreten. Dort sollen noch die Kochtöpfe auf dem Herd, verdörrte Zimmerpflanzen in der Ecke stehen. Alles ist so, wie sie es bei der Evakuierung zurückgelassen haben.

Für Ivantschuk ist nicht der Anblick des Sarkophags das erschütternde Erlebnis dieser Tour. "Mich berühren die Schicksale der Menschen, die hier lebten." Insgesamt 216.000 Menschen wurden umgesiedelt, 944 Orte und Dörfer evakuiert und 13,2 Millionen Kubikmeter Erdreich abgetragen. Unzählige Nutz- und Haustiere hat man erschossen.

"Es war eine unfassbare Tragödie", sagt Ivantschuk, während der Kleinbus an schiefen Holzhäusern vorbei zum Dorf Parischew fährt. "Ihr Haus, ihre Tiere waren doch das Einzige, was diese Leute besaßen."

Die meisten, schreibt Alexijewitsch, verstanden nicht, was mit ihnen geschah. "Was war passiert? Man fand keine Worte für die neuen Gefühle und keine Gefühle für die neuen Worte.

Fakten alleine genügten nicht mehr; man wollte hinter die Fakten schauen, den Sinn des Geschehenen erfassen."

Den Sinn des Geschehenen erfassen? Das gelingt auch in Parischew nicht. Hier leben ein paar wenige von insgesamt mehreren Hundert Menschen, die in die Sperrzone zurückgekehrt sind.

Maria Schilan hat schon gewartet. Wenn Touristen sich in ihre kleine Hütte zwängen, kommt Abwechslung in ihren eintönigen Alltag. Lebensmittel bringen sie auch mit; das gehört zum guten Ton bei einem Besuch.

Maria Schilan ist 76. Eine kleine, runde, kernige Frau mit einem zerfurchten Gesicht. Sie sei robust, sagt sie, ihr könne selbst Radioaktivität nichts anhaben. "Nach dem Unfall sind mir die Zähne ausgefallen, aber sonst bin ich kerngesund."

Sie lebt in zwei kleinen Zimmern, die bis unter die Decke vollgestopft sind mit Kissen, Decken, Plunder. Ihre monatliche Rente beträgt umgerechnet 77 Euro.

Grigin drängt zum Aufbruch. In Tschernobyl, im Büro der Atombehörde, warte die Köchin bereits mit dem Essen. Zum Abschied lässt sich Frau Schilan fotografieren.

"Gar nicht so schrecklich"

Einmal mit den Bildern ihrer beiden Söhne, die bei den Aufräumarbeiten am Reaktor 4 eingesetzt wurden und im Alter von 46 und 51 Jahren an Krebs starben. Einmal im Garten mit ihrer Katze im Hintergrund. Dabei lacht sie.

Wohl deshalb schwärmt der australische Student: "Diese Frau hat so viel durchgemacht, so viel Leid erlebt. Dass sie trotzdem optimistisch und nicht verbittert ist, finde ich inspirierend."

Die Tour sei ein voller Erfolg. "Man hat immer Klischees oder ein Image im Kopf bei manchen Orten, die Wirklichkeit sieht anders aus. Es war nicht so schrecklich, wie ich erwartet hatte."

Als wir die Sperrzone verlassen, müssen alle durch einen Detektor. Bei unserem australischen Freund leuchtet die rote Lampe am Gerät. Ein Soldat macht eine gleichgültige Handbewegung, und sagt unwirsch: "Nicht stehen bleiben, der Nächste!"

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