Touristen in Tibet:"Man kommt als ein anderer zurück"

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Lernen, was wichtig ist im Leben: Wanderführer Christoph Thoma über die Faszination Tibets auf Touristen und mögliche Gefahren auf einer Reise.

Interview: Jochen Temsch

Es gibt viele unterdrückte Völker, aber das Schicksal der Tibeter beschäftigt die internationale Öffentlichkeit besonders stark. Christoph Thoma weiß, warum. Der 53-jährige Bergwanderführer aus Landshut hat Tibet mehrmals besucht. Beim DAV Summit-Club, dem Reiseunternehmen des Deutschen Alpenvereins, organisiert und leitet er Kulturreisen und Trekkingtouren, unter anderem von Lhasa zum Everest-Basislager. Im buddhistischen Wasser-Pferd-Jahr 2002 nahm Thoma eine Auszeit und umrundete den heiligen Berg Kailash.

"Die Bergsteiger mit ihren Funktionsklamotten, die Tibeter mit Gummilatschen": Christoph Thoma (Foto: Foto: oh)

SZ: Wie geht es Ihnen, wenn Sie die Nachrichten aus Tibet lesen?

Christoph Thoma: Extrem schlecht. Nicht nur, weil uns als Reiseveranstalter das Geschäft wegbricht, nachdem China die Grenze zu Tibet geschlossen hat. Wir haben die Frühjahrssaison abgesagt, die Kunden nach Ladakh in Indien, Nepal und Bhutan umgeleitet. Erst, wenn das Auswärtige Amt keine Bedenken mehr hat, werden wir wieder Reisen nach Tibet organisieren. Und jetzt für mich persönlich gesprochen: Ich fühle mich hilflos - nach all dem, was ich Positives in Tibet erlebt habe. Die Toleranz, die Heiterkeit und die Frömmigkeit der Buddhisten beeindruckt jeden. Nicht nur mich als religiösen Menschen.

SZ: Warum ist Tibet eine so spirituelle Erfahrung?

Thoma: Zum einen liegt das am Trekking. Plötzlich hat man nichts anderes zu tun, als von A nach B zu gehen, die Landschaft zu genießen. Man hat Zeit, sich Gedanken zu machen.

SZ: Die hat man auch im Harz.

Thoma: Aber nicht so wie im Himalaya, wo durch die dünne, klare Luft die Wolken extrem tief treiben, wo man die Achttausender-Kette blitzen sieht, wo man diese gewaltige Hochebene durchquert...Ich bin kein Esoteriker, aber davon überzeugt, dass es bestimmte Kraftorte gibt, die nicht zufällig, sondern aus Jahrtausende alter Erfahrung heraus zu Wallfahrtszielen geworden sind. An diesen Orten wird etwas Besonderes vermittelt. Wer seine Antennen ausfahren kann, spürt das. Man kommt aus Tibet grundsätzlich als ein anderer Mensch zurück. Man ruht in sich und weiß wieder, was wichtig ist im Leben.

SZ: Sie klingen ganz schön begeistert.

Thoma: Ich war dabei, als ein Lastwagen, vollgepfercht mit drei Dutzend Pilgern, auf der Anhöhe hielt, von der aus man den heiligen Berg Kailash zum ersten Mal am Horizont entdecken kann. Diese strahlenden Gesichter! Wie die Leute jubelten, sich in den Armen lagen - das sind Gefühle, die wir Europäer verlernt haben.

SZ: Kann man sie von den Tibetern neu lernen?

Thoma: Man lässt sich zumindest anregen von ihrer Grundfröhlichkeit und Friedfertigkeit. Die Leute leben in einem wüstenhaft harten Klima und haben nur ganz wenige Dinge. Aber sie freuen sich über jeden Kontakt. Sie werden dich immer mit einem strahlenden Lächeln begrüßen, immer ein bisschen Käse und Brot mit dir teilen. Es ist fast nicht vorstellbar, was man ihnen antun muss, um sie dazu zu bringen, sich zu wehren. Ich glaube, den Chinesen macht diese Haltung Angst. Sie begreifen nicht, wie jemand, der so ein vermeintlich erbärmliches Leben führt, beim Anblick eines Berges höchste Glückseligkeit empfindet.

SZ: Verklären Sie Tibet ein bisschen?

Thoma: Nein. Jede Reise nach Tibet ist auch ein Stück weit eine Tragödie. Noch vor zehn Jahren war das Erlebnis viel stärker. Das kleinteilige alte Lhasa wurde von Bulldozern zerstört. Auf der äußeren Umrundung des Heiligtums Dschokhang müssen die Tibeter ihre Niederwerfungen auf einer Stadtautobahn machen.

SZ: Können Touristen darüber mit den Leuten sprechen?

Thoma: Kontakte mit der Bevölkerung scheitern an der Sprache. Aber es ist auch nicht leicht, mit unseren tibetischen Fahrern zu reden. Meist sind chinesische Begleiter bei der Reisegruppe, die uns genau beobachten. Wir müssen alles vermeiden, was unsere einheimischen Helfer möglicherweise in Gefahr bringt. Es ist ein Wechselbad der Gefühle.

SZ: Was haben die Tibeter überhaupt vom Tourismus?

Thoma: Das ist sehr schwierig zu sagen. Die Klöster müssen fast alles, was sie an Spenden einnehmen, an die Chinesen abführen. Die Mönche werden überhaupt nur geduldet, weil die Chinesen gemerkt haben, dass die Touristen ausbleiben, wenn die Klöster leer sind.

SZ: Warum sollte man dennoch nach Tibet reisen?

Thoma: Allein die Tatsache, dass sich Menschen begegnen, weicht die Fronten auf. Die Bergsteiger mit ihren Funktionsklamotten, die Tibeter mit Gummilatschen: Da prallen Welten aufeinander - aber im Glück, eine Wanderung geschafft zu haben. Man umarmt sich herzlich. Allein schon dadurch erhöht sich der Druck auf die Machthaber.

SZ: Und wenn nicht? Kann die tibetische Kultur ganz zerstört werden? Thoma: Ja. Schon in den vergangenen 50 Jahren ist so viel Negatives passiert. Wenn es so weitergeht, ist vom alten Tibet bald nichts mehr übrig.

SZ: Würden Sie dann immer noch eine spirituelle Erfahrung in Tibet suchen?

Thoma: Die beeindruckende Landschaft bleibt. Aber wenn kein Kloster mehr da ist, kein Mönch, kein Tibeter in Volkstracht, nur noch blau gewandete Radfahrer, würde es mir keine Freude mehr machen. Dann würde ich mich sehr, sehr glücklich schätzen, dass ich Tibet noch zu einer anderen Zeit erlebt habe.

© SZ vom 28.03.2008/sonn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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