Tour in die Slums von Rio:Armut mit schönen Aussichten

In der größten der für Kriminalität und Elend berüchtigten Favelas von Rio de Janeiro gibt es nun Touristen-Führungen. Dabei sollte man besser einige Regeln befolgen.

Peter Burghardt

Der Ausflug in Brasiliens Hölle beginnt im Paradies, das ist Teil dieser Veranstaltung. Seine ersten Passagiere holt der weiße Kleinbus des Unternehmens Favela Tour im Stadtteil Leme von Rio de Janeiro ab, dann geht es vorbei an der Copacabana, dem berühmtesten Strand der Welt.

Der Atlantik leuchtet türkis unter der sanften Sonne, es weht eine angenehme Brise - ein perfekter Tag im südamerikanischen Frühling. Nebenan in Ipanema und Leblon steigen weitere Teilnehmer zu, insgesamt sieben. Die Anfahrt führt vorbei am Botanischen Garten und Gavea, ebenfalls edle Wohngebiete.

Links hinter einer bunt bemalten Mauer residiert der Sänger und Kulturminister Gilberto Gil, rechts erheben sich die Gebäude der American School. "Monatliche Schulgebühr 4000 Reais", 1500 Euro, sagt Reiseleiterin Christina Mendoza. "Der gesetzliche Mindestlohn beträgt 380 Reais", 140 Euro.

Der beste Blick allerdings folgt hinter einer Art Grenze, markiert durch ein parkendes Polizeiauto. "Welcome to Rocinha", verkündet Senhorita Mendoza, "das ist eine andere Welt." Rocinha heißt der bedeutendste der 752 Slums, in denen jeder fünfte der sechs Millionen Einwohner Rios lebt. Mit mehr als 100.000 Menschen ist es die größte Favela Brasiliens, sie gilt als wucherndes Geschwür, in dem das Verbrechen wächst.

Ein paar Serpentinen weiter oben zeigen sich die ersten der nackten, verschachtelten Ziegelhäuser, doch dazwischen öffnet sich erst mal ein spektakuläres Panorama. Drunten liegt Rios blaue Lagune.

Links thront der Christus vom Corcovado, rechts der Zuckerhut. Und in den Urwald gegenüber schmiegen sich Villen wie die von Schönheitschirurg Ivo Pitanguy. Sophia Loren und Liz Taylor ließen sich von ihm erneuern, er besitzt auch eine Insel.

Da lernt das Publikum gleich dazu, ganz im Sinne des Erfinders. Marcelo Armstrong hatte Favela Tour gegründet, um "Touristen einen tieferen Einblick in die brasilianische Gesellschaft zu bieten" (und damit Geld zu verdienen). Zuvor war ihm als Angestellter im Club Med in Senegal aufgefallen, dass viele Urlauber das Hotelgelände nicht verlassen, weil sie die Umgebung eher erschreckt als fasziniert.

Beim Lehrpfad durch Rios Buchten und Berge wirkt nun zumindest schnell die Topographie. Kaum irgendwo sind Schönheit und Verfall, Luxus und Armut, Vergnügen und Gewalt so enge und doch abgewandte Nachbarn wie in der Cidade Maravilosa, der Wunderbaren Stadt.

Die gefürchtete Rocinha wird flankiert von zwei der teuersten Quartiere. Zumindest die Aussicht, so sieht man, ist gut.

Solche Perspektiven kennen jenseits der Rocinha wenige Cariocas, Rios Einheimische. "Ihr seid Ausnahmen", sagt Christina Mendoza, 39, aufgewachsen im schicken Ipanema, "Brasilianer haben Angst oder kein Interesse." 150 Kunden hat Favela Tour jede Woche, vor allem junge Europäer oder Nordamerikaner.

Die meisten haben den Film über die Favela Cidade de Deus gesehen, die "Stadt Gottes" - sie wollen für 65 Reais, 24 Euro, drei Stunden lang möglichst gefahrlos erleben, wie es in solchen Gegenden aussieht. Die größte Ausnahme indes heißt Marcia, ist Brasilianerin und wohnt an der Lagune von Ipanema, auf die sie nun fasziniert hinabschaut.

Sie ist mit Anfang 30 das erste Mal in einer Favela, in ihrer direkten Umgebung, und das nur, weil ein Besucher aus Deutschland sie mitgenommen hat.

Was soll eine weiße Frau aus gutem Hause auch im Reich der schlechten Nachrichten. Meldungen aus den Hügeln handeln meist von Kokain und Schießereien. 6000 Menschen werden jedes Jahr in Rio ermordet, statistisch 50 von 100.000, mehr als in Kabul oder Gaza.

Die meisten Opfer sind jung, arm und dunkelhäutig, sie sterben bei Gefechten mit Gangs und der Polizei. Querschläger, Balas Perdidas, treffen regelmäßig Unbeteiligte. Geschätzt 17 Millionen Schusswaffen sind in Brasilien im Umlauf, ein Verbot des freien Waffenverkaufs wurde 2005 per Referendum abgelehnt. Und wer es noch nicht wissen sollte, dem erklärt Frau Mendoza: "Hier oben regieren die Druglords. Sie machen die Gesetze."

Im Falle der Rocinha führt eine Bande namens Amigos dos Amigos das Kommando, "Freunde der Freunde". Ihr Kürzel ADA steht auf Mauern und Wänden. Im April 2004 vertrieb das Drogenkartell in einer wochenlangen Schlacht seinen Todfeind Comando Vermelho, die Besuchstouren mussten ausfallen.

Inzwischen funktionieren die organisierten Schnellvisiten wieder, solange die neuen Kapos zustimmen und keine Invasion der Militärpolizei ansteht. "Wenn du viele Polizisten siehst, dann ist es Zeit abzuhauen", erläutert Christina Mendoza. Der Staat rückt gewöhnlich mit Hubschraubern und Panzerfahrzeugen an und feuert willkürlich in die Menge. Ehemalige Polizisten verdingen sich bei Milizen, die Rauschgiftmafia schießt mit modernsten Waffen zurück.

Kürzlich starben 19 Menschen bei der Belagerung des berüchtigten Complexo Alemao in der Nordzone. Es herrscht Krieg in Rio, aber das merken die Kurzzeitabenteurer nur ansatzweise.

Am ersten Fotostop verkaufen vormalige Dealer Selbstgemaltes. Einer spielt Gitarre und singt vom Girl from Ipanema. Aus einem alten Buggy steigt ein tätowierter Schweizer mit Zopf und bietet Gleitschirmflüge an. Er sei vor 20 Jahren hier hängengeblieben, ein Freund sei kürzlich gestorben, informiert er. "Manchmal ist es hart hier, viele Drogen."

Was das bedeutet, ahnen die Fremden allenfalls, der Schrecken verbirgt sich in Gassen, aus denen Müll quillt. Bloß ein bisschen fürchten dürfen sie sich, die Kurztrips ins Elend haben etwas vom Besuch eines Tierparks ohne Käfige.

"Entfernt euch nicht und macht keine Fotos, wo ihr nicht sollt", warnt Cristina Mendoza, es gebe "immer ein Restrisiko."

Die Reisegruppe durchquert das quirlige Geschäftszentrum. Bergauf liegt eine Seitenstraße, als Via Appia bekannt, ein Umschlagplatz für Rauschgift aller Art. Auch Kinder der Oberschicht sind hier Kunden. Aufpasser tragen Maschinengewehre. Die Drogenbarone beschäftigen Soldaten, Schatzmeister, Sozialarbeiter, Spione - halbwüchsige Späher ködern sie mit Wochenlöhnen von 100 Dollar.

"Hier wird kaum geklaut, es gibt wenig Einbrüche, weil sich keiner traut", sagt Christina Mendoza. Sie fühle sich in der Rocinha "sicherer als in Copacabana", wo Touristen ausgeplündert werden. Sie zeigt auf eine Bank, die als eine der wenigen Filialen von Rio nur einmal überfallen wurde - "von Polizisten, sie wurden vertrieben".

Es gibt in der Rocinha Geldautomaten, Internetcafés, Post, Radiostationen, Sanitätsposten, vier Buslinien, drei öffentliche Schulen, Motorradtaxis, Schnellrestaurants, Läden. Die Müllabfuhr kommt zweimal täglich. "Die meisten hier arbeiten ganz normal, das sind nicht alles Kriminelle", sagt Cristina Mendoza, als bedürfe das einer Erwähnung.

Mütter und Väter verdienen unten im Wohlstand als Portiers, Tellerwäscher, Zimmermädchen; Straßenkinder suchen nach Geld. Talente aus dem Labyrinth haben es zu Fußballstars, Sängern oder Tänzern gebracht. Die Rocinha besitzt eine Surfschule, Ansätze von Mittelklasse.

Die Besucher staunen auf einer halbfertigen Dachterrasse, nebenan ist ein ordentlich verputztes Haus auf elf Etagen und 66 Apartments gewachsen. Es gehört Zuwanderern aus dem bettelarmen Nordosten, die die Favelas in Rio und Sao Paulo besonders bevölkern.

Das Gebäude ist erstens ein Beispiel für das unkontrollierte Wachstum dieser Stadt in der Stadt, gebaut wird ohne Planung und Genehmigung. Und zweitens ein Zeichen vager Hoffnung. "Viele Leute wollen hier nicht mehr weg", sagt Christina Mendoza, Umfragen bestätigen das.

Acht von zehn Favela-Bewohnern zahlen keine Steuern, Strom wird meist von einer Leitung abgezapft. Es gibt fließend Wasser, die Mieten sind billig, die Kulisse ist stellenweise beeindruckend. Hier erhebt sich links eine Felswand, und drunten am Meer zeigen sich die schnittigen Wohnanlagen und der palmbestandene Golfplatz von Sao Conrado, einem weiteren Nobelviertel.

Auf dem Golfplatz, die Armen von nebenan

Auf dem Golfplatz arbeiten viele Einwohner der Armensiedlung nebenan, sie heißt Vila Canao und ist Rios Vorzeige-Favela. Dort darf sich die Reisegesellschaft sogar in verwinkelte Gänge wagen und eine Grundschule besichtigen, die Favela Tour unterstützt.

Vila Canao wurde erfolgreich ins städtische Bauprogramm eingegliedert und ist Vorbild, Brasilien will sich auch Monstern wie der Rocinha annehmen. 1,25 Milliarden Euro hat Präsident Luiz Inacio Lula da Silva versprochen, um Infrastruktur und Lebensbedingungen zu verbessern.

Die Rocinha erhält unter anderem Wohnungen, Krankenhäuser, ein Stadion, Kulturzentrum und einen Bogen des fast 100-jährigen Architekten Oscar Niemeyer. Außerdem sollen Jugendliche unterstützt und die katastrophalen Gefängnisse renoviert werden, dort entstand die organisierte Kriminalität. Lula hat erkannt, dass Sozialmaßnahmen sinnvoller sind als Polizeieinsätze.

Über Rocinhas Hauptstraße geht die Favela Tour zu Ende, früher war dies eine Rennstrecke. Argentiniens Legende Juan Manuel Fangio gewann fünfmal, Christina Mendoza reicht ein vergilbtes Foto herum. Die Touristen steigen bei ihren Hotels aus, Marcia in Ipanema.

Sie fand es sehr interessant in der Nachbarschaft.

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