Tibetische Kultur:Die Geister, die keiner ruft

Tibet fasziniert den Westen. Aber jenseits der Klischees geht eine uralte Kultur zugrunde. Eine Begegnung mit Wiedergeborenen und anderen Heiligen.

Karin Steinberger

Wenn im Frühling die Hunde Dharamsalas am hellen Tag den Himmel anbellen, sehen sie angeblich Drachen-Nagas weit oben herumfliegen. Wohltätige, halbgöttliche Wesen, die im Frühling aufsteigen und im Winter tief unter der Erde schlafen. Da unten treffen sie dann auf unfreundliche und böse Geister, ungute Gesellen.

Wer an so einem Böse-Geister-Ort sein Haus baut, wird das bereuen. Streit, Unglück, Krankheiten, alles Mögliche schicken einem diese Typen ins Haus, da hilft selbst das wirkungsvollste Rauchwerk nichts, nicht einmal Myrrhe, Sandelholz oder Weihrauch. So sagen es die Tibeter. Also bauen sie nicht, wenn ein heiliger Mann davon abrät.

Die meisten Nichttibeter steigen hier schon aus, oder ein, je nachdem.

Wenn dann auch noch einer wie Ngakpa Karma Lhundup Rinpoche vor einem sitzt, ganz im Jetzt, mit Sonnenbrille, Anorak und Pferdeschwanz, und erzählt, wie bei seiner Geburt im Jahr 1959 ein Feuerstrahl aus einer Flasche "Geburtstagsbier" herausschoss, und wie dieses Ereignis von allen Anwesenden sogleich als Zeichen gedeutet wurde, dass der Junge die Wiedergeburt eines mächtigen Yogi sein könnte, ein Tulku wie der Dalai Lama.

Wenn er von seinem Studium an der Punjab Universität erzählt, wo er kurz so im Realen verankerte Fächer wie Psychologie, Öffentliche Verwaltung und Sozialwissenschaften studierte, und dann über die Formel spricht, die es braucht, um einem Menschen das Leben zu nehmen. Oder die Buddhafigur aus rohem Eisen, Material, das direkt vom Himmel fiel, als Meteorit, als Sternschnuppe, als Feuerball. Wer weiß es schon. Himmelsmetall.

Dann ist schon vieles gesagt über die Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, wenn man im 21.Jahrhundert lebt, andererseits aber auch noch im 9. Jahrhundert.

Die Geister, die keiner ruft

Warum Schwierigkeiten? Ngakpa Karma Lhundup Rinpoche, der am 11. Oktober 2002 nach dem Empfang der 13 Tage dauernden Ermächtigungen der allwissenden, vierteiligen, zutiefst verborgenen inneren Spiritualität formell als die unverwechselbare Reinkarnation des Mahasiddha Wariktsel Thokme eingesetzt wurde, kichert, dann winkt er einer Amerikanerin zu, die er schon oft als Reiseleiter begleitet hat. Auch eine Wiedergeburt muss sich ernähren im Jetzt.

Sie leben hier am Sitz der tibetischen Exilregierung alle zwischen den Welten und den Zeiten, zwischen Drachen-Nagas und Realpolitik, zwischen drei Jahre, drei Monate und drei Tage dauernden Kagye-Übungen und dem jährlichen Steuerbescheid.

Sie spüren, wenn der Dalai Lama bei ihnen ist

Lhundup schaut hinüber zum Palast des Dalai Lama, er ist gerade da. Sie spüren hier, wenn er bei ihnen ist. Das versteht der Westen oft auch nicht, was für eine Rolle der Dalai Lama spielt für sein Volk. So viele, die über ihn urteilen, kennen vor allem seine Schlappen und seine safrangelben Gewänder. Was wissen sie schon von den Meditationen über die Negation der Zeit, von Bodhisattva und dem Dialog zwischen Meister und Schüler. Sie haben in ihrer Ignoranz nur billige Stanzen für ihn, irgendwas zwischen Abzocker und Superstar.

So wie der Westen von Anfang an aus Tibet gemacht hat, was ihm gefällt, die Missionare und Spione, die Forscher und Abenteurer, die Reiseschriftsteller und Esoteriker. Sie haben phantastische Legenden und Fiktionen kreiert, ein ganzes Land wurde überschüttet und vereinnahmt von westlichen Tibetphantasien.

Was haben sie nicht alles gesucht am Dach der Welt. Das Shambha-La der "arischen Lamas", das Shangri-La der "weißen Lamas", das Dharma-La des sakralen Tibet. Sie glaubten, dort oben sei das Paradies, dort lebten die von der Sintflut Verschonten, Wesen, die durch die Luft fliegen, sich telepathisch verständigen, ihren Feinden interessante Dinge zufügen und durch eine chemische Verbindung altes Blut immer wieder erneuern können.

Das alte Tibet war nicht perfekt

Dummerweise gab es im Paradies auch Armut und Hunger, Krieg und Auspeitschung, Oberschicht und Unterschicht. Die Welt hat das mit unfassbarer Störrigkeit ausgeblendet. Bis heute.

Natürlich war das alte Tibet nicht perfekt. Der Dalai Lama sagt es fast bei jedem Auftritt, es steht in seinen Büchern, es steht in jedem ernstzunehmenden Text. Nur hören will es keiner. Als gäbe es nur Paradies oder Hölle. Tibet oder China. Wer den Dalai Lama verehrt, muss Mao hassen. Großer Unsinn. Es bleibt trotzdem dabei.

Tibet ist bis heute Projektionsfläche westlicher Hirngespinste. Das taugt für alles. In Werbefilmen schweben Lamas, und unter ihnen saugt einer mit dem Electrolux Widetrack Staubsauger durch, Mönche versprechen Erleuchtung bei schlechtesten Lichtverhältnissen, Lamas radeln gestärkt von Grüntee gegen den Großstadtstress an, Autos befahren den buddhistischen Weg der Mitte.

Und währenddessen geht Tibet vor die Hunde. Kein anderes Volk ist so präsent - und bei aller Präsenz doch so vergessen. Begraben im Klischee.

Die Geister, die keiner ruft

In Dharamsala sind es die indischen Händler, die davon profitieren. Die ganze Stadt ist voll mit Dharma-Ramsch, mit authentischen Bön-Schamanenjacken, perlenbesetzten Quasten zum Ableiten überschüssiger Energie, Uhren, auf denen das machtvolle Kalachakra eingraviert ist, Himalaya Eau de Toilette, das die Aura füllt.

Und in den Häusern leben die Menschen das andere Tibet. Das wahre. Hier liegen Bananen und Kekse bergeweise vor den Bildern der 42 friedvollen und 58 zornigen Gottheiten. Hier vermissen sie die Heimat auf der anderen Seite der Berge. Hier wachen sie über die Toten, damit keine Katze in ihre Nähe kommt. Abergläubisches Volk.

Wiedergeburten sind dem Finanzsystem suspekt

Ngakpa Karma Lhundup Rinpoche ist ein Mann der Moderne, er hat eine Internetseite, ein Reisebüro, eine E-Mail-Adresse. Aber auch einen Schrein, in dem die Götter streng nach Hierarchie ausgerichtet sind. Alles kein Problem, nur mit der Visitenkarte hatte er Schwierigkeiten, jetzt steht Karma Lhundup drauf. Mehr nicht. Kein Rinpoche, kein Ngakpa, all die religiösen Ehrentitel.

Es gab ständig Schwierigkeiten mit den Banken, den Behörden, bei Überweisungen. Wiedergeburten sind dem Finanzsystem suspekt - damit ist jeder Bankautomat überfordert. Wenn er heute Formulare ausfüllt, schreibt er nicht mehr Priester oder Lehrmeister der Meditation, sondern Sozialarbeiter. Stimmt ja auch irgendwie.

Am Nebentisch bestellen sich Rucksacktouristen Cola und pancakes und quatschen über das Dharma und das Sangha und den Irrsinnspreis, den so ein trotteliger Ami für einen Tangka bezahlt hat, und Karma Lhundup sagt, dass er morgen mit dem Sohn des Regenmachers eine Zeremonie abhalten wird, ein paar Straßen weiter, in einem kleinen Tempel, man fange um acht Uhr morgens an. Ach ja, die Götter mögen Geschenke.

Der Sohn des Regenmachers. Es klingt schon wieder wie ein Werbetext.

Alte Männer kneten Butter und Affen warten auf die Reste

Leicht zu finden sind sie nicht. Am Busstand vorbei, die Straße hinauf, bis eine winzige Treppe links abbiegt, immer höher geht es zwischen den an den Berg geklatschten Häusern Dharamsalas hinauf. Man kann sie hören, lange bevor man sie zu Gesicht bekommt.

Vor dem schäbigen Blechhaus hocken schon die Affen, sie warten auf die Reste. Es ist ein winziger Tempel, links eine kleine Küche, rechts ein größerer Raum, dort sitzen sie. Der Sohn des Regenmachers rechts vom Altar, drei Männer neben sich, auf der anderen Seite Ngakpa Karma Lhundup Rinpoche und ein Mann mit einer Brille, die an ihm hängt wie nach einer Schlägerei.

Die Männer kneten Teig und formen Butter-Skulpturen, sie tunken Teigbatzen in rote Paste. Die Luft ist Nebel. Voller Mehl und Morgenlicht und Alte-Männer-Gelächter. Das Durchschnittsalter ist 70 - wenn man freundlich rechnet.

Die Geister, die keiner ruft

Karma Lhundup hockt im Schneidersitz, um ihn herum hängen tantrische Ritualgegenstände: Glocken, Vajras, Handtrommeln, Tonschalen und Vasen, vom Altar glitzern zornvolle Meditationsgottheiten herunter, mit Halsketten aus Menschenköpfen.

An der Tür steht Tensing Dolma. Sie starrt die Götter an, trinkt einen Schluck Buttertee, er ist gesalzen, buttrig, wie es sich gehört, nur ohne Yak-Butter, weil es die hier nicht gibt. Sie sind seit fast 50 Jahren in der Fremde, das merken sie immer wieder. Tensing Dolma sitzt da. Sprungbereit.

Mit den Gesängen der Männer kommen die Erinnerungen, das alte Tibet, der Potala-Palast, die Flucht, die Heimatlosigkeit. Sie weint. "Unsere Generation hat alles getan, um die Kultur zu bewahren, und jetzt verlieren wir doch alles. Wenn bei euch die Kinder schlechte Filme sehen, ist das eine Sache. Bei uns ist das etwas anderes, wir sind die Letzten, die es retten können. Aber meine Tochter weiß mehr über Sarkozys SMS als über unseren Rinpoche."

Die Männer werden jetzt immer lauter, sie trommeln und blasen in Muscheln und in krumme Hörner, blättern in ihren vergilbten Sanskrit-Texten. Ngakpa Karma Lhundup Rinpoche hilft dem Alten, der neben ihm sitzt und sich verblättert in jahrhundertealten Schriften, der einnickt und den Faden verliert und dann wieder mitbrummt im ewigen Singsang. Stunde um Stunde.

Acht Jahre hat Lhundup in einem katholischen Krankenhaus in Delhi gearbeitet, er hat einen Diplomkurs als medizinischer Labortechniker absolviert. Hämatologie, Bakteriologie, Parasitologie. Er war weit weg von den Wurzeln seiner Familie, von den Zeremonien, die sein Vater, der tantrische Meister der Begräbnisriten, für die Lebenden und die Toten zelebriert.

Die letzten ihrer Art

Irgendwann hat sie ihn doch eingeholt, die Verpflichtung des ältesten Sohnes, die Tradition weiterzuführen. Und so hockt Ngakpa Karma Lhundup Rinpoche nun seinem 80-jährigen Vater gegenüber. Sieben Jahre studierte er tantrische Übungen im Zilnon Kagyeling Kloster, gegründet vom persönlichen Wettermacher des Dalai Lama, er studierte die Praktiken des Troma Nagmo, die 110 Tage dauernden Tsog Opferrituale, das Vorbeten und das Spielen der religiösen Instrumente. Er lebte in heiligen Höhlen. Jahrelang, bis er bereit war.

Da hockt er mit den Alten auf harten Kissen, umwabert vom Duft der 108 Butterlampen. Wie im Bilderbuch sehen sie aus, wie aus der Zeit Gefallene. Ngakpa Karma Lhundup Rinpoche, dessen Bankcard nichts weiß vom Großen Mitgefühl und Dakini, der Himmelsgeherin.

Eine lebendige Kultur, bis die Chinesen kamen

Sie sind die Letzten ihrer Art, viele gibt es nicht mehr, die die tantrischen Traditionen der Nyingma aufrechterhalten, der ältesten der vier großen Schulen des tibetischen Buddhismus. Seit Jahrhunderten praktizieren sie neben den Mönchen und Nonnen der Klöster Tibets religiöse Riten.

Es war eine lebendige, allgegenwärtige Kultur. Bis die Chinesen kamen und auch hier aufräumten. Selbst viele Tibeter wissen nicht mehr viel über die Ngakpas, über ihre geheimen Riten, ihre Fähigkeit, Regen zu machen, Feinde zu töten, Dämonen zu verjagen.

Viele wissen nicht, dass auch diese Lamas den erleuchtenden Pfad des Dzogchen praktizieren. Manche haben Angst vor ihnen, fürchten ihre schwarze Magie. Doch ein Ngakpa missbrauche seine Kräfte nicht, sagt Lhundup: "Zu viel Einmischung ist schlecht für den Körper."Man darf nicht jedem Wunsch nachgeben. Menschen sind maßlos. Mal wollen sie Sonne, dann Regen, dann Sonne. Es ist besser, wenn die Dinge bleiben, wie sie sind, sagt er.

Der Sohn des Regenmachers lächelt. 20 Jahre lang hat sein Vater das Wetter gelenkt am Himalaya. Erfolgreich, wie es heißt. Selbst die Chinesen hätten ihn sich zurückgewünscht, als er aus dem Land floh, sagen sie. Aber der Sohn des Sohnes des Regenmachers wird keinen Regen mehr machen, und keinen Hagel. Er ist Hotelmanager in Russland geworden.

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