SZ-Autoren zur EU:Europa, eine zwiespältige Liebe

Spielplätze wie Gummizellen, ein Zug voller Liebenden und die Ordnung der Felder: eine seltsame Reise durch Europa - mit Länder-Vote.

London

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(Foto: Foto: iStock)

Bascha hieß sie, aber heißen nicht alle Polinnen Bascha? Sie war Zimmermädchen im Hotel in Soho, eine Polin aus Breslau, das jetzt Wroclaw heißt und einmal in Schlesien lag. Bascha spricht ein grollendes Englisch und sie lächelt dabei, als müsste sie sich dafür entschuldigen. Manchmal bekreuzigt sie sich, denn sie ist katholisch und betet zur wundertätigen schwarzen Madonna von Tschenstochau. Bascha hat aschblonde Haare und blaue Augen, sie ist ein wenig rund und erst neunzehn.

Sie gehört zu den Polen, ohne die London gar nicht mehr London sein könnte. Die Polen arbeiten im Verborgenen, aber kein Hotel kommt mehr ohne sie aus. Sie reparieren alles, sie putzen, sie staubsaugen, sie waschenbügelnreinigen, alles garantiert polnisch.

Als das anfing mit den Polen, machten die Zeitungen ihren Lesern Angst, indem sie die Preise vorne drauf klatschten, für die einen EasyJet aus den baltischen Ländern nach London beförderte, £19,95 und dergleichen.

Nichts, nein, gar nichts kennt Bascha von London, keine Clubs, kein Theater, kein Museum. Sie muss doch arbeiten.

Oft sind es Schichten mit sechzehn Stunden. Abwechslungsreich ist die Arbeit und der Dreck immer wieder anders: Bettabziehen, Handtücher raus, aufwischen, die Minibar kontrollieren, die Klopapierrolle zum Dreieck kanten. Doch zwischendurch darf sie sich ein paar Minuten hinlegen. In einer Abseite des Hotels schläft sie dann, doch das darf sie gar nicht sagen.

Zum ersten Mal in den Westen kam Bascha vor sieben Jahren, als die ganze Familie bei der Spargelernte in Schrobenhausen gebraucht wurde. Ihr Vater war Arzt, aber er verdiente nicht genug für Frau und sieben Kinder und dann starb er auch schon. "Deutschland ist schön", sagt Bascha, obwohl sie nicht viel davon gesehen haben kann. Einzelne Wörter kann sie noch. "Ettstrasse", wo in München die Polizei residiert, und sogar ein ganz langes Getüm: "Kreisverwaltungsreferat" mitsamt der U-Bahn-Haltestelle Poccistraße. Die Aufenthaltsgenehmigung gab es trotzdem nicht, und so sind sie auseinander.

Die Mutter mit den Jüngeren noch in Wroclaw, die Älteren ins Ausland. Natürlich schickt sie Geld nach Hause. Hier, zeigt sie, das ist Pawel. Ihr liebster Bruder hat sich vor der wundertätigen Madonna von Lourdes fotografieren lassen. Pawel lächelt auf dem Bild wie sie, aber er ist schon in Kanada.

Nach Kanada möchte sie auch, bald möchte sie da hin, und dafür arbeitet sie jetzt wieder weiter.

Johannes Willms: Das Geheimnis des Waldkorns

Paris

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Viele, die in Paris leben, sind dort zwar nicht daheim, aber dennoch zu Hause. Das ist keine Paradoxie, sondern eine für die Stadt sehr charakteristische Lebenswirklichkeit, die Paris seit dem frühen 19. Jahrhundert kennzeichnet. Seit damals zehrt Paris von dem Ruf, eine internationale Stadt zu sein, ein Rang, mit dem seit einem Menschenalter erst New York konkurrieren kann.

Ausschlaggebend dafür ist, dass das Flair einer Stadt nicht so sehr von den Einheimischen bestimmt wird, sondern von den Zugereisten. In Paris waren das früher vor allem Emigranten wie Heinrich Heine, Karl Marx, Arnold Ruge, aber auch Oscar Wilde.

Sie und viele andere, Künstler, Schriftsteller, Genies und Hungerleider machten Paris schon in einer Zeit zur Hauptstadt Europas, als sich dessen Staaten noch mit Feindschaft belauerten.

Das ist mit der Europäischen Union längst anders geworden, und in diesem Zusammenhang hat Paris verloren und gewonnen. Verloren, weil es die ihm einst exklusive Internationalität mit Barcelona, Mailand, Berlin oder London teilen muss. Gewonnen jedoch, weil das Leben hier für einen Fremden, sofern er aus einem EU-Land kommt, merklich einfacher und unbürokratischer geworden ist.

Wer hier jetzt lebt und arbeitet, muss sich nicht mehr auf der Polizeipräfektur für eine Aufenthaltsgenehmigung anstellen, die er allerdings noch braucht, wenn er hier ein Auto anmelden will. Vorbei auch die Zeit, dass er sich vergeblich nach einem anderen Brot sehnen musste als nach der weißen, krachenden Baguette.

Immer mehr Bäcker bieten dunkles Brot an, Roggenbrot gar, oder ein fast schwarzes, das hier "Waldkom" heißt, ein Name, der einem ein überraschend wohlschmeckendes Rätsel aufgibt.

Thomas Steinfeld: Spielplatz als Gummizelle

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Schweden

Tief im Süden Schwedens, in einem kleinen Fischerdorf namens Skillinge, umgeben von Katen, Kopfsteinpflaster und Stockrosen, liegt ein Spielplatz. Bis zum vergangenen Jahr passte er sich wunderbar in die alte, leicht verwitterte Umgebung ein: Er war gesäumt von verwilderten Johannisbeerbüschen und Hagebutten, eine etwas verkrüppelte Esche warf ein wenig Schatten, der von morschen Stämmen umgrenzte Sandkasten war zerwühlt, sein Inhalt über die Wiese getragen, die stählernen Spielgerüste rosteten an den Schweißnähten.

In diesem Jahr ist alles anders.

Für eine Million Kronen, berichtete stolz die Lokalzeitung, wurde der Spielplatz erneuert, nach den unbedingt verbindlichen Richtlinien der Europäischen Union.

Und wie er jetzt aussieht: Die Spielgeräte bestehen aus Kunststoff mit gerundeten Ecken, an denen sich niemand mehr stoßen kann, der Sand, nunmehr von Plastikbalken fest umschlossen, ist angeblich besonders elastisch, und unter der Schaukel liegen dicke Platten aus rotem und braunem Schaumstoff, die jeden Sturz weich auffangen sollen. Die Büsche und der Baum sind verschwunden, über der gesamten Anlage waltet der Geist einer Gummizelle.

Und das soll ein Spielplatz nach den Vorstellungen der Europäischen Union sein? Nirgendwo anders in Europa gibt es einen solchermaßen kindersicheren Spielplatz, in Deutschland nicht, in Italien nicht und in Bulgarien schon gar nicht. Andererseits wurden in der Umgebung von Skillinge die alten Alleen, die einst nicht nur abgeholzt wurden, weil die Bauern mit ihren Pflügen bis zur Straßenkante graben wollten, sondern auch der vielen Unfälle wegen, mit Mitteln der Europäischen Union und nach Maßgabe europäischer Richtlinien bepflanzt.

Was einen lehrt, dass zum neuen Europa immer zwei gehören: Einer muss die Richtlinie schaffen, der andere muss sie umsetzen wollen.

Gustav Seibt: Europäisches Gedenken

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Rom - Uckermark

Glücklich, wer in dem von Verwüstungen und Vertreibungen gezeichneten Boden Europas noch ein paar Gräber seiner Vorfahren ausmachen kann. Bei mir sind es zwei, und wunderbarerweise gehören sie zusammen, obwohl sie an zwei weit voneinander entfernten Orten liegen. Das eine dieser Gräber liegt bei einer Dorfkirche auf den Seelower Höhen östlich von Berlin.

Es erinnert an meine Ururgroßmutter, die Frau eines evangelischen Pfarrers, die dort 1849 starb. Neben ihr sind vier ihrer frühverstorbenen Kinder begraben. Den Gedenkstein ließ mein Urgroßvater 1912 setzen, ein halbes Jahr vor seinem Tod.

Dass dieses schlichte Monument die letzte, blutige Schlacht des Zweiten Weltkriegs überlebt hat, gleicht einem Wunder. Das andere Grab aber befindet sich in Rom, auf dem Friedhof für die nichtkatholischen Toten bei der Cestius-Pyramide. Das ist ein berühmtes Gräberfeld, in dessen Erde zwei Söhne Wilhelm von Humboldts und Goethes Sohn August bestattet sind, der englische Dichter Keats, der italienische Philosoph Gramsci und viele andere große Namen.

Ich habe erst spät durch einen Zufall erfahren, dass dort auch der Bruder der uckermärkischen Pfarrersgattin liegt: Wilhelm Ritter von Doenniges, königlich bayerischer Gesandter und bevollmächtigter Minister beim königlich italienischen Hofe, wie es auf der verwischten und vermoosten Grabplatte heißt.

Wilhelm von Doenniges stammte wie meine Ururgroßmutter aus Pommern und war keineswegs adelig. Aber als brillanter, moderner Kopf wurde er vom bayerischen König Max II. als Berater und Minister hoch geschätzt. So machte er eine glanzvolle Karriere als Bildungspolitiker und später als Diplomat in bayerischen Diensten. Seine letzte Station war Rom, die neue Hauptstadt des erst kürzlich vereinigten Italien, wo er am 4. Januar 1872 im Alter von 58 Jahren im erblichen Adelsstand starb.

Ich war oft auf diesem Friedhof, vor allem in meiner Zeit als Student in Rom, als ich noch nichts davon wusste, dass einer von meiner Familie da liegt, denn ich habe die kosmopolitische, kunstsinnig-gebildete Atmosphäre auf diesem Intellektuellen-Friedhof bei der "Pyramide am Scherbenberg" (Humboldt) immer geliebt. Rom ist gemeineuropäischer Boden, und der unkatholische Friedhof ist es besonders - nur Fremde, Nichtrömer aus allen Himmelsrichtungen, liegen hier.

Und ich habe mich bei der Friedhofsverwaltung erkundigt: Da es sonst keine Doenniges-Nachfahren mehr gibt, hätte ich das Recht, mich in Grab 870 bei ihm bestatten zu lassen. Vorerst fahre ich jeden Sommer mindestens einmal per Rad von Berlin aus auf den anderen Friedhof in der Mark und denke dabei auch an Rom.

Dies zu tun aber hat mir erst die Vereinigung der beiden Deutschländer erlaubt, die so auch die beiden Gräber wieder näher aneinanderrückten.

Hilmar Klute: In der Normandie

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Jahrestag der Landung der Alliierten in Vierville-sur-Mer, Normandie

(Foto: Foto: AP)

Normandie

Wenn man vor knapp dreißig Jahren als Deutscher, auch als sehr junger, in Frankreich war, durfte man nicht zwingend mit der Freundlichkeit der Einheimischen rechnen. Bitten um Ortsauskünfte wurden manchmal mit Schweigen beschieden, Tickets für öffentliche Verkehrsmittel mit kaltem Blick überreicht, und am Strand konnte dem spielenden deutschen Kind durchaus ein halblautes boche um die Ohren zischen - die Vergangenheit war damals zeitlich noch nahe genug, um mindestens zwei Generationen zu vergiften.

Deshalb bleibt dieses eine Zeltlager um 1980 nahe der nordfranzösischen Kleinstadt Vierville-sur-Mer vor allem deshalb in Erinnerung, weil der Besitzer des Campingplatzes, auf dem die Jugendfreizeit stattfand, der Sohn eines von der SS ermordeten Elternpaares war.

Dass dieser Mann es fertigbrachte, deutschen Jugendlichen einen Teil seines Grundstücks zu vermieten, war vor allem seiner Ansicht zu verdanken, er glaube, dass die ganz junge Generation aus den Verbrechen ihrer Väter lernen würde. Tagsüber lief der Mann lächelnd in schweren Stiefeln über den Zeltplatz, half hier und da und bot ein Bild aristokratischer Lässigkeit. An den Abenden setzte er sich in die Diskussionsrunden, hörte sich an, was wir von damals wussten und dann erzählte er von jener Nacht, in welcher die Deutschen in das Schlafzimmer seiner Eltern eindrangen und beide erschossen.

Eigentlich waren diese zwei Wochen unfassbar bedrückend, denn wir besuchten beinahe täglich einen Ort, der für die deutschen Verbrechen stand. Auf einem der zahllosen Soldatenfriedhöfe fand einer von uns das Grab seines Großonkels und machte ein Foto. Und immer wieder die Geschichten von Morden, Plünderungen, Verschleppungen.

Erst ein halbes Jahrzehnt später, im September 1984, gaben sich Kohl und Mitterrand über den Gräbern der Toten in Verdun die Hand.

Holger Gertz: Fußball vereint

SZ Autoren zur EU. WM Flaggen 2006, ddp
(Foto: Foto: ddp)

Berlin

Wir saßen am Savignyplatz in Berlin, Pizzeria la Piazza: ein paar Deutsche und Jewgenij, der Russe; Paul, der Franzose; Wilhelm aus Amsterdam; Ümit, der Türke aus Wuppertal-Elberfeld sowie ein winziger Mann, den wir nur den Ecuadorianer nannten, weil er seinen Namen nicht sagen wollte, aber das gelbe Nationaltrikot Ecuadors anhatte. Der Ecuadorianer war Fan seiner Nationalmannschaft, die längst ausgeschieden war, aber Ecuador nahm weiter teil an der Fußballweltmeisterschaft, in Gestalt dieses kleinen Mannes, Hornbrille, Lederjacke. Sommer 2006.

Wir waren vom Schicksal eines Abends an einen gemeinsamen Tisch gespült worden und sahen das Halbfinale, Italien gegen Deutschland, die S-Bahn rauschte über die Brücke neben dem Savignyplatz, und das Rauschen klang wie eine Fankurve aus einer anderen Zeit.

Was Fußball mit Europa zu tun hat? Na ja, erst mal interessieren sich sämtliche Europäer für Fußball. Und wenn man daran denkt, dass sie sich vor Jahrzehnten noch die Stahlhelme zerdrückt haben, wann immer sie sich trafen, ist es doch ein Fortschritt, wenn man sie bei einem großen Turnier nebeneinanderstehen sieht in den U-Bahnen und Warteschlangen vor den Stadien. Der eine oder andere hat den Stahlhelm noch auf, aber die allermeisten tragen Käsekappen oder Schweinehüte, die Holländer außerdem gern Pferdegebisse, die in ihrem Fall bei der Geburt sozusagen serienmäßig mitgeliefert werden.

Wenn die Politiker immer sagen: Europa ist zusammengewachsen, dann kriegt man das in den U-Bahnen und Warteschlangen und Fußballkneipen ganz gut mit. Am Savignyplatz präsentierte sich Jewgenij betont kugelköpfig, Paul war frisch gegelt und trug ein stylisches Trikot mit Rollkragen, Ümit einen Mehrtagebart zur speckigen Trainingshose.

Fußball macht nicht gleich, er vereint. Die Italiener gewannen das Spiel, die Deutschen hatten jetzt diese betrübten, schwer deutschen Magengesichter.

Wir zogen noch weiter, am Savignyplatz liegt Hundehaufen an Hundehaufen und Kneipe an Kneipe. Der Ecuadorianer hat mit Europa und dieser Geschichte eigentlich nichts zu tun, allerdings hatte er noch einen großen Satz an diesem Abend. In einer Kneipe, es war schon zwei Uhr nachts, bestellten wir weiteres Bier, der Ober brachte das berüchtigte Westberliner "Engelhardt".

Da flüsterte der Ecuadorianer: "Engelhardt macht Stengel hart." Es war der einzige Satz, den er sagte.

Wir erklärten ihn zum Europäer ehrenhalber.

Andrian Kreye: Die europäische Ordnung

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Im Flugzeug

Es ist egal, ob man aus dem Westen oder dem Süden geflogen kommt. Erwacht man gegen Ende eines Langstreckenfluges aus dem Schlaf, reicht ein Blick aus dem Fenster, um zu erkennen, ob man schon in Europa ist. Hat sich die Landschaft in unzählige, akkurat abgegrenzte Parzellen zerstückelt, ist man in Europa.

Kein Fleck des Kontinents scheint unberührt, nur wenn man die wenigen Bergketten überquert, wird das unruhige Muster der Linien und Flächen durchbrochen. Kulturlandschaft nennt man diese Topographie im offiziellen Sprachgebrauch, und in Europa ist man sehr stolz darauf, sich die Erde so endgültig untertan gemacht zu haben.

Es ist ja auch Zeichen der paradiesischen Zustände, dass jeder Meter der Länder hier von Menschen bearbeitet, gezähmt, besiedelt oder fruchtbar gemacht wurde. Wie hart ist da doch der Kampf auf den anderen Kontinenten, auf denen die Ebenen und Wüsten, die Urwälder und Eisfelder den Menschen bis heute einen oft so harten Überlebenskampf aufzwingen. Es ist Zeichen des stabilen Friedens und des enormen Wohlstandes in Europa, dass die Kulturlandschaften aus großer Höhe ein so sauberes Bild ergeben.

Denn wie schnell gerät so eine Kulturlandschaft aus der Balance. Krieg, Armut und Misswirtschaft schaffen Schneisen und Brachen. So aber hat alles seine fast surrealistische Ordnung, die es nirgendwo sonst gibt auf der Welt. Zwar sehnen wir Europäer uns immer wieder nach einem gehörigen Maß Unordnung.

Wir reisen Tausende Kilometer, um einmal eine Wüste, eine Savanne, eine Prärie zu durchqueren, einen Urwald zu erkunden, gewaltige Gebirge zu besteigen. Dort merken wir rasch, dass die Unbequemlichkeiten nur ein kurzer Nervenkitzel sind. Und kehren bald zurück, den Blick sehnsüchtig aus dem Fenster gerichtet, wann das Fleckmuster unserer Kultur wieder Sicherheit und Ordnung verspricht.

Gottfried Knapp: Neue Klasse an der Küste

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Europa kulinarisch

Überall dort, wo sich Ende der achtziger Jahre der Eiserne Vorhang gehoben hat, sind die Segnungen der europäischen Einigung besonders deutlich zu spüren. Auf kulinarischem Gebiet dürften die an Italien grenzenden Regionen des ehemaligen Jugoslawien vom europäischen Aufwind am meisten profitiert haben.

Die kleinen Küstenstädte in Istrien - Piran, Porec, Rovinj, Pula - sind, wie das Stadtbild verrät, allesamt von Venedig geprägt, doch im sozialistisch vereinheitlichten Jugoslawien haben sie auf gastronomischem Sektor alles eingebüßt, was irgendwie an ihre regionalen Traditionen oder gar an Italien und das westliche Europa erinnern konnte.

In den staatlich betriebenen Hotels und Großgaststätten wurde eine phantasielose Einheitsküche auf der Basis von Schweinefleisch und wenigen Gemüsesorten zelebriert. Fisch blieb den obersten Hotelkategorien vorbehalten. Die vormals angesehenen nationalen Weine waren nur noch als charakterlose Massenprodukte erhältlich.

Umso überraschender ist das, was sich im letzten Jahrzehnt entwickelt hat. Eine ganze Reihe von Hauben oder Kochmützen in den einschlägigen Restaurantführern deutet die neue Klasse an. In den Küstenorten sind es vor allem kleine Restaurants, die sich auf Fisch aus den Küstengewässern und auf die Erzeugnisse aus den neuangelegten Austern- und Krustentierfarmen in den glasklaren Buchten und Fjorden spezialisiert haben.

Im Landesinneren werden lokale Produkte wie Lammfleisch, luftgetrockneter Schinken, Schafs- und Ziegenkäse, Artischocken, Pilze, wilde Kräuter, feine Destillate und Honig kreativ verarbeitet.

Dazu genießt man am besten die vorzüglichen Weine aus dem nahen slowenischen Karst, die sich mit der Konkurrenz im benachbarten Friaul jederzeit messen können. Auch beim Olivenöl haben einige Erzeuger zur europäischen Oberklasse aufgeschlossen.

Ja, die weißen Trüffeln aus dem Inneren Istriens sind wohl die einzigen, die sich mit den italienischen Alba-Trüffeln messen können. In den alten Zonenrandgebieten Jugoslawiens kann man das neue Europa also direkt am Gaumen spüren.

Jens Bisky: Zug der Liebenden und der Täuschung

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Im Zug nach Warschau

Europäer sind zurückhaltende Menschen, und ihre Zurückhaltung kann die Grenze zur Unhöflichkeit streifen. Ich habe mich anfangs gewundert, warum ein "Guten Tag" oder "Dzien dobry!", froh herausposaunt beim Betreten eines Abteils im Berlin-Warschau-Express, oft mit nichts als einem undeutbaren Kopfnicken beantwortet wird. Aber der Brauch hat gute Gründe: Warum denn mit der Nationalität gleich ins Haus fallen?

Es ist ja schon amüsant, den zweisprachigen Durchsagen des Zugpersonals zu lauschen, das bis zur Oder mit den Tücken der polnischen und danach mit denen der deutschen Sprache kämpft. Um wie vieles reizvoller wird es da, das Gegenüber im Abteil über die eigenen Kenntnisse zu täuschen, ihn lange radebrechen und erst zum Abschied merken zu lassen, dass man gut in seiner Sprache hätte plaudern können.

Der Abschied ist immer herzlich.

Zugegeben, man trifft in der Berliner S-Bahn oder vor dem Warschauer Schloss mehr Nationalitäten an als auf der - laut Plan knapp sechsstündigen - Fahrt zwischen den Hauptstädten. Da sitzen vor allem Polen und Deutsche neben ein paar russischen oder kanadischen Geschäftsleuten. Vor allem aber ist es ein Zug der Liebenden, die die Oder zwischen sich haben.

Und so spricht man, nachdem das Wetter abgehandelt wurde, mit Leidenschaft über die Eigenarten polnischer Frauen, deutscher Männer. Da kann sich jeder aus Klischeebruchstücken neu erfinden. Es gibt wohl kaum einen europäischeren Ort, das heißt einen Ort der Übersetzung und des Treffens im Dazwischen, im Ungefähren.

Man zahlt in Zloty oder Euro und weiß, dass der Express - wie die EU - meist verspätet, manchmal auch zu früh kommt. Aber jeder kennt einen, der gehört hat, er sei einmal pünktlich gewesen.

Stefan Kornelius: Reims, nicht befremdlich

SZ Autoren zur EU Europa Reims
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Reims

Was das Gedächtnis noch preisgibt über Reims nach 25 Jahren? Baguette getunkt in Kakao zum Frühstück; die Taittinger-Kellerei; Champagner, von Hand gedreht und gerüttelt; ein Ausflug in den Wald von St. Germain, dabei das Kufsteinlied gegrölt; im Wald dann lernten sich Freund F. und M. kennen - die beiden sind immer noch ein Paar, Patensohn D. ist heute 24 Jahre alt; ein Lycée in französischer Strenge; Deutsche in Sandalen mit Socken, Franzosen seltsam steif, aber immer mit langen Hosen; die Erkundung der Kathedrale mit dem lächelnden Engel und den blauen Fenstern von Chagall; Hervé natürlich, der sein Zimmer räumen musste für den Deutschen.

Überhaupt Hervé: Reden mochte er nicht viel, vor allem kein Deutsch, auch später nicht bei seinem Besuch am Gymnasium auf der anderen Seite des Rheins. Deutsch-französisches Schülerleben in den Achtzigern, langweilige Normalität fast. Die Klassenfahrt nach Ostberlin hatte einen höheren Befremdlichkeitsfaktor. Reims, das war nicht befremdlich.

Hätte es aber sein können.

Hätte ein wenig mehr Schauder auslösen dürfen, wenn man denn als 17-Jähriger schon ein Gefühl für die Wucht der Geschichte entwickeln würde. Die Kathedrale als Krönungsort der französischen Könige über Jahrhunderte hinweg, später das Ziel der deutschen Artillerie im Ersten Weltkrieg, was man in Reims bis heute im Gedächtnis behält. 60 Prozent der Stadt waren zerstört. Die Deutschen mussten dafür büßen, zunächst im Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne, wo der Waffenstillstand unterzeichnet wurde; General Foch diktierte die Bedingungen, die deutsche Delegation nahm sie stehend entgegen.

22 Jahre später diktierte ein anderer: Hitler ließ den Eisenbahnwaggon aus dem Museum holen und wieder in den Wald von Compiègne schaffen, um Rache zu nehmen für 1918; diesmal standen die Franzosen. Erst 1962 sollten beide Nationen beieinander stehen - Adenauer neben Charles de Gaulle beim Versöhnungsgottesdienst, wieder in der Kathedrale von Reims. Danach verhandelten sie den deutsch-französischen Vertrag.

Die Rückenlehne von de Gaulles Sessel war höher gezogen als die des deutschen Kanzlers.

22 Jahre später dann Baguette in Kakao getunkt.

Christiane Schlötzer: Auf der Flucht

SZ Autoren zur EU Athen, dpa
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Athen

Zwei Männer laufen über den heißen Athener Asphalt, sie haben jeder eine Wasserflasche in den Händen, das ist alles, ihr ganzes Gepäck. Die Männer haben dunkle Haut und erinnern mich an Jack.

Der rannte auch, war mit 23 Jahren schon acht Jahre auf der Flucht, besser gesagt, auf Reisen, und kannte Athen besser als ich. Jedenfalls die Seitenstraßen direkt hinter dem zentralen Omonia-Platz, wo Europa an Afrika stößt, wo Menschen wie Jack sich handtuchbreite Schlafplätze in Abbruchhäusern kaufen. Jack, der fünf Sprachen spricht. Sein Leben notierte er auf kleine Zettel, drückte sie mir in die Hand, damit etwas von ihm bleibt, eine Spur.

Später hat er angerufen. Ich bin unterwegs, hat er gesagt, ich ruf dich an, wenn ich angekommen bin. Ja bitte, habe ich gesagt und nicht gefragt, wie er reisen wird, weil ich wusste, dass es dafür keine Tickets gibt. Für einen Platz auf einem Lkw, im Fahrgestell, oder auf der Ladeklappe eines Frachters im Hafen von Patras. Als er sich meldet, sagt er nur: Ich habe es nicht geschafft.

Gebete auf den Zetteln

Pass auf dich auf, habe ich gesagt. Was sollte ich auch sonst tun? Ihm das Reisen verbieten? Ihm sagen, dass mein Europa ihn nicht braucht?

Mein Europa, dessen Grenzen ich grußlos überfliege. Irgendwann sind meine Vorfahren auch in diesem Europa herumgezogen, von Süden nach Norden, und einer konnte mehr als die anderen und fand Anstellung und Auskommen. Jack aus dem Sudan kann ich mit dieser Geschichte nicht trösten.

Als wir uns wiedersehen, hat er Gebete auf seine Zettel notiert. Dass er Christ ist, weiß ich schon. Wieder ein Anruf: Ich bin in Frankreich. Kein Ort, keine Namen. Jack bleibt auf Reisen.

In einem anderen Leben, auf einem anderen Planeten, wäre er wohl Priester geworden oder Politiker. Seit ich Jack traf, berühre ich manchmal den roten Pass in meiner Handtasche, wie um mich zu vergewissern, dass er noch da ist.

Harald Hordych: Casinos im Zentrum

SZ Autoren zur EU Waidhaus, dpa
(Foto: Foto: dpa)

Waidhaus

Die Wechselstuben am Grenzübergang Waidhaus/Rozvadov an der deutsch-tschechischen Grenze sehen aus, als seien sie mit bunten Rucksäcken zugewachsen. Vietnamesische Händler haben die Schilder "Change" hängen lassen, aber die Baracken mit T-Shirts und Sonnenbrillen vollgestopft. Kunden sind keine da.

Wenn die Lastwagen unter den Dächern der Kontrollstationen durchbrausen, wackelt das Unkraut. Sonst ist es still. Waidhaus/Rozvadov an der Bundesstaße 14 war mal der größte Grenzübergang zwischen Deutschland und Tschechien. Bis das letzte Teilstück der A6 zwischen Amberg und Waidhaus geschlossen wurde. Eine europäische Autobahn von Paris bis Prag war vollendet. Seit 2008 gibt es hier keine Kontrollen mehr. Selten hält eine deutsche Familie, um im Intershop paketweise Limonade zu kaufen. So banal können Sensationen sein.

Diese Grenze gehörte mal zu den bestbewachten Landesgrenzen. Die Gegend hinterm Eisernen Vorhang war arm und bürokratisch, die Zöllner an der Grenzstation gaben sich stur und abweisend, damals, vor 20 Jahren, bei der Fahrt nach Eger.

Die Grenze bedeutete Warten und Stau. Die Grenze verwischt heute beim Durchfahren, aber die Unterschiede sind geblieben. Die Oberpfalz ist hochentwickelt im Vergleich zur menschenleeren Wildnis in Böhmen. Die tschechoslowakische Regierung hatte eine Grenze hinter der Grenze gezogen. In einer kilometerbreiten Sperrzone durfte niemand wohnen. Grenznahe Orte der Sudetendeutschen wurden nach der Vertreibung abgerissen. Hier verlief die Stacheldrahtlinie. Vom Todesstreifen ist nichts mehr zu sehen: stattdessen ein Land aus Wiesen und Wäldern. Ohne Dörfer und Felder.

In Rozvadov bilden zwei Spielcasinos das neue Zentrum des Straßendorfs. Die Bänke in einem kleinen Park sind auf das "American Change Casino" ausgerichtet. Eine Reklametafel preist den "Night Club Royal, 100 Meter rechts plus S/M Studio" an. Die schicksten Häuser mit der frischesten Farbe sind nicht immer, aber meistens, Bordelle, und die Kioske werben mit Schildern für Alkohol und Zigaretten, als gäbe es beides erst seit gestern frei zu kaufen.

200 Meter weiter liegt wieder ein Basar mit Bergen von immergleichen Konsumartikeln kundenfrei in der Mittagssonne. Die Nordvietnamesen wollen nach Hause: "Keiner kauft. Keine Deutschen. Keine Tscheckis."

Zwischen den beiden Casinos, neben dem durchgängig geöffneten "Lions Club", steht ein junger Tscheche in einem einstöckigen Verschlag, wo Gartenbaugerät und Werkzeug feilgeboten werden. Er lobt die Casinos. Sie hätten den neuen Park angelegt und den großen Brunnen gebaut. Und die Sex Clubs?

"Die stören nicht."

Vom Swimmingpool des "Lions Club" dringt Gelächter.

Heribert Prantl: Sympathisch bescheiden

SZ Autoren zur EU Grüner Tisch Regensburg, dpa
(Foto: Foto: dpa)

Regensburg

Mein Europa sind drei Möbelstücke. Sie sind sehr alt, sie gehören mir nicht, sie stehen nicht in meiner Wohnung. Es handelt sich um eine lange Bank, um einen grünen Tisch und um ein Konfekt-Tischchen.

Alle drei kann man im Alten Rathaus zu Regensburg besichtigen. Dieses Rathaus ist nicht irgendein altes Rathaus, es ist ein europäischer Ort. Hier wurden europäische Grenzen gezogen, hier wurde, als die Türken vor Wien standen, beraten, wie man der Gefahr Herr wird.

Hier nämlich tagte eineinhalb Jahrhunderte lang, von 1663 bis 1806, der Immerwährende Reichstag. Das war ein Kongress der Gesandten der Kurfürsten, der Fürsten und der Reichsstädte des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation", zu dem in seinen großen Zeiten das gesamte Gebiet des heutigen Mittel- und Südeuropa gehörte.

Die lange Bank, der grüne Tisch und das Konfekt-Tischchen sind übriggeblieben aus der Zeit, als Regensburg das Zentrum von Kerneuropa war: Der Immerwährende Reichstag hat versucht, die Vielzahl der großen, kleinen und ganz kleinen Herrschaften des Alten Reiches zu koordinieren.

Bis ein Gesetz verabschiedet war, musste man sich von Nassau-Usingen bis Kriechingen, von Köln bis Bopfingen unterreden; aber erst die Signatur des Kaisers in Wien verschaffte den Conclusa Geltung. Das Procedere war umständlich, es war schwerfällig, es war föderal und partizipativ, es war europäisch à la Brüssel; und es nahm die Langsamkeit und die Mühseligkeit demokratischer Prozesse schon irgendwie vorweg.

Die drei Möbelstücke sind die Symbole dafür: Der "grüne Tisch" war das Tableau von Entscheidungen, die fern der Realität waren. Auf der "langen Bank" saßen nicht nur die Gesandten; dort wurden auch die unerledigten Akten gelagert, die so lange nachgeschoben wurden, bis sie am anderen Ende herunterfielen.

Und schließlich das Konfekt-Tischlein: Dort durften sich die Gesandten und ihr Personal bedienen.

Das alles hat etwas sympathisch Bescheidenes. Dieses Alt- und Kerneuropa protzt nicht. Und der alte Reichstagssaal ist so klein, wie das alte Reich groß war.

Er ist meine Heimat Europa.

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