Sylt ohne Schampus:Wind und Stille

Jede Saison hat ihre eigenen Gäste. Im Herbst zeigt sich Deutschlands nördlichste Insel von ihrer beschaulichen, natürlichen Seite. Dann bevölkern Spazier- statt Partygänger die Strände

Von Rita Balon

Mit einem Schwung haben die stürmischen Herbstwinde alle Klischees weggeblasen, die Sylt im Sommer bedient: als Insel der Reichen und Schönen, geprägt von Promipartys, Luxussportwagen und Kampens "Whisky-Straße", wo das Meeresrauschen in den Bars vom Knallen der Champagnerkorken übertönt wird. Im Herbst kehrt Ruhe ein. Aufgeregt sind nur die Hundertschaften von Möwen, die sich kreischend von heftigen Böen auf und ab treiben lassen. Jetzt beginnt die Zeit der endlosen Strandspaziergänge und des Schietwetters. Es gibt aber auch sonnige Tage, wo der Himmel so strahlend blau ist wie das Kliff bei Kampen rot. Dann bevölkern Heerscharen von Joggern und Spaziergängern den Strand zwischen Wenningstedt und Kampen.

Zugegeben, ein Spaziergang am Strand kann ganz schön anstrengend sein. Die Füße versinken im weichen Sand, irgendwie bläst immer Gegenwind - egal, in welche Richtung man geht. Unberechenbar züngeln die Wellen über den Strand und zwingen zum Zickzacklaufen. Das Gefühl, kaum voranzukommen, wird immer stärker. Schließlich findet man doch Schritt für Schritt seinen Rhythmus, die Gedanken sortieren sich, Ballast verschwindet, der Kopf wird frei und lässt der Seele freien Lauf. Die Luft schmeckt salzig, feucht und weich. Ein gesundes Reizklima zum Durchatmen mit vitalisierenden Aerosolen und viel frischer Luft, nachweislich unbelastet, dafür reich an Mineralien und Jod. Dazu ein Himmel wie gemalt mit eilig vorüberziehenden Wolkenformationen und ein Horizont, der ins Unendliche reicht.

Sylt ohne Schampus: Ist das nun Sommer oder doch Herbst auf Sylt? Das Spiel von Sonne und Wolken verwandelt die Insel unentwegt. Im Bild der Strand von Kampen.

Ist das nun Sommer oder doch Herbst auf Sylt? Das Spiel von Sonne und Wolken verwandelt die Insel unentwegt. Im Bild der Strand von Kampen.

(Foto: Imago)

Überall auf der Nordseeinsel gibt es Orte mit endlos weitem Blick übers Meer. Es gibt aber kaum einen besseren Platz, an dem man mit sich und der Natur so eins sein kann, als auf der Halbinsel Ellenbogen. Nirgendwo ist die Landschaft elementarer, die Wirkung von Sonne, Wind und Salz direkter. Abseits der Siedlungsgebiete führt ein holpriges schmales Asphaltband zum nördlichsten Punkt Deutschlands. Autofahrer werden zur Kasse gebeten, Fußgänger und Radfahrer zahlen nichts. In dem unter Naturschutz stehenden Paradies mit einsamen, naturbelassenen Stränden, geschützten Dünen und Heidelandschaften verliert sich im Herbst kaum eine Menschenseele. Dafür umso mehr kreischende Seevögel und blökende Schafe.

Die Einzigartigkeit der nördlichsten Insel Deutschlands liegt im Zusammenspiel der Kontraste. An der Westseite mehr als 40 Kilometer feiner Sandstrand, wogende See und bis zu drei Meter hohe Wellen, die sich am Ufer brechen, im Osten stilles Wattenmeer, urwüchsige Dünen, grüne Deiche, Kliffs und die letzten Wanderdünen an der deutschen Nordsee. Auf der "neuen" Straße von List ist ein Teil des größten Dünengebiets der Insel zu sehen. Und wenn es richtig weht, sieht man sie tatsächlich wandern. Jahrhundertelang bedrohten Sandverwehungen Sylt und begruben ganze Dörfer unter sich. Um dem entgegenzuwirken, wurden die Dünen im 18. Jahrhundert mit Strandhafer und Heidekraut bepflanzt. Einige Wanderdünen sind trotzdem geblieben. Sie ragen auffallend leuchtend aus den begrünten Flächen hervor und bewegen sich bis zu vier Metern pro Jahr. Ein unbeschreibliches Naturereignis, wenn man bedenkt, dass die größte Wanderdüne etwa einen Kilometer lang ist.

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Jeder zweite Quadratkilometer der nordfriesischen Insel steht unter besonderem Landschafts- und Naturschutz. Zu den bedeutendsten Naturdenkmälern der Welt gehört das Unesco-Weltnaturerbe Wattenmeer. Wie ein Spiegel so glatt, ruht es hinter der Braderuper Heide. Mit seiner reichen Artenvielfalt ist es einer der bedeutendsten Naturräume Deutschlands. Unzählige Vögel rasten, brüten, mausern oder überwintern hier im Laufe des Jahres. Viele Fischarten wie Scholle, Seezunge oder Hering haben im Wattenmeer ihre "Kinderstube". Wer gut zu Fuß ist, kann bis nach Keitum am Watt entlangwandern.

Inselkenner halten übrigens nicht Kampen, sondern Keitum für das schönste Dorf der Insel. Gemütlich kuscheln sich die weiß getünchten reetgedeckten Friesenhäuser in die Kissen aus Dünengras, haushohen Büschen und steinernen Friesenwällen. Dazwischen stolze Kapitänshäuser. Das Museum in dem altfriesischen Haus von Peter Uwen, der 1701 hier geboren wurde, erzählt von Zeiten, als die Sylter Seefahrer gefragte Kommandeure auf den Seglern im Atlantik waren.

Urlaubsinsel Sylt

Anreise: Mit Air Berlin (www.airberlin.com) oder Lufthansa (www.lufthansa.com) von München zwischen 200 und 300 Euro. Mit dem Autozug von Niebüll nach Westerland in 35 Minuten für 90 Euro. Mit der Fähre von Rømø nach List ab 70 Euro. Preise und Fahrpläne für den Shuttle (www.syltshuttle.de) und die Fähre (www.sylt-faehre.de) stehen im Internet. Die Fahrkarten können online gebucht werden.

Informationen: www.sylt.de

Rita Balon

Ein weiteres Stück Sylter Zeitgeschichte thront massiv und unverkennbar auf dem Rücken der Geest: die mehr als 800 Jahre alte Kirche St. Severin mit ihrem hölzernen Glockenturm. Nahezu jeden Mittwochabend finden dort Konzerte statt. Den Grundstein für diese Tradition legte der Keitumer Organist Wilhelm Borstelmann (1952-1992). Er lud regelmäßig Organisten und Musiker nach St. Severin ein. Damals wie heute sind die Musikaufführungen heiß begehrt und fast immer ausverkauft. Nur im Herbst steigen die Chancen, die eine oder andere Karte für ein Solokonzert des Kirchen-Organisten, für Kammermusik oder Chorkonzerte zu ergattern.

Eingefleischte Inselfans wissen das. Sie wissen auch, dass im Herbst auf der gesamten Insel Hotels, Ferienhäuser und -wohnungen zu viel günstigeren Konditionen als in der Sommersaison zu mieten sind. Auch der Ansturm um einen Platz in den Restaurants ist abgeebbt. Sogar in der legendären "Sansibar" ist es möglich, ohne Reservierung, spontan essen zu gehen - in der Hauptsaison ein Ding der Unmöglichkeit. Man kann zu dem Schickimicki-Image der Bretterbude Herbert Secklers stehen, wie man will: Die Lage auf einem Dünenkamm am Rantumer Strand mit Blick auf Sylter Wellen und in den Sonnenuntergang ist einfach genial. Außerdem müssen es nicht immer feine Edelfische oder zartes Deichlamm sein. Wetterfeste sitzen dick vermummt in Daunenjacke und Schal auf der Terrasse. Sie wärmen sich am Eiergrog oder an einer heißen Schokolade mit Rum und lassen sich eine Currywurst mit Pommes schmecken.

Vom Dünenkamm der "Sansibar" führt eine Holztreppe zum Strand. "Beaufsichtigter Badestrand" steht dort auf einem Schild. Wer will denn schon im Herbst baden - könnte man meinen und liegt völlig falsch. Mit hochgekrempelten Hosen und nackten Füßen waten Strandläufer durch die Wellen. Mutige - und das sind gar nicht so wenige - springen sogar ins Wasser. Selbst an Buhne 16, Sylts berühmtem FKK-Strand, sieht man im Oktober oder November nahtlos braune Hartgesottene, die sich mutig in die Brandung werfen. Auch das ist Sylt im Herbst.

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