Ungewöhnliche Stadtführung:London durch die Augen der Obdachlosen

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Seit 14 Jahren lebt Viv auf Londons Straßen. Auf ihrer Stadtführung erfahren Besucher alles über Sehenswürdigkeiten - und einiges über den Alltag der Obdachlosen. (Foto: Lena Jakat)

Somerset House, King's College und Covent Garden: Eine besondere Stadtführung durch London zeigt Besuchern bekannte Sehenswürdigkeiten aus einem anderen Blickwinkel - dem einer Obdachlosen.

Von Lena Jakat, London

Temple Park

"Da hinten habe ich zuletzt gewohnt." Viv zeigt durch die schmiedeeisernen Gitterstäbe in das Dunkel des Temple Parks in der Londoner City. Sie trägt eine Leggings mit pinkem Psychedelic-Print zu roten Stiefeln, gold-lila Fingernägel und eine bunte Strickmütze. Der Park ist an diesem klirrend kalten Winterabend schon geschlossen und so kann sie nur von Weitem auf ihre frühere Bleibe hinweisen: eine Parkbank.

Viv ist 56 Jahre alt, ohne festen Wohnsitz und Stadtführerin. Seit drei Jahren arbeitet sie für "Sockmob", eine Hilfsorganisation, die in der britischen Hauptstadt sogenannte "Unseen Tours" anbietet. Auf diesen "ungesehenen Routen" führen Obdachlose Touristen und Einheimische durch ihre Gegend. Jeder der sechs Stadtführer hat für sein Viertel eine eigene Tour entwickelt. Die Teilnehmer erfahren alles über die typischen Sehenswürdigkeiten - und einiges über das Leben auf der Straße.

Temple Place / Arundel Street

Auf der Covent-Garden-Tour referiert Viv erst einmal über den Orden der Tempelritter, der um die Ecke der U-Bahn-Station Temple im Mittelalter seinen Hauptsitz hatte. Sie erzählt von den großen Kreuzzügen und davon, wie die Ritter im 14. Jahrhundert den Juristen wichen, die bis heute in den ehrfurchteinflößenden Backsteinbauten des Viertels arbeiten. Dann zeigt sie mit ihrem knochigen Zeigefinger auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo ein paar teuer aussehende Motorräder parken. "Dort drüben fand früher die Essensausgabe für Obdachlose statt", sagt sie. In der Schlange traf Viv vor 13 Jahren ihren Partner. "Es ist sicherer, wenn man auf der Straße zu zweit ist."

Ihre Zuhörer - allesamt Mitarbeiterinnen einer städtischen Steuerbehörde - würden am liebsten sofort ihre komplette Lebensgeschichte erfahren. Doch Viv hält sich bedeckt und drängt darauf, weiterzugehen. Sie arbeitet sich sehr gewissenhaft durch das Programm der Tour, daran lässt sie keine Zweifel aufkommen. Zahlen und Namen sprudeln nur so aus ihr hervor. Sie berichtet von berühmten Absolventen des Kings' College und von Captain George Armstrong, Veteran und Zeitungsredakteur, der hier am Temple Place 1875 das erste Wartehäuschen für Taxifahrer aufstellen ließ. An einem stürmischen Winterabend hatte sein Bote zuvor stundenlang vergeblich nach einem Kutscher gesucht.

Geschichten wie diese erfüllen Viv augenscheinlich mit Stolz. "Die Leute erlangen dadurch ein ganz neues Selbstvertrauen", sagt Tisha Brown über die Touren. Eigentlich arbeitet sie in einer Anwaltskanzlei gleich um die Ecke. Die Sockmob-Touren begleitet sie als Ehrenamtliche. Viv und ihre Kollegen bekommen insgesamt 80 Prozent der Ticketpreise als Entlohnung. Der soziale Gewinn ist enorm: "Für sie ist der Job eine Chance, ein Anfang, um ihr Leben zu verändern", sagt Brown.

Hinterhof des King's College

Nächster Halt der Stadtführung: Das renommierte King's College. Das Tor zum Innenhof ist abgeschlossen. "So ein Mist, jetzt wollte ich euch das römische Bad zeigen", schimpft Viv. Doch plötzlich öffnet sich das Gitter und ein Mann schiebt sein Fahrrad auf die Straße. Die Stadtführerin schlüpft hinter ihm in den Hof und winkt der Gruppe aufgeregt, ihr zu folgen. Hinter einer beschlagenen Fensterscheibe lässt sich im Schummerlicht eine Art Ausgrabungsstätte erkennen. "Diesen Ort erwähnte schon Charles Dickens in seinem David Copperfield", erläutert Viv und spricht noch ein wenig über die Badehaustradition der alten Römer. Und schon geht es weiter, hopphopp, im Stechschritt, schließlich ist keine Zeit zu verlieren und der Winterabend ziemlich kalt.

Bei Somerset House eilen Menschen in Abendgarderobe an den Tour-Teilnehmern vorbei. Die Herren tragen Smoking, die Damen spitz zulaufende Stöckelschuhe. Kurz bleibt ihr Blick an der seltsamen Gruppe haften: junge Frauen in Bürokleidung, die gebannt der Frau im quietschbunten Outfit lauschen.

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Waterloo Bridge

"Da drüben hatte ich meinen bash, bevor ich in den Park zog", erzählt Viv unter der Waterloo Bridge - "die übrigens von 1811 an gegen den erbitterten Widerstand der Fährmänner auf der Themse gebaut wurde." Ein bash ist eine improvisierte Hütte aus Holzpaletten, Kartons oder Papier. Was eben gerade so zu finden ist. "Man konnte darin nicht stehen, aber zwei fanden bequem Platz zum Sitzen." Ihr Nachbar habe in seinem bash sogar eine eigene Ecke zum Kochen gehabt, sagt sie. "Insgesamt standen da sechs Häuser, ein richtiges kleines Dorf." Bis die Wochenend-Partys ausuferten und die Polizei das Lager räumte.

Seit knapp 14 Jahren ist Viv, die ursprünglich aus Norwegen nach Großbritannien kam, obdachlos. Ihre Ehe war nach 26 Jahren in die Brüche gegangen, das Schicksal spülte sie auf die Straße. Von der Lebenswirklichkeit ihrer Stadtführerin erfahren die Zuhörerinnen in den eindreiviertel Stunden der Führung nur nebenbei.

"In der Gruppe fühlt man sich sicher", sagt Viv. Deswegen übernachtete sie früher bisweilen unter den Torbögen des Shell-Mex-Hauses. (Foto: Lena Jakat)

Shell-Mex-Haus

Von der Bedeutung des Shell-Mex-Hauses etwa, dem imposanten früheren Hauptgebäude von Shell und BP mit der weithin sichtbaren Turmuhr: In dessen Arkaden, erzählt Viv, "konnte man immer schlafen, wenn man keinen anderen Platz fand." Unter den Torbögen des 30er-Jahre Baus hätten zeitweise bis zu 200 Menschen übernachtet, berichtet sie. "Wir haben alle zusammen gehalten." Als einmal ein paar Betrunkene versuchten, dort eine alte Frau mit Feuerzeugbenzin zu übergießen und anzuzünden, seien die anderen aufgewacht und hätten die Eindringlinge vertrieben. "In der Gruppe fühlt man sich sicher."

Doch offenbar fühlten sich die Eigentümer der Immobilie mit den Gästen vor der eigenen Haustür nicht mehr sicher: Heute sperren nachts dicke Eisengitter alle Passanten aus. Überhaupt bekommen die Teilnehmer der Stadtführung im Verlauf der Tour den Eindruck, dass es für Obdachlose zunehmend schwierig wird, einen halbwegs geschützten Platz für die Nacht zu finden.

The Coal Hole

"Man sieht zwar ständig Obdachlose, aber über all diese Dinge erfährt man sonst nichts", sagt Lauren Traver, eine Teilnehmerin der Stadtführung. Ein paar Schritte von der Themse entfernt, hinter dem weltberühmten Savoy-Hotel und unweit der Theater von Londons Westend, stehen trotz der Temperaturen um den Gefrierpunkt Männer mit Biergläsern vor einem Pub. "The Coal Hole" steht auf einem verschnörkelten schmiedeeisernen Schild über ihren Köpfen. "Hier hat Richard Harris den ein oder anderen Drink zu sich genommen", sagt Viv und klingt dabei, als wäre sie ziemlich stolz auf dieses Wissen über den 2002 verstorbenen Albus-Dumbledore-Darsteller aus den Harry-Potter-Verfilmungen. "Ich habe ihn hier öfter getroffen und er hat mir schon einmal einen 20-Pfund-Schein zugesteckt."

Auf den Steinstufen, die hinter diesen Gittern zu den Kellern von Covent Garden führen, schlug Viv ihr erstes Lager auf, als sie vor 14 Jahren auf der Straße landete. (Foto: Lena Jakat)

Covent Garden

Derzeit sei sie Sofa Surfer, erzählt Viv mitten im Trubel Covent Gardens - dem nächsten Stopp. Eine sehr labile Wohnsituation: Sie schläft mal bei diesem, mal bei jenem Bekannten. Sofa Surfing gilt als versteckte Obdachlosigkeit. Auf den Steinstufen, die zu den Kellern der alten Markthallen im Touristenzentrum führen, schlug sie vor etlichen Jahren ihr erstes Lager auf. Ihr Sohn studiere Ingenieurwesen. Auch zu ihrer erwachsenen Tochter, sagt Viv noch en passant, "habe ich immer den Kontakt gehalten". Doch bevor noch mehr Fragen zu ihrem Familienleben aufkommen können, ist die Tour beendet und die Stadtführerin im Dunkeln verschwunden. Heute Nacht muss sie zumindest nicht fürchten, auf den kalten Steintreppen von Covent Garden zu erfrieren.

Die Organisation Sockmob bietet ihre "Unseen Tours" in den Vierteln London Bridge, Shoreditch, Covent Garden und Brick Lane an. Sie finden jeden Samstag und Sonntag um 15 Uhr statt, Freitagabends auf Anfrage. Tickets kosten zehn Pfund (etwa zwölf Euro).

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