St. Anton am Arlberg:Das Leben ist ein Tiefschneehang

Wenn das Streben nach Freiheit zum Zwang wird: Ein Besuch in St. Anton, wo etwa hundert junge Leute nur fürs Skifahren leben und arbeiten.

Marc Baumann

Was will ihm die Lawine sagen? Karlushka Zelewitz, halblange Haare, Sonnenbrille, sitzt am Esstisch seiner WG und ist müde und aufgekratzt zugleich. Einerseits möchte er alles hinwerfen, andererseits genau so weitermachen. Sein Kopf brummt. Es wird Abend in St. Anton, ein schlimmer Tag geht zu Ende für den 27-jährigen Südafrikaner.

Früh am Morgen waren sie zum Skifahren aufgebrochen, wie immer bei Neuschnee, es ging ins freie Gelände. Sein schwedischer Freund Max und er standen oben am Hang, die anderen hatten bereits ihre Spuren durch den frischen Tiefschnee gezogen. Max war der nächste, mit den Stöcken stieß er sich ab, dann hörten sie das Schneebrett knacken, das Max fast 500 Meter weit mit sich riss, allein 150 Meter davon über Felsen. "So etwas habe ich noch nie gesehen, er hätte sich eigentlich das Genick brechen müssen", sagt Karlushka und ringt um Fassung, "das heute war ein Weckruf."

Was also will ihm die Lawine sagen? Dass er sein Leben als Ski Bum beenden soll - oder das Gegenteil, dass er jede Sekunde davon noch mehr genießen muss?

Ski Bum ist ein Begriff aus dem Englischen, wo bum so viel wie Vagabund bedeutet, genau genommen auch Penner. Aber so herablassend ist es nicht gemeint. Ski Bums sind junge Leute, die einige Jahre nur für das Skifahren und Snowboarden leben. Den Winter verbringen sie in einem Skigebiet, finanziert durch Nebenjobs in Restaurants, Bars oder Sportgeschäften. Gewöhnliche Winterurlauber und Ski Bums begegnen sich höchstens im Lift.

Oben angekommen, fährt der Tourist die Piste hinunter. Der Ski Bum schnallt ab und läuft ins Gelände. Mittags in der Skihütte einzukehren und zu essen ist Ski Bums zu teuer und zu zeitaufwendig. Sie nehmen belegte Brote mit, eine Thermoskanne mit Tee und fahren vier, fünf Stunden am Stück.

Dieses Leben, von dem Karlushka schwärmt, klingt wie eine Mischung aus Erasmus-Semester und Skifreizeit. Aber für ihn ist es mehr, ein Lebensentwurf: Er wacht früh auf, neben seiner Freundin, einer Gleichgesinnten. Danach verabreden sie sich mit Freunden für eine bestimmte Route am Berg. Nach dem Skifahren erzählt man sich bei einer heißen Schokolade die besten und wohl auch halsbrecherischsten Tiefschnee-Abfahrten, dann geht Karlushka zur Arbeit in der Küche des Restaurants Pomodoro.

Das Personal dort besteht größtenteils aus Freunden. Beim Pizzabacken besprechen sie, in welche Bar sie abends wollen - Tanzen, Flirten, Feiern, dazu Bier und Jägermeister. "Das ist der ideale Tag", sagt Karlushka, "jeden Tag aufs Neue." Wie perfekt es wird, das hängt zu einem Teil auch immer vom Himmel ab.

"Gierig nach dem Gefühl"

"Normalerweise sind in einer Saison 20 bis 25 Skitage richtig gut, perfekt sind fünf bis sieben, mit einem halben Meter frischem Pulverschnee und blauem Himmel", sagt Karlushka. Wer ihm zuhört, hat das Gefühl, allein das Schwärmen über Tiefschneeabfahrten sei schon ein Sport für sich.

"Man wird gierig nach dem Gefühl", sagt Liz Hutt, mit 34 Jahren eine Seniorin unter den Ski Bums in St. Anton. Zu der Australierin passt der Begriff Bum nicht mehr so recht. Liz arbeitet 40 Stunden in der Woche in einem Sportgeschäft und hat eine kleine Wohnung. Eine Ski Bum über 30 habe es nicht leicht, erzählt sie. Man müsse sich ständig dafür rechtfertigen, sein Leben verteidigen, auch vor sich selbst. "Ich denke natürlich darüber nach, ob ich eine Familie will und einen festen Wohnort."

Manchmal sei es hart, alle sechs Monate die Koffer zu packen. Wenn die Saison im Frühling in St. Anton endet, arbeitet sie in einem Skigebiet in Australien. "Aber ein Nine-to-five-Job wäre nichts für mich. Ich muss in den Bergen sein, im Schnee, immer, ich kann nicht anders."

Arbeiten, um zu leben, nicht leben, um zu arbeiten. Das ist es, das große Ski-Bum-Mantra, ihr Glaubensbekenntnis gegen den Bürojob, gegen die Alltagstristesse und natürlich auch gegen die Norm. Grob geschätzt gibt es allein in St.Anton hundert Ski Bums. Das Skigebiet mit seinen vielen Geländeabfahrten abseits der Pisten zählt zu den vielfältigsten der Alpen und ist selbst für Könner eine Herausforderung.

Auch die Dauerparty-Stimmung zieht die jungen Tiefschneeschwärmer bereits seit Jahrzehnten an. Auffallend viele kommen wie Liz Hutt aus Australien, es gibt zahlreiche Neuseeländer, Briten, Skandinavier. Deutsche Ski Bums gäbe es hingegen kaum, sagt Liz, weder in St.Anton noch in anderen Skigebieten, in denen sie war. Für Liz selbst ist es die 14. Saison, die fünfte in St. Anton.

Trotz der vielen Jahre: Richtig heimisch geworden ist Liz hier nicht. Es gibt Ski Bums, die seit mehr als einem Jahrzehnt den Winter in St. Anton verbringen, aber das Gefühl, ein Fremder zu sein, bleibt. "Skibämserl", wie die Österreicher sie nennen, sind nicht bei allen beliebt.

Letzte und laute Rebellion

"Es gibt sicher Einheimische, die sich über Ski Bums beschweren, weil sie angeblich zu laut feiern", sagt Wilma Himmelfreundpointner vom Tourismusverband in St.Anton. Denn anders als Liz kommen viele Ski Bums nur für eine Saison. Ein Winter Auszeit vor dem Studium oder vor dem Berufseinstieg. Eine kurze, letzte und manchmal laute Rebellion mit Partys und Bierflaschen.

"Aber ohne uns wäre hier nicht so viel Tourismus möglich", sagt Liz, "Ski Bums schaufeln den Schnee, backen die Pizza, putzen die Hotels." Sie fühlt sich verletzt, wenn Einheimische sie behandeln, als ob sie unverantwortliche Teenager wären. Ein Vermieter habe heimlich ihre Wohnung kontrolliert, "als ob ich alles verwüsten würde." Himmelfreundpointner nimmt die Ski Bums in Schutz. Bei ihrer PR-Arbeit für St.Anton im Ausland treffe sie immer wieder seriöse Geschäftspartner, die ihr vorschwärmen, wie sie vor 25 Jahren als Ski Bum in St.Anton waren. "Solche Leute machen die beste Werbung für uns", sagt sie.

Von seriös ist der 21-jährige Schotte Chris Russel noch weit entfernt. Einer wie er feiert und fährt wirklich jeden Tag - und springt gerne auf dem Snowboard mit 720-Grad-Drehungen über große Rampen, was bei ihm so leicht aussieht, dass man beinahe den Fehler macht, es selber zu probieren. Karlushka dagegen ist wählerischer geworden mit der Zeit. Schlechte Tage, also vereiste Pisten und Schneetreiben, spart er sich. Acht Monate im Jahr ist er mit seiner Freundin in St. Anton, vier Monate reisen sie als Backpacker durch Asien.

Es ist ein Traum - der sich wohl dem Ende nähert. Seine Freundin will ihren Universitätsabschluss machen, das kleine Zimmer ist auf Dauer keine Lösung zu zweit. "Wir können nicht für immer so leben", sagt Karlushka. Er hätte aber "definitiv" nichts anderes machen wollen in den vergangenen Jahren.

Es wird dunkel draußen, Karlushka muss später im Pomodoro arbeiten. Eins noch, er könne sich schon vorstellen, in London zu leben, viel Cricket oder Golf zu spielen, und nur im Urlaub Ski zu fahren. Ein abgeschlossenes Wirtschaftsstudium hat er bereits. Und hier am Arlberg bleiben, eine Familie gründen? "Sicher nicht." Vorerst wird er weitermachen.

Er verabschiedet sich, "ich muss ins Krankenhaus, zu Max, er hatte Glück, nur ein gebrochenes Bein."

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