Spanien:Viel zu Thun

Jedes Frühjahr drängen die riesigen Fische zu Tausenden durch die Meerenge von Gibraltar. Dann dreht sich an Andalusiens Küste alles um die Jagd, bei der die Fischer auf Methoden setzen, die es schon seit Jahrhunderten gibt.

Von Mirco Lomoth

Hier treffen sie sich, bevor die Ebbe beginnt und sie hinausfahren, um den Roten Thun zu holen. Antonio Rechie sitzt im Schatten neben der Tür zum Gastraum der Taberna de Abelardo in Barbate und dreht sich eine Zigarette. Sein Gesicht ist dunkelrot-braun gebrannt, seine Augen glänzen, als hätten sie über die Jahre all das Sonnenlicht aufgesogen, das die Wellen im Golf von Cádiz zurückwerfen. 136 Rote Thuns haben sie an diesem Morgen aus den Netzen geholt, morgen früh werden es ähnlich viele sein.

Zu Tausenden schießen die silberblauen Fische jetzt im Frühjahr wie Torpedos durch die Meerenge von Gibraltar, vollgefressen und mit nur einem Ziel: im warmen Wasser des Mittelmeers zu laichen. Seit Jahrhunderten stellen die Menschen ihnen an der andalusischen Küste nach. Wo sich das Meer wie ein Trichter auf bis zu 14 Kilometer verengt, verankern sie ein kompliziertes Labyrinth aus Netzen, um sie abzufangen. Almadraba heißt die Fangtechnik, die heute noch an vier Orten an der Atlantikküste Andalusiens fortlebt - in Tarifa, Zahara de los Atunes, Conil de la Frontera und Barbate, dem Zentrum der andalusischen Thunfischindustrie.

Cádiz

Schmackhafter Riese: Der Rote Thun, auch Blauflossen-Thunfisch genannt, wird bis zu viereinhalb Meter lang und kann 650 Kilo wiegen.

(Foto: Mirco Lomoth)

Wenn Ende April die Tage wärmer werden und der Levante stärker zu blasen beginnt, dreht sich in Barbate alles um den Roten Thun. Dann liegt das tiefrote Fleisch, das für die Barbateños zum Frühling gehört wie Sonne und Wind, wieder auf den Verkaufstresen der Markthalle. Dann bieten die Restaurants der Stadt für ein paar Wochen Gerichte mit fangfrischem Almadraba-Thun an. Dann kommen Touristen, vor allem Spanier aus dem Inland, um an der Strandpromenade die ersten Frühlingssonnenstrahlen einzusammeln und stundenlang in den Restaurants zu sitzen. Sie bestellen den Almadraba-Thun als Gulasch mit Zwiebeln, als Steak mit Olivenöl und Salz, außen kross und innen roh, geräuchert, geschmort oder salzgetrocknet, eingelegt, als Tatar, Carpaccio oder Sashimi. Wer sich auskennt, verlangt Nacken, Rogen, Herz oder Bauch.

"Es ist immer wieder aufregend, wenn wir das Netz hochziehen, die Thunfische springen und das Wasser zu kochen beginnt", erzählt Antonio Rechie, der schon seit 36 Jahren als Almadrabero arbeitet, wie sein Vater vor ihm. Er greift zu einer Serviette und zeichnet auf, wie die Fangtechnik funktioniert. "Ein langes Netz führt von der Küste ins Meer und leitet die Fische in ein Labyrinth aus Netzkammern, aus dem sie nicht mehr entkommen", sagt er und kritzelt vier Rechtecke ans Ende einer Linie. Das letzte, sagt er, das ist der Copo - die Falle. Die Almadraberos ziehen dieses Netz vom Schiff aus mit Haken und bloßen Händen hoch, bis die Fische kaum noch Wasser unter den Bäuchen haben. "Früher sind wir zu ihnen ins Wasser gestiegen und haben sie mit Haken an Deck gezogen." Dieses blutige Ritual, bei denen immer wieder auch Almadraberos verletzt wurden, hat der Almadraba ihren arabischen Namen gegeben: Platz des Kampfes. Heute, erzählt Antonio Rechie, gehe alles zivilisierter zu, Taucher töten die Thunfische gezielt, damit sie weniger leiden. Und nachhaltig sei die Almadraba schon immer gewesen, weil sie den Thunfisch nicht verfolgt, wie es die industriellen Fangflotten tun. Der Kellner bringt gebratene Thunfischherzen. Sie schmecken ein wenig wie Leber. "Und, wie ist es?", fragt er schon nach dem ersten Bissen. "Wir sagen hier: Wer Thunfischherz mag, liebt auch Barbate."

Die Männer, die den Thunfisch zerlegen, heißen Schnarcher. So klingt das Messer auf den Gräten

Für die Hafenstadt ist der Thunfisch zu einer touristischen Marke geworden, die auch weiterwirkt, wenn im Juni die letzten Schwärme des Roten Thuns das Mittelmeer erreicht haben. Wer an der Costa de la Luz Urlaub macht, in Conil de la Frontera das Strandleben genießt und durch die steilen Gassen des weißen Dorfs Vejer de la Frontera spaziert, kommt in das industriell geprägte und wenig charmante Barbate nur, um Thunfisch zu essen - meist jedoch nicht den teuren Almadraba-Thun, sondern den günstigeren Gelbflossenthunfisch oder den thunfischverwandten Bonito. Und er kommt nach Barbate, um etwas über die traditionelle Fangmethode der Almadraba zu erfahren. Man kann bei einer Bootstour auf dem Meer die Almadraba-Netze sehen und mit etwas Glück auch die Almadraberos bei der Arbeit, oder das Thunfischmuseum am Rande der Stadt besuchen, das eine der Fischfabriken unterhält. Dort läuft man durch eine Unterwasserwelt aus bemaltem Bauschaum, in der echte Netze und lebensgroße Fischmodelle hängen, und darf zuschauen, wie ein Ronqueador - ein "Schnarcher" - einen 60-Kilo-Gelbflossenthunfisch zerlegt. Den eigentümlichen Namen haben die Thunfischzerteiler von dem Schnarchgeräusch, das entsteht, wenn ihre Messer über die Gräten des Thunfischs fahren. Es ist ein blutiges Schauspiel.

Cádiz

Die Köche im Restaurant El Campero bereiten sein Fleisch in mehr als 40 Varianten zu.

(Foto: Mirco Lomoth)

Im Sporthafen von Barbate grüßt Manuel Sánchez, ein stämmiger Mann mit einem Vollbart, der ihm bis auf die Brust reicht. Sein Vater steuert das Motorboot aus dem Hafen in die Wellentäler des offenen Meeres. Die Almadraba von Barbate liegt wie ein abstraktes Gemälde auf dem dunkelblau-grünen Wasser - eine lange Linie aus weißen, gelben und orangenfarbenen Bojen, die zu einem wirren Bojenlabyrinth führt, das etwa einen Kilometer vor der Küste liegt. Weit im Westen erhebt sich die mit Pinien bestandene Steilküste von Barbate, dahinter steht der weiße Leuchtturm von Trafalgar im Dunst der Brandung, wo die Royal Navy 1805 die stolze französisch-spanische Armada vernichtend besiegte. "Darüber sprechen wir nicht gerne", sagt Manuel Sánchez augenzwinkernd. Stattdessen spricht er über die Geschichte der Almadraba, dass die Phönizier vor etwa 3000 Jahren ihre Vorform erfanden, die Römer und Araber sie weiterentwickelten und schließlich die spanischen Herzöge von Medina Sidonia sie übernahmen.

1928 wurde ein nationales Almadraba-Konsortium geschaffen, das sich um Fang, Verarbeitung und Verkauf der Thunfische kümmerte. "Heute sind es wenige Privatunternehmen mit staatlichen Konzessionen", sagt Manuel Sánchez. Ein Thunfisch springt aus dem Wasser, aufgeschreckt vom Motorengeräusch, sein massiger Körper peitscht Gischt auf. Hinter den Bojen treibt ein Schiff in den Wogen, ein Seemann steht an Deck und raucht. "Vier Männer passen hier rund um die Uhr auf, dass niemand die Thunfische klaut oder mit Booten in die Netze gerät", sagt Manuel Sánchez. "Und sie schrecken Orcas ab, die es auf die Thunfische abgesehen haben."

Umweltschützer heißen die Fangmethode gut. Sie richte vergleichsweise wenig Schaden an

926 Tonnen Roten Thun durften die vier andalusischen Almadrabas im vergangenen Jahr fischen, staatliche Inspektoren überprüfen jeden Fang. Der Rote Thun, Thunnus thynnus, auch Atlantischer Blauflossenthun genannt, gilt laut Weltnaturschutzunion noch immer als gefährdet, auch wenn die Bestände aufgrund kontrollierter Fangquoten wieder gewachsen sind. "Es deutet alles darauf hin, dass der Rote Thun sich in den letzten Jahren sogar komplett erholt hat, die endgültigen Zahlen dazu werden im Oktober vorliegen", sagt Raúl García, Fischereiexperte des World Wide Fund For Nature (WWF) in Spanien. Spanischen Verbrauchern empfiehlt der WWF sogar den Verzehr von Rotem Thun aus der Almadraba - im Gegensatz zu Fängen aus der industriellen Ringwaden- oder Langleinenfischerei. "Wir wollen keine Werbung machen, aber die Almadraba ist eine Methode des Fischfangs, die nur wenig Schaden anrichtet." So würden durch die statischen Netze immer nur ein Teil des Thunfischzüge abgefangen und aufgrund großer Maschen nur solche Exemplare auf ihrem Weg ins Mittelmeer aufhalten, die mehr als 150 Kilo wiegen und mehrmals gelaicht haben. "Auch der Beifang ist gering, und wenn sich mal ein Delfin oder ein Schwertfisch in die Netze verirrt, kann er in der Regel befreit werden."

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Oberhalb von Zahara de los Atunes geht Touristenführer Javier Goyenche voran auf einem Felsvorsprung, der zwischen Luxusvillen hoch über dem Meer liegt. Eine kleine Höhle öffnet sich im Sandstein, ihre Wände sind bemalt mit roten Punkten, Menschen, Tieren, einem Boot und einem Symbol, das der Schwanzflosse eines Orcas ähnelt. "Das dort ist ein Thunfisch", sagt Javier Goyenche und zeigt auf einen Fischkörper, der kopfüber auf den Felsen gemalt ist. "Vermutlich saßen hier vor 5000 Jahren schon Menschen und haben im Frühjahr darauf gewartet, dass die Orcas an die Küste kamen, um Thunfische zu jagen." Um die Tagundnachtgleiche zu markieren, das Datum, an dem der Thunfischzug beginnt, haben sie eine Scharte ins Gestein gehauen, durch die das Licht der untergehenden Sonne auf Symbole am Felsen fällt.

Keine fünf Kilometer südöstlich, in der Bucht von Bolonia, deren gelber Sandstrand zu einer 30 Meter hohen Düne ansteigt, haben Archäologen Steinbecken römischer Fischfabriken freigelegt, von denen vor 2000 Jahren bereits der griechische Geschichtsschreiber Strabon berichtete. Um die 4000 Menschen lebten hier damals in der Hafenstadt Baelo Claudia, die Reste eines großen Amphitheaters, mehrerer Tempel, Aquädukte und Straßen sind bis heute erhalten, im Museum liegen Fischernetznadeln aus Bronze und ringförmige Netzgewichte aus Keramik. "Die Arbeiter haben den Thunfisch in den Becken Schicht für Schicht in Salz eingelegt, um ihn haltbar zu machen, und eine Würzpaste mit dem Namen Garum hergestellt, die aus Thunfischblut, Innereien, Gewürzen und Salz bestand", sagt Javier Goyenche. Die fermentierte Thunfischpaste aus Baelo Claudia war eine beliebte Delikatesse im gesamten Römischen Reich, in Amphoren wurde bis nach Germanien exportiert.

Spanien: Für den fangfrischen Almadraba-Thun im El Campero kommen die Leute bis aus Madrid.

Für den fangfrischen Almadraba-Thun im El Campero kommen die Leute bis aus Madrid.

(Foto: Miquel Gonzalez/laif)

Ähnlich wie in Römischer Zeit, landete das Fleisch des Almadraba-Thuns bis in die Achtzigerjahre vor allem in Konserven. Doch dann kamen Koreaner und Japaner und kauften nahezu den gesamten Fang auf. Seither werden die meisten Thunfische tiefgekühlt nach Ostasien exportiert. "Der Marktwert stieg enorm, weil die Japaner den Almadraba-Thunfisch wegen seines Fettgehalts als einen der besten der Welt einstuften", erzählt José Melero, der so etwas wie der kulinarische Guru des Roten Thuns von Barbate ist. In seinem Restaurant El Campero, in einer unscheinbaren Seitenstraße von Barbate, ist zur Mittagszeit jeder Platz besetzt, manche seiner Gäste kommen nur für den Tag aus Madrid, um bei ihm fangfrischen Almadraba-Thun zu essen.

Der Bauch mit wildem Spargel, der Kiefer mit Chili: Die Köche hier experimentieren gern

Vor fast 40 Jahren hat er ein kleines Lokal von seinem Vater übernommen und begonnen, Stücke vom Almadraba-Thun anzubieten, die vorher in der Gastronomie nicht genutzt wurden - Herz, Nacken oder Bäckchen etwa. "Es gab so viel Thunfisch, dass Kopf und Schwanzflosse ganz abgeschnitten wurden und die Fischer sie mit nach Hause nahmen. Damals haben nur die Hausfrauen den kulinarischen Wert erkannt", erzählt Melero. "Als dann die Japaner kamen, brachten sie auf ihren Schiffen Köche mit, von denen wir uns viele Zubereitungstechniken abgeschaut haben."

Nach und nach ist Meleros Restaurant zu einer Thunfisch-Instanz in der spanischen Gastronomie aufgestiegen und hat Barbate auf die kulinarische und damit auch touristische Landkarte geholt. Auf der Speisekarte im El Campero stehen heute mehr als 40 Thunfisch-Gerichte und -Tapas, von Thunfischrogen-Lollis bis zu gebratener Parpatana, einem fettigen Stück vom unteren Kiefer, mit gelbem Chili und Maistortilla; oder Ventresca, Thunfischbauch, mit wildem Spargel und einer Soße aus Senf und Miso. Meleros Köche arbeiten mit 25 unterschiedlichen Stücken, ein Experimentier-Team sucht ständig nach neuen Zubereitungsweisen und Kombinationen. José Melero gerät ins Schwärmen, wenn er über den Thun der Almadraba spricht. "Es ist ein magisches Tier, dass glücklich, fett und heißblütig hier ankommt, angezogen vom Liebesgesang des Mittelmeeres." Dann erzählt auch er, wie nachhaltig die Almadraba sei. "Gott sei Dank sind die Zeiten vorbei, in denen der Rote Thun ungebremst gefischt wurde."

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