Sommertrend in Barcelona:Schluck zum Sonntag

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Cafés und Restaurants an der Placa Reial in Barcelona - Wermut etabliert sich inzwischen auch jenseits der alten Kneipen. (Foto: JackF - Fotolia)

Wermut ist das Getränk des Sommers in Barcelona. Die Einheimischen genießen ihn schon am Morgen in einer der Bars und verbummeln dann den Tag. Das einstige Arme-Leute-Getränk hilft ihnen, kurz die Krise auszublenden - doch schon wird auch dieses Ritual schicker und teurer.

Von Brigitte Kramer, Barcelona

Es ist Sonntagmittag, deshalb fahren auf der Diagonal ausnahmsweise mal wenig Autos. An der Kreuzung mit der Passeig de Gràcia laufen Touristen vorbei und ältere, elegante Ehepaare. Die einen suchen Gaudís berühmte Wohnhäuser, die anderen flanieren. Stefania Talento und Andreu Font, beide um die 30, leben hier, im Gràcia-Viertel. Sie haben keine Kinder, wohnen in einer niedlichen Dachwohnung und erledigen von Montag bis Freitag eher unbefriedigende Bürojobs. Umso wichtiger ist das Wochenende. Stefania trägt ein schwarzes Haarband mit Schleife, die Augen leicht geschminkt. Andreus Augen sind hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Das gelockte, dunkle Haar ist leicht gegelt. Frisch geduscht sehen die beiden aus und doch noch nicht ganz wach.

Doch die beste Zeit ist jetzt, am Ende des Vormittags. "Fem un vermut?", fragt Andreu. Ja, warum nicht einen Wermutwein trinken? Wer mit einem hochprozentigen, süßen Kräuterwein den Sonntag einläutet, der hat sich entschieden, ihn zu vertrödeln. Wermut, Vermouth, Vermut oder Vermú, wie auch immer. Vielleicht liegt es an den bis zu 22 Volumenprozent Alkohol, vielleicht am karamellisierten Zucker oder an der krampflösenden, verdauungsfördernden Wirkung des Wermutkrautes; vielleicht aber auch am Plaudern, Schnabulieren und Nippen, das zum Ritual gehört. Wie auch immer, "Fer un vermut" entspannt nachhaltig.

Entspannung ist in Spanien wichtig. Und weil sich Barcelona spätestens seit den Olympischen Spielen von 1992 als Trendsetter fühlt, wird das Ritual hier besonders gründlich inszeniert. Wiederentdecker des alten Brauchs sollen die "Mileuristas" sein, jene jungen, gebildeten Spanier, die mit höchstens tausend Euro im Monat den Alltag meistern müssen. Das Geld wurde nach dem Krisenjahr 2008 immer weniger und Barcelona immer teurer. Also kehrte man wieder in jene Alte-Leute-Schenken ein, in denen es noch Wein vom Fass gibt, Tresen und Wandfliesen von einem dubiosen Belag überzogen sind und zu jedem Schoppen Likörwein kostenlos Chips, Oliven oder Sardellen serviert werden.

(Foto: N/A)

Wermut hilft bei Gemütsverstimmung, das soll schon Hippokrates gewusst haben. Ein Gläschen kostet im Normalfall nicht mehr als einen Euro fünfzig, und nach zweien hat man sowieso genug. Wer mehr trinkt, wird den Sonntag wohl eher verschlafen. Mit zwei Gläsern Wermut kann man also chronische Geldnot und Perspektivlosigkeit ausblenden, die montags bis freitags das Lebensgefühl dämpfen. Daran hat sich für viele Bewohner Barcelonas in den vergangenen sechs Jahren kaum etwas geändert. Aber das Wermuttrinken hat sich etabliert, auch jenseits der alten Kneipen. Schon wird der Trend schick. Albert Adrià, der jüngere Bruder des Sternekochs Ferran Adrià, hat vergangenes Jahr eine Vermutería eröffnet, sie heißt 1900 und ist den meisten Städtern zu teuer.

Mittlerweile auch in schick, aber vielen zu teuer

Stefania und Andreu kehren dort nie ein, nicht nur wegen der Preise. Es ist eine Frage des Stils. Wermut ist und war ein Arme-Leute-Getränk. Deshalb nehmen sie ihren ersten Aperitif in der Bar Quimet, einem etwas ranzig wirkenden Lokal mit viel dunklem Holz. An den Wänden sind Fässer und Flaschen. Hier ist es um diese Zeit rappelvoll. Es ist so laut, dass man sich nicht unterhalten kann. Ein Tellerchen mit kleinen und großen, dunklen und grünen Oliven macht die Runde, während der Kellner die Gläser zu drei Vierteln mit rötlich-braunem Wermutwein füllt. Aufgefüllt wird zischend mit Soda aus der Siphonflasche. Der erste Schluck ist prickelnd, süß-herb, frisch. Andreu erzählt von seiner katalanischen Oma - die andere war Portugiesin -, die beim Wermut ihren späteren Ehemann kennenlernte. "Damals ging man nach der Sonntagsmesse einen Aperitif trinken, manchmal tanzte man sogar. Danach war Familienessen angesagt." Und auch Stefania Talento, die aus Sizilien stammt, kennt den Wermut von zu Hause. Er ist europäisches Kulturgut.

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Der Wermut trägt einen germanischen Namen, der das Kraut Artemisia absinthium benennt, das am besten in gemäßigten Klimazonen gedeiht. Hildegard von Bingen, Pfarrer Kneipp, Maria Treben und andere Kräuterkundler mischten ihn in Tinkturen und Tees, die mal gegen Menstruationsbeschwerden, mal zur Leberreinigung und mal bei Schwermut helfen sollten. Das Kraut ist der Inbegriff von Bitterkeit und enthält Thujon, das berüchtigte Nervengift, das manchen Absinth-Trinkern zum Verhängnis geworden sein soll. Im Wermutwein steckt es auch, neben Enzian, Zimt, Pomeranzen oder Nelken. Was genau drin ist, das verrät kaum eine Bodega. Bei den niedrigen Preisen solle man sich aber keine großen Illusionen von handgepflückten, lange in Wein mazerierten Kräutern machen, sagt Andreu Font. "Künstliche Aromen und pulverisierte Mischungen", vermutet er, "die dann mit Weißwein und Zucker verrührt werden."

In Katalonien ist das Gemisch dennoch Kult, es wird als fester Bestandteil regionaler Identität gehandelt. In Tarragona, einer Stadt südlich von Barcelona, wo die meisten der etwa 25 spanischen Wermutwein-Bodegas sind, serviert man das Getränk mittlerweile bei Massenveranstaltungen.

Stefania Talento lächelt leicht, greift sich eine Olive, nimmt einen Schluck und erzählt die wohl einzig wahre Geschichte, jene des Italieners Flaminio Mezzalama, der Ende des 19. Jahrhunderts in Barcelona von Bord eines Schiffes ging, um die Getränkemarke "Martini & Rossi" zu vertreiben. Der Handelsvertreter aus dem Piemont hatte in Spanien Erfolg, vor allem bei Arbeitern. Im Gràcia-Viertel konnte man in den Straßen rund um die Textilfabrik Vapor Nou bald einen Wermut zu sich nehmen. Mezzalama eröffnete dann selbst eine Bar, wo er seinen eigenen Wein Marke Torino ausschenkte. 1892 musste er laut historischen Zeitungsberichten Fälscher vor Gericht verklagen und 1916 suchte er Vertreter für ganz Spanien, "wo tausend solvente, etablierte Kunden" betreut werden mussten.

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"In Italien hat sich zwar das Ritual des Aperitif-Trinkens erhalten", erzählt Stefania Talento, "aber eher mit einem Spritz, einem Aperol oder einer Cola." Der führende Konzern Bacardi-Martini bewirbt das Getränk verstärkt als Aperitif mit glamourösem Lebensgefühl, in Spanien steht das Getränk dagegen für Kindheitserinnerungen an entspannte Momente am Sonntag mit ansonsten hart arbeitenden Vätern.

Teilnehmen am alltäglichen Leben der Städter

Albert Adrià, geboren 1969, erinnert sich in seiner Vermutería, wie er sonntags seinem älteren Bruder Ferran beim Fußball zugesehen und danach mit dem Vater einen Aperitif getrunken hat, "er einen Wermut, wir Kinder Saft". Oder der katalanische Bartender Javier de las Muelas, geboren 1955, erzählt, dass seine Eltern einen Kühlschrank kauften und dazu eine Flasche Martini geschenkt bekamen. Als er sie probieren wollte, sagte ihm der Vater, die Flasche enthalte "Ameisensaft". "Ich habe ihn später trotzdem probiert und fand ihn sehr schmackhaft." Heute mixt er in seiner Bar "Dry Martini" vor allem Wermut-Cocktails.

Auch die "Vermutería del Tano" erzählt viel vom Getränk. Sie liegt an einer verkehrsberuhigten Straßenecke mitten in Gràcia. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen, ein paar kleine Bäume spenden ein wenig Schatten, ein Mann im Hausanzug führt den Hund aus. Der Stadtteil ist geprägt von einer großen Markthalle, die sonntags aber geschlossen ist, von zueinander rechtwinklig verlaufenden, kleinen Straßen und von Plätzen, die das Muster immer wieder unterbrechen. Es gibt viele Geschäfte und Bars. Gràcia gehört zu den beliebtesten und mittlerweile auch teuersten Quartieren in Barcelona.

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Touristen können hier am alltäglichen Leben der Städter teilnehmen. Am Tresen von Tanos Kneipe begrüßen uns zwei grauhaarige Männer, einer mit Zopf, der andere mit großen Zahnlücken. Beide haben eines der typischen, schlanken 125-Milliliter-Gläser vor sich stehen. Sie trinken Wermut "a secas", also ohne Eis, Soda oder sonstige Verdünnung. Die beiden scheinen zum Inventar der Bar zu gehören, sprechen mit diesen und jenen Gästen. Freundlich erzählt einer der Grauhaarigen vom Leben als Polsterer; den halben Monat sei er auf Montage in Berlin, wo er spanische Hotels neu einrichte. "In Berlin trinke ich Weißbier, in Barcelona Wermut", sagt er grinsend. Sein Kumpel kommt von der Arbeit. Straßenfeger beginnen in Barcelona um drei Uhr morgens, um elf ist Schluss. Sein Feierabend dauert nun schon zwei Stunden. "Zwei Wermuts reichen eigentlich", sagt er, "ich muss auf meinen Blutzucker achten."

Caetano "Tano" Gabernet betreibt das Lokal seit mehr als 20 Jahren, sechs Tage die Woche. Er serviert einen Wermut mit Eis und Olive am Spieß. Dazu stellt er ein Gläschen mit Zahnstochern auf den Tresen und ein Tellerchen mit einer Auswahl klassischer Konserven: Miesmuscheln in pikanter Soße, Messermuscheln in Essig, Herzmuscheln mit einem Schuss Zitrone. Herrlich, diese Kombination aus süß und sauer, bitter und scharf. Tano zeigt sein 60-Liter-Fass, aus dem er jede Woche rund 500 Gläser Wermut schenkt. Die Bar ist bei Anwohnern und bei Touristen auf Abwegen beliebt, man sieht Paare mit kleinen Kindern, die abends nicht mehr lange ausgehen und dafür tagsüber Freunde treffen wollen.

Ende der 1990er-Jahre erlebte hier die Rumba Catalana ein Revival, und Fusion-Bands wie Ojos de Brujo oder Dusminguet gaben dem bunten Viertel einen neuen Soundtrack. Heute ist es still rund um die Bar. Es ist kurz vor zwei, spanische Essenszeit. Tanos Lokal leert sich. Die grauhaarigen Freunde bestellen den wohl letzten Wermut, der Wirt verabschiedet zwei Stammkundinnen mit Küsschen. "Bis nächsten Sonntag, Tano!", rufen sie ihm zu. Auch Stefania Talento und Andreu Font verabschieden sich, sie wollen zu Mittag essen und den Sonntagnachmittag mit einer DVD verbringen. Vor ihnen liegt eine neue Arbeitswoche. Und die Vorfreude auf den Moment, wenn es wieder heißt: "Fem un vermut?".

© SZ vom 07.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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