Slowakei:Lust auf Last

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Matratzen, Bierfässer, Türen: In der Hohen Tatra gibt es Menschen, die Berghütten mit schwerem Material versorgen. Sie werden pro Kilo bezahlt und sehen sich als europäische Sherpas.

Von Stefan Heinrich

Einen großen Sack Müsli, einige Scheite Brennholz und die massive Eichentür - das alles schnallt sich Viktor Beránek gleich auf seinen Rücken. Die Tür muss hoch auf den Gipfel des Rysy; dort soll sie noch heute in Viktors Berghütte Chata pod Rysmi auf 2250 Metern eingebaut werden. Keine Hütte liegt höher auf der slowakischen Seite der Hohen Tatra.

Noch aber steht der 64-Jährige im Tal Mengusovská dolina am Ufer des kleinen Bergsees Popradské Pleso. Im Norden, hinter dem Bergmassiv, verläuft die Grenze zu Polen, südlich glitzern die Dächer der Stadt Poprad in der Sonne. Auf die Baumwipfel rund um den See fällt Schatten, Tau liegt wie weißer Flaum auf der Wiese. Trotzdem steht Viktor in kurzer Hose und einem Baumwollhemd da und überlegt, wie er den benötigten Nachschub am besten auf seiner Kraxe verstaut. Das Tragegestell aus Holz ist der traditionelle "Rucksack" der slowakischen Sherpas. Nur so lassen sich Lasten bis zu 120 Kilo sicher über eine lange Zeit tragen. "Das Entscheidende ist, wie man die Last verteilt", erklärt Viktor, "die schweren Teile müssen genau über dem Kopf angebracht werden - da ist der Schwerpunkt der Kraxe."

Nach dem Prager Frühling flüchtete Viktor in die Berge und erhielt den ersten Auftrag

Viktor und seine Träger-Kollegen schleppen die Lasten nicht etwa als Hobby oder zum Zweck körperlicher Ertüchtigung - ohne die Sherpas bekämen die zahlreichen Berghütten der Hohen Tatra schlicht keinen Nachschub. Das Gelände ist für Fahrzeuge nicht zugänglich, Straßen gibt es hier oben nicht. Nur starke Beine und gute Bergschuhe bezwingen die Geröllfelder und die starke Hangneigung. "Sicher, Helikopter könnten die Berghütten beliefern, aber das kann sich kein Hüttenwirt leisten", sagt Viktor und wuchtet mit einem lauten "Hopp" seine Kraxe samt Tür auf den Rücken.

Viktor wohnt in Poprad, die Stadt am Fuß der Hohen Tatra ist das Zentrum des Bergsports in der Slowakei. Schon mehrfach hat sich die Region um die Olympischen Winterspiele beworben. Im Sommer starten von hier aus die Bergsportler in das flächenmäßig kleinste Hochgebirge der Welt. Der höchste Gipfel misst gerade einmal 2655 Meter, unzählige Wanderrouten, Berghütten und Seen machen die Tatra für Wanderer und Bergsteiger aber zu einer lohnenden Alpen-Alternative. Hier, im Norden der Slowakei, fühlen sich die Menschen eng mit ihrem Gebirge und der Natur verbunden. Die meisten nutzen die Tatra in ihrer Freizeit, viele verdienen sich ihren Lebensunterhalt dank der Berge. Weder die Infrastruktur noch die Tourismuswirtschaft ist auf maßlosen Fremdenverkehr ausgelegt. Wer hier oben wandert, der teilt sich seine Route oft nur mit ein paar Gämsen - und den Sherpas.

Dass Viktor seit 45 Jahren als Lastenträger in der Hohen Tatra unterwegs ist, hängt eng mit der Geschichte des Landes zusammen. 1968 marschierten Truppen unter Führung der Sowjetunion in der Tschechoslowakei ein. Als junger Bergsteiger wollte sich Viktor dem System nicht unterordnen, die kommunistische Staatssicherheit habe ihm sogar mit Gefängnis gedroht. Der Fluchtweg führte Viktor auf die höchsten Gipfel der Hohen Tatra, und irgendwann bis zur Chata pod Rysmi. Der damalige Hüttenwirt bot ihm Kost und Logis an und drückte ihm dafür einen Einkaufszettel in die Hand: Viktor hatte seinen ersten Auftrag als Tatra-Sherpa.

Früher schleppte Viktor in guten Monaten bis zu einer Tonne Material auf den Berg. Inzwischen zwickt es hier und da etwas, aber der Mann hat noch immer den Körper eines austrainierten Kraftsportlers. Seine Waden sind ungefähr so dick wie bei manch anderen die Oberschenkel, auf seinem Rücken hat sich im Laufe der Jahre ein Buckel gebildet; nicht wegen einer körperlichen Fehlfunktion, sondern durch reine Muskelmasse. In der slowakischen Bergsteiger-Szene gilt er als Ikone, in seinem Tal ist er bekannt als "Jesus" - wegen seiner langen Haare und weil er über das Gestein zu schweben scheint. Seine Stammgäste auf der Berghütte nennen ihn auch den "Tatra-Lkw".

Die Bezeichnung Sherpa ist eigentlich dem Volk aus dem Himalaja vorbehalten, aber die slowakischen Lastenträger nennen sich selbst stolz "Tatra-Sherpas". Völlig zu Recht, wie Viktor findet: "Wir tragen genauso viel wie unsere Kollegen aus Nepal, ich denke, das geht in Ordnung." Heute muss Viktor mal nicht alleine schleppen: 72 Träger haben sich unten am Bergsee eingefunden, um die jährliche Sherpa-Rallye zu bestreiten. Vor 30 Jahren hat Viktor den Wettkampf ins Leben gerufen, um sich mit seinen Kollegen zu messen - und um gleichzeitig zum Saisonauftakt richtig viel Material auf seine Hütte zu bekommen. Die Sherpas, 18 davon sind junge Frauen, werden rund drei Tonnen bewegen. "Für mich ist das ein ganz besonderer Tag", sagt Viktor grinsend, "und weil ich ihnen eine Medaille oben auf der Hütte versprochen habe, schleppen sie die Sachen für mich umsonst." Was die Träger auf den Rücken schnallen, können sie sich aus einem großen Haufen auf dem Parkplatz aussuchen: Bierfässer, Getränkekisten, Nahrung, Brennholz, ein Fenster, Matratzen, Tierfutter. Normalerweise bekommen Sherpas 70 Cent pro Kilo, heute aber zählen nur Ruhm und Ehre. Viktor selbst hat seine Rallye schon vier- oder fünfmal gewonnen, so genau weiß er es nicht mehr. Inzwischen aber geht er die Strecke gelassen an. Als einer der ältesten Träger hier am Berg nutzt er lieber seine Erfahrung. "Ich starte einfach als Erster. Mit der Tür auf dem Rücken kommt keiner mehr an mir vorbei", witzelt Viktor und marschiert los.

(Foto: SZ Grafik)

Tatsächlich überquert Viktor gemächlichen Schrittes als Letzter die Startlinie, das Hauptfeld ist da schon im Wald verschwunden und außer Sicht. Vor ihm liegen vier Kilometer und 750 Höhenmeter, normalerweise braucht er drei Stunden bis zur Hütte. Seine Arme baumeln locker vor dem Bauch, das Haupt ist gesenkt mit Blick auf die nächste Trittmöglichkeit. Aber wie bringt man knapp 60 Kilo auf einen der höchsten Gipfel der Slowakei, ohne irgendwann zusammenzubrechen? "Ich schaffe das Material nicht dank meines Körpers nach oben, sondern mit meinem Geist", erklärt Viktor, "ich lasse mein Leben im Tal zurück und konzentriere mich auf die Geräusche und die Natur um mich herum - es ist wie eine Trance."

Unterwegs können sich auch Touristen Kartoffeln oder Bretter auf den Buckel laden

An einer Weggabelung steht eine kleine Hütte, an der Touristen selber Material auf den Buckel laden und zur Chata pod Rysmi tragen können - ob mit Geistes- oder Muskelkraft, das bleibt jedem selbst überlassen. Der geneigte Hobby-Sherpa hat die Wahl zwischen Brettern, Kartoffeln und Gasflaschen. Bei Lieferung verspricht der Hüttenwirt eine Belohnung "von Tee bis zur Gulaschsuppe". Das hängt vom abgelieferten Material ab.

Nach 90 Minuten hat Viktor die Baumgrenze hinter sich gelassen und den Veľké Žabie Pleso auf 1920 Metern erreicht. Halbzeit. Er ist kaum aus der Puste, die weiße Mähne wirkt dankt der frischen Brise wie frisch geföhnt. Nur auf seinem Stirnband sind ein paar Schweißflecken zu erkennen. "Ich habe schon mit Sherpas aus dem Himalaja gesprochen. Vielleicht sind die Berge da höher und der Job ist lukrativer, aber ich würde niemals tauschen wollen." Nirgendwo auf der Welt sei es so schön wie in seiner Vysoke Tatri, vom "Märchenwald bis zur Mondlandschaft" könne man hier schließlich alles finden.

Die meisten Sherpas sitzen schon mit einer Suppe oder einem Krug frisch geliefertem Bier vor der Chata pod Rysmi, ihre Ware türmt sich auf der Terrasse der Hütte. Die Kollegen applaudieren, als Viktor um den letzten Felsen biegt. Er ist mit einer Zeit von drei Stunden und zwölf Minuten Vierundfünfzigster geworden. "Wenn gar nichts mehr geht, dann denke ich einfach an eine schöne Frau. Das macht mir richtig Beine", erklärt er seine mentalen Tricks.

Die braucht er heute nicht mehr. Nach einer kleinen Stärkung übernimmt Viktor die Siegerehrung, dann schnappt er sich die massive Holztür. Schließlich muss sie noch vor Einbruch der Dunkelheit eingebaut werden.

© SZ vom 13.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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