Ski extrem: Freeriden:Denn sie wissen, was sie tun

Keine Pisten, keine Regeln, keinen Verband - und lässig bis an die Schmerzgrenze: Nicht nur wegen ihres Lebensstils gelten Freerider als die Surfer der Steilwand.

Titus Arnu

Gleich zu Beginn zeigt Sebastian Hannemann seine Spezialität. Der 24-jährige Extremskifahrer stößt sich vom rot markierten Start ab, fährt langsam auf den Abgrund zu und peilt eine Felsnase in der Nordwand des 3300Meter hohen Corvatsch an. Unter ihm geht es 550Meter fast senkrecht bergab.

Als wäre die Herausforderung, einen bis zu 55Grad steilen, von Felsen durchsetzten Berg auf Skiern heil hinunterzukommen, nicht schon groß genug, springt Sebastian Hannemann mit einem Rückwärtssalto in den Schatten der Wand. Das ist mutig, aber der Sprung misslingt. Hannemann gerät in Vorlage, kommt nicht sauber auf, seine Ski bleiben im Pulverschnee stecken, er überschlägt sich zweimal, dreimal, viermal, fünfmal. Und das knapp oberhalb einer Klippe, über die man eigentlich nicht fallen sollte.

Starter im Dilemma

Weiter unten, an der Mittelstation der Corvatsch-Bahn, halten die Zuschauer den Atem an. Sie wollen spektakuläre Sprünge, rasante Schwünge und unmöglich erscheinende Abfahrtspassagen sehen, aber bitte nicht so etwas. Bei der Freeride World Tour, der Champions League der Extrem-Skifahrer und Extrem-Snowboarder, geht es darum, die ideale Linie durch ein extrem schwieriges Gelände zu finden - und dabei noch möglichst nervenaufreibende Tricks und Sprünge zu zeigen.

"Aber wir belohnen niemanden dafür, dass er etwas Verrücktes auf dem Berg riskiert und sein Leben aufs Spiel setzt", sagt Martin Winkler, Chef der Ski-Jury bei der Freeride World Tour. Punkte gibt es für die Wahl der Linie, für die Sprünge und die Kontrolle der Ski. Es kommen allerdings nur diejenigen Athleten an die Weltspitze, die auch etwas wagen und damit auffallen.

In genau diesem Zwiespalt befindet sich Sebastian Hannemann. Als junger Starter unter vielen erfahrenen Extremsportlern - die meisten Teilnehmer der Freeride World Tour haben die 30 überschritten - will er auffallen, um unter die besten Zehn der Welt zu kommen. Diesmal ist das schiefgegangen. Die Mitglieder der Jury suchen mit ihren Feldstechern nach Hannemann, aber aus der Entfernung ist nur eine weiße Wolke zu sehen. Aus dem Schneestaub wirbeln plötzlich Stöcke, Arme und Beine hervor. Hannemann steht wieder. Er fährt weiter, als wäre nichts geschehen.

Mischung aus Staunen und Kopfschütteln

Cool bleiben scheint bei dieser Sportart ein wichtiger Faktor zu sein. Hannemann rast durch eine Rinne, quert durch felsiges Gebiet, bis er oberhalb der nächsten Klippe steht. Er springt 25 Meter in die Tiefe, diesmal ohne Backflip, wie der Rückwärtssalto im Szenejargon heißt. Unten versinkt er in einer Pulverschneewolke, übersteht die Landung unversehrt und hält auf das Ziel am Fuß der Nordwand zu, einen Plastikbogen mit dem Namen des Sponsors darauf.

Als Normalskifahrer, der gerade auf der Hütte einen Cappuccino trinkt und die Sonne genießt, sieht man so etwas mit einer Mischung aus fasziniertem Staunen und ungläubigem Kopfschütteln. Eine weitere Extremsportart für eine kleine Zahl Irrer?

"Ich mach mir da keinen Stress"

Von wegen: Freeriden, so der neudeutsche Ausdruck für diese besondere Form des Geländefahrens, wird immer populärer. Was die Athleten bei der Freeride World Tour demonstrieren, wollen viele Jugendliche nachmachen. Für den zweiten Stopp der World Tour in St.Moritz bewarben sich 450 Wagemutige, nur 22 Skifahrer und 14 Snowboarder qualifizierten sich für das Finale. Was ist so verlockend daran, mit Ski durch Steilwände zu fahren - trotz Verletzungs- und Lawinengefahr?

Jahrelanges Training und gute Lawinenkenntnisse

Profis wie Hannemann wissen genau, welchen Weg sie durch das gefährliche Gelände nehmen. Sie inspizieren die Wand vor der Abfahrt tagelang mit dem Fernglas, sie kennen sich mit der Schneebeschaffenheit aus und haben Jahre für ihre Sportart trainiert. Problematisch wird es, wenn Laien auf den Spuren der weltbesten Freerider wandeln wollen - und einfach mal so in eine lebensgefährliche Zone wie die Corvatsch-Nordwand fahren.

Immer wieder müssen Bergretter verunglückte Geländefahrer bergen, die sich überschätzt haben. Sebastian Hannemann, der aus dem Alpin-Rennsport kommt, empfiehlt Anfängern, erst einmal ein Freeride-Camp zu besuchen und Basiswissen über Lawinen zu sammeln.

Keine Regeln, kein Verband

Trotz oder gerade wegen des Risikos fühlen sich gerade junge Skifahrer von der Freeride-Szene angezogen. Es gibt keine Pisten, keine Regeln, keinen Verband und keine Kaderstrukturen wie in vielen anderen Sportarten. Dafür gibt es einen besonderen Lifestyle und einen familiären Zusammenhalt, weil die Szene noch übersichtlich ist. Die Fahrer kennen sich, manche bringen ihre Familien mit, alle beglückwünschen sich gegenseitig zu Erfolgen und bemitleiden sich gegenseitig bei Verletzungen.

Beim "Riders Dinner" im Hotel Julier Palace ist auf den ersten Blick schwer zu sagen, wer Weltklasse-Fahrer, Pressevertreter, Juror oder Sponsor ist. Fast alle Leute auf der Party tragen Wollmützen, die auch nicht zum Reinschaufeln des Nudelauflaufs abgesetzt werden. Die großen, bunten, schlumpfmützenartigen Kopfbedeckungen gelten als Erkennungszeichen der Freerider, wichtig sind natürlich auch extrem breite, lange Skier und ein betont lässiger Schlurf-Gang. Freerider haben auch eine eigene Sprache - eine steile Wand nennen sie "face", einen Sprung "drop" und eine Linie "line".

Chillen auf den Sponsoren-Kissen

Die Szene kultiviert einen Lebens- und Kleidungsstil, der mit dem der Surfer vergleichbar ist. Überdimensionierte Jacken hängen wie Daunen-Schlafsäcke um die Schultern der Athleten, sie tragen sackartige XXXL-Schlabberhosen und großflächige Sonnenbrillen. Bei Freeride-Veranstaltungen dröhnt Reggae und Hip-Hop aus den Boxen, und wer gerade keine Cliffs hinunterdropt oder sich auf andere Art extrem bewegt, liegt auf einem der großen bunten Kuschelkissen eines Sponsors in der Sonne und entspannt, sprich chillt. Beim Chillen führt sich der Freerider gerne legale Drogen wie Energydrinks, Kautabak und Espresso zu.

Ab und zu pfeifen und klatschen die Winter-Hippies freundlich, wenn einem ihrer Kollegen ein besonders guter Sprung, ein Salto oder eine Drehung gelingt. Als der Schwede Henrik Windstedt, einer der besten seines Fachs, den besten Lauf des Tages hinlegt, ruft ein Zuschauer begeistert: "Alter Schwede!"

Der junge Deutsche Sebastian Hannemann sitzt in der Sonne und hört Musik, als der Sieger ins Ziel kommt. Wegen des Fahrfehlers nach dem Backflip landet Hannemann beim Wettbewerb in St. Moritz nur auf Rang 14. Er bleibt trotzdem gelassen: "Passt schon. Ich mach' mir da keinen Stress." Als wäre ein Rückwärtssalto an der Steilwand keiner.

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