Sechs Monate als Einsiedler am Baikalsee:Allein in Sibirien

Sylvain Tesson Baikalsee Sibirien

"Meine Tage waren sehr einfach", sagt Sylvain Tesson. Gelangweilt habe er sich aber nie.

(Foto: Sylvain Tesson)

Irgendwann wollte Sylvain Tesson der Zeit nicht mehr hinterherrennen. Der Reisebuchautor verbrachte sechs Monate am Baikalsee - bei minus 30 Grad im Winter und mit Besuch von hungrigen Bären im Sommer. Kann man beim Angeln, Holzhacken und Schweigen die Freiheit finden?

Von Ines Alwardt

Ein Ort ist nicht wie eine Frau. Zum Glück. Ein Ort verschwindet nicht einfach. "Er ist verlässlicher", sagt Sylvain Tesson. "Deshalb ist es besser, sich in einen Ort zu verlieben als in einen Menschen." Aber muss es denn ausgerechnet eine einsame Blockhütte im tiefsten Sibirien sein? Fernab jeglicher Zivilisation, der rauen Natur schutzlos ausgeliefert?

Das tägliche Leben könnte für den wohlstandsverwöhnten Stadtbewohner dort kaum schwerer sein: Bis zu minus 35 Grad kann es im Winter kalt werden, es gibt keine Straßen, dafür scheinbar endlose Schneelandschaften - und die dunklen Nadelwälder, in denen Bären, Wölfe und Luchse ihre Reviere verteidigen. Nur Menschen gibt es in der Taiga kaum.

Wer hier freiwillig lebt, muss ziemlich verliebt sein. "Es ist das Paradies", sagt Sylvain Tesson. "Es ist ein guter Ort, um sich umzubringen", sagt ein Freund, der ihn in der Wildnis absetzt.

Dieser auf den ersten Blick öde Ort ist die Szene eines Selbstversuchs: sechs Monate in einer winzigen Holzhütte am Ostufer des Baikalsees. Allein, nur mit sich selbst. Ein beängstigendes Experiment, selbst für einen wie Sylvain Tesson. Der französische Reisebuchautor und Geograf hat schon viele Abenteuer überstanden: Er ist mit dem Fahrrad um die Welt gefahren und hat den Himalaja durchquert. Er ist von Sibirien nach Indien gelaufen und hat mit dem Motorrad eine Tour durch die mongolische Steppe gemacht. Wie ein Getriebener ist er jedes Mal durch die Natur gestreift, immer auf der Suche nach der nächsten Landschaft, einer neuen Welt. "Ich war wie besessen von dieser Art zu reisen", sagt Tesson. Stillstand? Ruhe? Er schüttelt den Kopf. "Es gab keine Pausen."

Fünf Stunden zu den Nachbarn

Und dann? Eine neun Quadratmeter große Holzhütte mitten im Baikal-Lena-Naturreservat, unmittelbar am nördlichen Zedernkap. 120 Kilometer liegt das nächste Dorf entfernt, fünf Stunden dauert ein Fußmarsch zu den Nachbarn. In der Hütte war früher eine geologische Station untergebracht, bis vor Kurzem hatte dort noch ein Forstinspektor mit seiner Frau gewohnt. Aber sie wurde krank, und die beiden mussten zurückkehren in die Stadt. Schon mehrmals war Tesson in Sibirien gewesen, schon immer wollte er in einer Hütte im Wald wohnen. Als ein Freund ihm den Tipp gab, zögerte er nicht lange.

9. Februar 2010, das Experiment beginnt. Mit einem voll beladenen Lastwagen bringt ihn ein Freund von Irkutsk, einer 600 000-Einwohner-Stadt im südlichen Sibirien, in die Einsamkeit. Sie brauchen zwei Tage, der Weg führt durch trostlose, vereiste Steppen und über das Eis des Baikalsees, "die Perle Sibiriens", wie die Russen den tiefsten und ältesten Süßwassersee der Erde nennen. "Wenn wir durch eine Spalte rutschen, wird das Fahrzeug in der Finsternis versinken", wird Tesson später in sein Tagebuch schreiben. "Das Eis hat etwas von einem Leichentuch." Wer hierher kommt, sucht das Abenteuer.

Sich die Zeit zum Freund machen

Im Gepäck hat Tesson Nudeln, Reis, jede Menge Tabasco und Suppenpulver, Brot, Obstkonserven, Kaffee, Honig, Tee und 18 Flaschen Super-Hot-Tapas-Sauce. Das muss reichen für die nächsten sechs Monate, Fisch wird er sich nach alter sibirischer Methode selbst aus dem See angeln. Er hat auch eine Pistole und einen Dolch dabei, aber nicht, um zu jagen. "Ich fände es schrecklich unhöflich, die Lebewesen der Wälder abzuknallen, bei denen ich zu Gast bin", schreibt Tesson. Es ist eine Leuchtpistole, wie sie Seeleute in Not benutzen. In den Wäldern Sibiriens braucht man sie als Einsiedler, um Bären und Wölfe zu verscheuchen.

Sylvain Tesson Baikalsee Sibirien

Nietzsche und Schopenhauer gegen die Einsamkeit: Sylvain Tesson in seiner Blockhütte.

(Foto: Thomas Goisque)

Sonst hat Tesson nicht viel mitgebracht aus seinem normalen Leben. Eine Kiste voll mit Büchern, jedes einzelne sorgsam ausgewählt für alle Gemütslagen, die einen Menschen in einem halben Jahr so packen können: Nietzsche, Schopenhauer, D. H. Lawrence, Goethe, Kundera. Dazu: Zigaretten, jede Menge Wodka und sein Tagebuch - als Mittel gegen die Kälte. Und gegen die Einsamkeit.

Denn der Kontakt zur Außenwelt ist rar. Zwar hat Tesson eine Art Weltempfänger, über den er ab und zu Nachrichten hört, manchmal kommen ihn auch die Nachbarn besuchen, und er kümmert sich um ihre beiden Hunde, aber die Zeit allein kann lang werden, wenn man niemanden hat, mit dem man sprechen kann. Der Computer gibt gleich am ersten Abend in der Hütte den Geist auf, er hat die Temperaturschwankungen beim Umzug nicht überstanden, minus 35 Grad draußen, plus 25 Grad in der Hütte, das war zu viel. Das Satellitentelefon, das ihm ein Freund beschafft hat, ist nur für Notfälle vorgesehen.

Das Leben als Einsiedler ist für den Schriftsteller ein absolutes Kontrastprogramm, nicht nur zu seinen Reisen, auch zu seinem Leben in Paris. Der 41-Jährige gehört zu den bekanntesten Reiseschriftstellern Frankreichs, er hat zahlreiche Essays, Bücher und Bildbände veröffentlicht. Für sein gerade in Deutschland erschienenes Buch "In den Wäldern Sibiriens. Tagebuch aus der Einsamkeit", erhielt er 2011 den französischen Literaturpreis Prix Médicis. Laut, schnell und hektisch sei für ihn der Alltag in seiner französischen Heimatstadt, erzählt Tesson. Ständig sei er beschäftigt, mit Schreiben oder damit, Reisen zu organisieren. "Es ist ein Leben, in dem ich nie in der Gegenwart sein kann. In der Stadt habe ich das Gefühl, ständig der Zeit hinterherzurennen", sagt er. Ohne sie jemals einholen zu können.

Aussteigen aus dem Hamsterrad

Genau das ist der Grund, warum er sich 2010 dazu entschied, seinen Kindheitstraum wahr zu machen: einmal als Einsiedler in den Wäldern leben. Aussteigen aus dem Hamsterrad. 24 Stunden lang einfach nichts tun. "Ich wollte die Zeit zähmen wie einen wilden Hund", sagt Tesson. Sie sich zum Freund machen. Und nicht zum Feind. "Ich wollte sie spüren und verlangsamen, dem modernen Leben des Städters entkommen und den Druck rausnehmen." Nur: So einfach ist das dann doch nicht.

Wenn man ihn trifft in einem noblen Münchner Hotel, merkt man nichts von Tessons Kampf mit der Zeit, eher im Gegenteil. Zum Interviewtermin kommt er eine Viertelstunde zu spät, dafür aber perfekt gestylt. Ein leicht angegrauter Dreitagebart ziert das markante Gesicht. Der schlanke athletische Körper steckt in einem dunklen Anzug, selbst über dem schneeweißen Hemd wirft das Sakko keine Falten. Sylvain Tesson sieht nicht aus wie einer, der nachts vor einer sibirischen Holzhütte mit Leuchtraketen Schwarzbären verscheucht oder mit einem Eispickel Löcher in die Eisdecke meißelt, um anschließend im See zu angeln. Viel eher erinnert er an einen französischen Intellektuellen auf Geschäftsreise. Tesson sagt: "Es ist sehr viel schwerer für mich, an einem wichtigen Dinner in Paris teilzunehmen, als allein in einer Hütte zu leben."

Einfach, aber nie langweilig

Vielleicht muss er das sagen. Denn er ist an diesem Tag Autor und soll das Buch eines Abenteurers vermarkten. Tesson ist hier, um sein Buch vorzustellen. Es ist ein Tagebuch. Ein Dialog mit sich selbst und der Natur. Er beschreibt darin, wie er die sechs Monate allein in der sibirischen Taiga erlebt und überstanden hat, denn einsam war er zuvor nie auf seinen Reisen. "Ich war immer mit Freunden unterwegs und nie komplett in einer fremden Welt." In Sibirien ist das zum ersten Mal anders.

15. Februar, der erste Abend allein in der Hütte. "Am Anfang wage ich kaum mich zu bewegen. Ich bin betäubt von der Aussicht auf die Tage." Wie ein weißes, leeres Blatt liegen die sechs Monate vor ihm, ohne dass er weiß, womit er sie füllen könnte. Und in ihm macht sich die Angst breit, ganz allein zu sein in der Wildnis. "Ich wusste auf einmal, jetzt kann ich nur noch auf mich selbst zählen", erzählt Sylvain Tesson. Er schaut sein Gegenüber nicht an, wenn er spricht, sondern blickt auf den Boden, den Tisch, dann aus dem Fenster; ein bisschen entrückt wirkt er, als sei er wieder allein in seiner Hütte am Baikalsee.

Baikalsee

Auf die Bucht des Baikalsees konnte der "Speed-Guy" stundenlang blicken. Da vergingen Tage wie in Zeitlupe.

(Foto: iStockphoto)

Ein Tagesablauf musste her

Seine Freunde hatten ihm vor der Abreise gruselige Geschichten erzählt, von Menschen, die in der Abgeschiedenheit und vor Langeweile verrückt geworden waren und ihre Tage nur noch mit Wodka im Bett verbracht hatten. Also musste ein Tagesablauf her, um nicht phlegmatisch zu werden. Morgens: am Fenster sitzen, Landschaft beobachten, schreiben, rauchen, lesen. Am Nachmittag: in die Berge gehen, Wasser holen, Holz hacken für den Ofen, Fische angeln oder Schnee schippen. Weil niemand da ist, mit dem er reden kann, schreibt Tesson manchmal japanische Haikus in den Schnee. "Meine Tage waren sehr einfach", erzählt er. Aber gelangweilt? "Habe ich mich keinen einzigen Tag."

Anstatt hektisch die Aufgaben abzuarbeiten, widmet er sich völlig den einfachen Aktivitäten. Das Ergebnis verblüfft ihn: Er, der "Speed-Guy", wie er sich selbst nennt, der immer in Bewegung sein musste, um sich zu erleben, sitzt plötzlich still und stundenlang am Fenster in seiner Hütte und beobachtet die Landschaft. Er sieht, wie sich hinter den Nadelbäumen im Süden die Bucht des Baikalsees erstreckt und im Osten die verschneiten Gipfel der russischen Teilrepublik Burjatien in den Himmel ragen. Er beobachtet die Meisen vor dem Fenster und sieht, wie der Schnee anfängt zu tauen, als der Frühling kommt. "Tatsächlich haben diese einfachen Dinge meinen Tag erfüllt, sie haben die Zeit für mich verändert", sagt Tesson. Die Tage seien immer länger für ihn geworden. Sie vergingen wie in Zeitlupe.

Bis zum 16. Juni, als sich das Satellitentelefon meldet. Fünf Zeilen, kurz und knapp - mehr braucht Tessons Freundin nicht, um sich von ihm zu trennen. "Die Frau, die ich liebe, gibt mir den Laufpass. Sie will keinen Strohhalm im Wind mehr als Mann", schreibt er. Und plötzlich ist die Zeit wieder sein Feind. "Gestern noch glitt sie dahin wie Seide. Jetzt ist jede Sekunde eine Nadel."

Fragt man ihn danach, sagt er heute: "Sie hat das Richtige getan." Eine Beziehung führen und das Leben eines Abenteurers leben, das funktioniere nicht. "Man kann nicht da sein, wenn man den Geist eines Nomaden hat." Tesson hat das eingesehen. Und es gibt da noch eine Erkenntnis. Freiheit, sagt er, erlange man nicht, wenn man Hunderte Kilometer durch die Steppe zieht. "Derjenige, der wirklich frei ist, kann selbst über seine Zeit entscheiden." Im Moment ist Tesson wieder in Paris, er schreibt an einem neuen Buch, diesmal über Napoleon. Und danach? "Ich weiß es noch nicht", sagt Sylvain Tesson. "Juni, das ist noch sehr weit weg von hier."

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