Schweiz:Die neue Sauberkeit

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Manchmal hängen auch Fahrräder an der Decke, wie im 25-Hours-Hotel in Zürich. (Foto: Andrea Diglas/oh)

Kleine Läden, anderes Publikum, weniger Prostitution und Drogen: Zürich hat seine schmuddeligste Meile, die Langstraße, aufgewertet. Das gefällt nicht allen.

Von Charlotte Theile

Rolf Hiltl kennt die Macht der Bilder. Der Mann, der in Zürich das älteste vegetarische Restaurant der Welt betreibt, bestellt in der Eckkneipe Zucchero ein Nachmittags-Bier. Es ist ein kleiner Laden, rund um die Uhr geöffnet. Hier ist vieles so, wie es sich die Nostalgiker und Gentrifizierungs-Gegner wünschen: Die Getränke sind günstig, ein Mix aus Stammgästen, Zuhältern, Fußballfans und zufällig hingestreuten Zeitungslesern begeht den Mittwochnachmittag so, als ob es Freitagabend wäre. Einige Meter weiter verläuft die als Rotlichtmeile berühmt gewordene Langstrasse (die Schweizer schreiben kein "ß"). Hiltl zündet sich eine Zigarette an. Einige Meter weiter ist die Baustelle. Seine Baustelle. Bis vor Kurzem war in dem einsturzgefährdeten Gebäude ein alternatives Kulturprojekt. Im September wird hier eine weitere Filiale seines vegetarischen Imperiums eröffnen, "Hiltl Langstrasse" mit einem Keller-Club mit Sichtfenstern, sodass man "unter dem Quinoa tanzen" wird. Die Zeiten, in denen man bei Hiltl keinen Alkohol bekam, sind lange vorbei. 100 Gramm Linsensalat kosten heute knapp vier Euro. Um es kurz zu machen: Mehr Gentrifizierung geht nicht.

Für Simon Jacoby, Gründer des Online-Stadtmagazins tsri.ch, ist das Hiltl im Zentrum der Langstrasse ein weiterer Schritt in die falsche Richtung: Google-Mitarbeiter, Banker, Besserverdienende übernehmen eine Straße, die jahrzehntelang ein Refugium der weniger begüterten Gesellschaftsschichten war. In dem berühmt gewordenen Langstrassenfilm "Von zwölf bis zwölf" zeichnet der öffentlich-rechtliche Rundfunk das Bild eines Arbeiterquartiers, das den italienischen "Fremdarbeitern" genauso gehört wie Schweizer Kleinbürgern und ihren Gartenzwergen. Und schon damals gab es Prostitution, Drogen, Partys und Schlägereien. Heute ist von dieser Arbeitertradition vor allem dann etwas zu spüren, wenn autonome Gruppen am 1. Mai mit Sprechchören und Plakaten durch die Langstrasse ziehen. Ansonsten haben sich die Arbeiter von der Langstrasse verabschiedet: Drogenszene und Prostitution haben das Viertel für all jene, die morgens früh aufstehen müssen, spätestens seit den 1990er-Jahren zur No-go-Area gemacht. Die Stadtpolitik schien die von Hells Angels und Zuhältern beherrschte Sündenmeile sich selbst zu überlassen. Anfang der 2000er-Jahre änderte sich das. Mit der Initiative "Langstrasse Plus" wollte die Stadt eine "bessere Durchmischung der Bevölkerung" herbeiführen, ein "Nebeneinander von Arbeiten, Wohnen und Rotlichtmilieu". Man könnte auch sagen: Die schmuddeligste Straße der Stadt sollte aufgewertet werden.

Die Stadt versucht mit Pissoirs und runden Tischen die Werte der Zivilisation hochzuhalten

Das geschah zunächst, indem man unerschrockene, aber doch bürgerliche Menschen anlockte: 2005 eröffnete hier der Club Zukunft, der schnell zu einem der angesagtesten Technoläden der Stadt wurde. Weitere Bars und Clubs zogen nach. Für das Schlafbedürfnis der Anwohner war diese Entwicklung nicht unbedingt positiv. Der Wert der Grundstücke aber stieg. Wenn sich Clubs und Bars ansiedeln, kommen Künstler, Start-ups und Bio-Bäckereien nach. Doch dieses klassische Gentrifizierungsmuster funktionierte auf der Langstrasse nicht so, wie man es von anderen Großstädten kennt. Zumindest noch nicht. Stattdessen ist die "Hauptschlagader der Stadt", wie Online-Journalist Jacoby die einen Kilometer lange Straße nennt, im Moment alles gleichzeitig: Am Wochenende ziehen Partykids aus den umliegenden Gemeinden durch Bars und 24-Stunden-Shops. Tagsüber finden Prostituierte und Freier zusammen (obwohl das nicht mehr erlaubt ist). Dazwischen sieht man Anzugträger, Start-up-Mitarbeiter, Skateboarder, Polizei. Die Stadt versucht mit runden Tischen, Rücksichtnahme-Kampagnen, Pissoirs und Müllcontainern die Werte der Zivilisation hochzuhalten, ein Nachtstadtrat vertritt die Interessen der Feiernden.

Doch allen ist klar: Diese ungewöhnliche Mischung wird nicht lange halten. Wenn ein Bezirk aufgewertet wird, dauert es meist nur ein paar Jahre, bis die früheren Bewohner verdrängt sind. Das stärkste Symbol einer neuen, kommerziellen Langstrasse steht in der Nähe der Gleise. Ein schwarzer Betonbunker mit schweren Fenstern und bunter Schrift: "highball, 25 hours, welcome, hug, sleep". Die deutsche Hotelkette 25 Hours hat hier im April einen Großbetrieb eröffnet, 170 Zimmer, etwa 200 Euro die Nacht, dazu Bar, Restaurant, Künstleratelier. Ein Designerprojekt, das die angrenzende Europaallee mit der Langstrasse verbinden soll. Wer die beiden Straßen kennt, weiß, wie schwierig das ist: Auf der schicken Europaallee schließt ein Designershop an den nächsten an, alles ist vom Feinsten, Stimmung kommt aber nicht auf. Die Allee ist Durchgangsstraße geblieben, durchgestylt, sauber, langweilig. Die Anti-Langstrasse gewissermaßen. Das 25 Hours könnte die Brücke zwischen beiden Welten werden. Bruno Marti, der Marketing-Chef des Hotels, zeigt ein paar Wochen nach der Eröffnung stolz die ersten Zahlen. Das 25 Hours ist voll, in der Woche manchmal ausgebucht. Am Wochenende aber kann man im 25 Hours auch für 140 Euro ein Zimmer bekommen. Die Kunden seien vor allem Geschäftsreisende, sagt Marti. Umliegende Firmen, Kreativbranche. Auf der Feiermeile sieht Marti vor allem eine Marktlücke - das Tagesgeschäft. Granola am Morgen, Cheesecake am Nachmittag, 24 Stunden lang Hummus und Fladenbrot, dazu kleine Cocktails, die sich zum tagsüber Trinken eignen: das 25 Hours hat sich entschieden, die Nacht anderen zu überlassen. Bruno Marti bemüht sich um Nüchternheit. Er könne Drogen und Prostitution "nichts Romantisches abgewinnen". Kommerz-Gegner Simon Jacoby sieht das 25 Hours als "charakterlosen Klotz", wie er überall auf der Welt stehen könnte. "Niemals", sagt er, würde er hier einen Kaffee trinken. Jacoby stören schon die Pissoirs und Mülleimer. Diese neue Sauberkeit würde Menschen anlocken, die es immer noch sauberer haben wollten.

Antonio Surber dagegen trifft sich gern im 25 Hours. "Für mich ist es der perfekte Ort, um über Gentrifizierung zu sprechen", sagt er und nimmt einen Schluck alkoholfreies Bier. In einem kleinen Haus, etwas versteckt hinter dem Sexkino Roland gelegen, betreibt Antonio Surber seit ein paar Jahren eine Art "Grauzonenbusiness", wie er sagt, genannt "Langstrassenkultur". Gemietet hat er das Häuschen als Lagerraum, seither hat er renoviert, eine Bar eingebaut, eine Küche. Inzwischen finden hier Tanzkurse statt, kleine und größere Partys, über den Sommer vermietet Surber Holzpaletten mit Matratzen darauf als Übernachtungsmöglichkeiten über Airbnb. Mit knapp 40 Euro gehören sie zum Günstigsten, was Zürich zu bieten hat. Und auch wenn sich die Nachbarn manchmal aufregen, dass es nachts laut ist - das Langstrassenkultur wird von Stadt und Anwohnern toleriert. Alle wissen: Projekte wie dieses braucht es, um den Charakter der Straße als multikulturelles, unfertiges, lebendiges Quartier zu erhalten.

Auch Restaurant-Betreiber Hiltl betont, wie sehr er diesen Charakter schätzt. Dass sein Vegetarier-Tempel die einstige Arbeiterstraße zu einer zweiten Europaallee machen könnte, weist er von sich, spricht von Gratis-Essen für Obdachlose, davon, wie schön es sei, neben den Kebab-Läden eine gesunde Option vorzufinden. Simon Jacoby, der mit seinem digitalen Stadtmagazin vermutlich genau die Menschen erreicht, die bald bei Hiltl unter dem Quinoa tanzen werden, will keine Werbung für das Restaurant machen. "Es kommen jetzt sowieso immer mehr. Kleine, schöne Läden, gute Leute, schon klar." Er seufzt. "So richtig Langstrasse ist das dann nicht mehr."

© SZ vom 03.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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