Schnappschüsse:Mit den Augen eines Rindes

"Kühe fotografieren ihre Welt": Christoph Siegrist hat den Tieren, die den Sommer auf der Alm verbringen, Spezialkameras in die Glocken eingebaut. Die Ergebnisse sind kurios.

Von Stefan Fischer

Den Hintern einer anderen Kuh fotografieren, eine Almwiese im Gegenlicht oder ein verwackeltes Bergpanorama, das kann nun wirklich jedes Rindvieh. Aber eine Unterwasseraufnahme? Daran hat sich die Uschi versucht, eine Kuh, die ihre Sommer auf dem Zaggisboden unweit des Jaunpasses im Berner Oberland verbringt und offenbar einen Sinn fürs Ausgefallene hat. Ihr künstlerisches Experiment ist allerdings gescheitert.

Die Glockenkameras, die der Agronom Christoph Siegrist seit einigen Jahren baut, sind zwar äußerst robust, sie funktionieren auch bei Nebel und Kälte. Aber in einer Viehtränke ersaufen sie dann eben doch - so viel weiß Siegrist seit Uschis Malheur. Die Apparate, so genannte Mr.-Lee-Catcams, bezieht er aus den USA. Ein Tüftler hat sie entwickelt, um seine Katze mit einer mobilen Kamera auszustatten. Siegrist seinerseits baut die Geräte, die kaum größer als eine Streichholzschachtel sind, in Kuhglocken ein. Dadurch sind sie "unempfindlich gegen Schläge, Stöße, Wind und Wetter", schreibt Siegrist in dem Fotobuch "Cowcam". Nur eben nicht gegen ein Bad im Trog.

Funktioniert jedoch alles wie geplant, dann lösen die Kameras alle sieben bis zehn Minuten aus - das macht 120 bis 150 Bilder pro Kuh und Almtag. Im Durchschnitt jede zehnte Aufnahme tauge etwas, so Siegrist, vor allem beim Wiederkäuen halten die Tiere vergleichsweise still und den Kopf oben. Mehr als 20 000 der Bilder hat Siegrist mittlerweile veröffentlicht auf der Website www.cowcam.ch. Spannender noch als die chronologisch geordnete Flut von Schnappschüssen ist die Sammlung "Cowcam. Kühe fotografieren ihre Welt", die Siegrist mit dem Gestalter Daniel von Rüti nun als Buch herausgegeben hat. Darin sind mehr als 200 Fotos abgebildet, aufgenommen quer durch die Schweiz, sortiert nach Themen und Motiven.

Oft sind die Aufnahmen am Rande auch Selbstporträts, weil sich das Maul der Fotografin ins Bild schiebt oder sie ihren eigenen Schatten aufgenommen hat. Bergpanoramen finden sich auch immer wieder, die sind aber stets bloß Kulisse. Im Zentrum steht beinahe immer der Nahbereich, der Boden unter den Füßen, andere Tiere der Herde, der Weidezaun. Vollends kurios wird es, wenn die Kühe den Spieß umdrehen und Menschen fotografieren, seien es die Älpler oder Wanderer.

Von technischer Perfektion sind die Aufnahmen weit entfernt: Sie sind oft über- und manchmal unterbelichtet, häufig unscharf, bei ungünstigen Lichtverhältnissen entstanden und in der Komposition der Bildmotive natürlich vollkommen willkürlich. Aber das macht ihren Charme und ihre Qualität aus: Weil sie ohne das Bestreben nach Inszenierung Realität abbilden, wie vermutlich kein Mensch sie zeigen würde, der in den Schweizer Alpen fotografiert. Auch die Komik mancher Fotos ist nicht gewollt, nicht komponiert. Sondern dem Augenblick geschuldet. Wobei nicht alles Zufall ist: Kühe scheinen Lieblingsplätze zu haben auf ihren Weiden. Weshalb sie mitunter über die Zeit eine Reihe einander verblüffend ähnelnder Fotos machen.

Christoph Siegrist, Daniel von Rüti: Cowcam. Kühe fotografieren ihre Welt. Faro im Fona Verlag, Lenzburg 2014. 224 Seiten, 32 Euro.

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