Rügen:Wenn der Fels bröckelt, muss die Vernunft halten

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Auf Rügen setzt man darauf, dass die Oster-Touristen die Warnungen vor einstürzenden Klippen ernst nehmen.

Von Arne Boecker

Lohme - Matthias Ogilvie ist auch an diesem Tag wieder runtergestiegen zum Strand, um sich das Malheur anzugucken. "Als hätte ein Riese auf der Kante rumgetrampelt, um dann mit den Bäumen Mikado zu spielen", sagt der Hotelier aus Lohme.

Das Haus ist bedrohlich nah an die Steilküste gerückt. (Foto: Foto: dpa)

Auch Tage nach dem großen Rutsch hat Ogilvie die Fassung noch nicht ganz wieder. Was bis zum Samstag eine stolze Steilküste war, erinnert jetzt an eine Abraumhalde. Bedrohlich nah an die von der Natur festgelegte neue Kante ist ein Haus gerückt, das auf sicherem Grund zu stehen schien.

Eine knappe Woche nach dem erneuten Einbruch an der Steilküste bereitet sich Rügen auf den Ansturm der Ostergäste vor. Die Insel lebt vom Tourismus, 2004 zog sie 1,4 Millionen Menschen an.

Jetzt fürchten Hoteliers und Restaurantbesitzer Einbußen wegen der Bilder von schlammigem Geröll und zerknickten Bäumen. Zuerst muss jedoch verhindert werden, dass jemand zu Schaden kommt. Denn sicher ist: Rügen bröckelt.

"Nach dem harten Winter spült Ostern Geld in unsere Kassen", sagt Matthias Ogilvie. Sein Panorama Residence Hotel in Lohme ist auch von der neuen Kante weit entfernt.

Trotzdem haben sich viele erkundigt, ob sie wirklich anreisen können. "Halb Lohme ist verunsichert", sagt auch Bürgermeister Jörg Burwitz. Nachdem die Steilküste auf 200 Metern ins Rutschen gekommen war, hatten die Ämter das Areal mit Bauzäunen gesichert.

Lebensgefährliche Schaulust

Am Dienstag reiste Mecklenburg-Vorpommerns Umweltminister Wolfgang Methling aus Schwerin zur Besichtigung an. "Es gibt Waghalsige, die die Absperrungen missachten", sagt Hotelier Ogilvie.

Solche Schaulust kann lebensgefährlich sein. An der Steilküste, die sich in Rügens Norden über etwa 50 Kilometer erstreckt, gab es am Samstag den dritten Unfall binnen weniger Wochen.

Nahe Göhren war eine Touristin im Steinhagel gestorben, als sie am Strand entlang spazierte. Außerdem waren die Wissower Klinken, ein Ensemble des weltberühmten Kreidefelsens, abgebrochen. Den Küstenrutsch von Lohme zählen Fachleute zu den spektakulärsten seit Jahrzehnten.

Sie schätzen, dass sich mehr als 100.000 Kubikmeter Erde 20 Meter ostseewärts bewegt haben. Nur etwa zwei Meter von der Außenwand eines Heims für Suchtkranke gähnt nun der Abgrund, Garten und Rollstuhlrampe sind weg.

18 Bewohner des kürzlich renovierten Hauses mussten es verlassen. Auch Teile des neu ausgebauten Lohmer Hafens erfasste die Gerölllawine.

Dass die Steilküste bröckelt, ist für Rüganer nichts Neues. Vor allem im Frühjahr, wenn der Frost den Boden aufgeknackt hat und dann Regen nachsickert, rumpelt es immer wieder.

So sind die bizarren Klippen ja auch entstanden. Auf Rügen schärft man schon Kindern ein, dass sie die Kliffs im Blick behalten sollten, wenn sie an der Wasserlinie spielen.

Umweltminister Methling kann deshalb keinen Sinn darin erkennen, "jetzt die gesamte Küste zuzusperren und einzubetonieren". Die Befürchtungen der Tourismusexperten im Ohr, schließt sich Insel-Landrätin Kerstin Kassner dem an. Sie setzt auf die Vernunft der Rügen-Besucher.

35 Zentimenter Land verschwinden jährlich

Zu Ostern will sie Handzettel verteilen lassen, um vor der mitunter gefährlichen Steilküste zu warnen.

Der Greifswalder Geologie-Professor Martin Meschede verweist darauf, dass Eingriffe des Menschen die Bröckelei verschärft haben. Schon vor Jahrzehnten seien Findlinge als Baumaterial aus den Wänden gekratzt worden.

Das habe den Steilküsten die Stabilität genommen. In Greifswald wird ein Projekt vorbereitet, das Wissenschaftlern hilft, "küstendynamische Prozesse" besser zu verstehen.

Denn die Ostsee leckt beharrlich an Mecklenburg-Vorpommerns Küste, jährlich verschwinden etwa 35 Zentimeter Land in der badewannensanften See.

© SZ vom 24.3.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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