Rom und die Römer:Melancholie der letzten Sommertage

Nach den heißen, leeren Ferienwochen kehrt das Leben langsam zurück in die Straßen Roms. Alljährlich stehen ihre Bewohner vor der Herausforderung, wieder in den Alltag zurückzufinden.

Julius Müller-Meiningen

Das Schlimmste ist überstanden, aber Cinzia Castaldi hat immer noch grausame Erinnerungen. In einer stickigen Bar in der Viale Trastevere versorgt sie gerade durstige Männer mit selbstgemachtem Eistee, einer römischen Spezialität. Aber der Gedanke an die Tage Ende August, als nicht nur das Café, sondern auch die Straße und der wöchentliche Trödelmarkt Porta Portese ausgestorben vor sich hin brüteten, verursacht ihr immer noch Schaudern. "Ffffft", leer wie ein lebloser Luftballon sei das Leben gewesen. "Über 40 Grad und nichts als ein paar verirrte Touristen." Aber jetzt sei diese Folter ja zum Glück überstanden.

Rom Italien Hauptstadt Touristen

Zeit der Stille: Selbst auf den Hauptstraßen Roms ist im Hochsommer nur wenig Verkehr.

(Foto: DPA)

Rom erwacht im Spätsommer langsam wieder zum Leben, aber die Römer konnten sich nie recht entscheiden, ob sie die Leere ihrer Stadt im August mögen oder verabscheuen. Der Regisseur Nanni Moretti dichtete im Film "Caro Diario" (Liebes Tagebuch) einst eine Hymne auf die Ausgestorbenheit und zelebrierte sie, einsam auf seiner Vespa durch das schöne Garbatella-Viertel fahrend. Im Spätsommer 2012 begrüßt das Quartier vagabundierende Mofafahrer mit existenzialistischen Graffiti: "Willkommen in Rom-Süd!". Oder: "Du schaltest die Sonne nicht aus, wenn du auf sie schießt." Stimmt irgendwie beides.

Die harmlosen Menetekel bleiben deshalb im Gedächtnis hängen, weil in der Garbatella auch Anfang September nichts los ist. Mit dem Zweirad ist es nur ein Katzensprung hinunter an die Via Ostiense. Hier verlockt die Trattoria Al Biondo Tevere mit einer luftigen Terrasse und Blick auf die nagenden Tiberratten zu einem Teller Spaghetti aglio, olio e peperoncino, wie sie der Stammgast Pier Paolo Pasolini hier gerne aß. Auch am Abend vor seiner Ermordung 1975 speiste er an seinem Stammplatz. So hat es die Wirtin Giuseppina Panzironi einmal erzählt, die jetzt aber keine weiteren Auskünfte zu geben imstande ist: "Chiuso!" Die Betreiber des Al Biondo Tevere, des schon lange nicht mehr blonden Tibers, sind noch in den Ferien.

Depression im Spätsommer

Rom Anfang September macht nachdenklich. Die Touristen bilden wie das Kolosseum den einzigen Fixpunkt. Beide sind das ganze Jahr über da. Für die Römer selbst ist der Übergang vom Sommer in den Herbst jedes mal aufs Neue eine existenzielle Angelegenheit.

Karoshi, Tod durch Überarbeitung, nennen die Japaner ihren selbstgefährdenden Fleiß, der viele gerade nach Ferienende dahinrafft. Dafür sind die Römer nach allen gängigen Vorurteilen nicht prädestiniert. Aber wenn man sich so umhört bei den Nachfahren Morettis und Pasolinis, dann erfasst einen beinahe eine kleine Depression. Die ergibt sich für die Italiener, insbesondere die Römer, allein schon aus dem jährlichen Misslingen ihrer guten Ferienvorsätze: Nur zwei Prozent haben wie geplant während des Urlaubs abgenommen, 23 Prozent fühlen sich in guter Form, weiteren 23 Prozent ist Diät angeblich egal, was Zweifel an der Authentizität dieser Online-Umfrage des Landwirtschaftsverbands Coldiretti nährt.

Neuanfang und Zukunftsängste

Joe Luppino gehört zu denjenigen, die ihre Form gewahrt haben, aber dennoch nicht so richtig gut drauf sind. Früher ist der Mechaniker Motorradrennen gefahren, die zierliche Jockey-Figur hat er sich erhalten. Seine Motorrad-Werkstatt liegt nicht weit entfernt von Trastevere am kühlen Hügel Monteverde, auch ein früheres Pasolini-Geläuf. Hier lebte der Schriftsteller von 1954 bis 1963 und beschrieb etwa im Roman "Ragazzi di Vita" (1955) das kleinkriminelle Milieu der Vorstadt. Luppino, der zur in Rom seltenen Spezies der ehrlichen Mechaniker gehört, bekommt diese Spitzbübereien jetzt wieder täglich in seiner Werkstatt mit, wo er aufpassen muss, von manchen Kunden nicht über den Ladentisch gezogen zu werden. Er träumt von der griechischen Insel, die ihm den August so versüßte. "Vielleicht", Luppino denkt jetzt laut nach, "war die Öffnung meines eisernen Rollladens ein großer Fehler."

Rom Italien Hauptstadt Touristen Ara Pacis Brunnen

Touristen kühlen sich im Brunnen des Ara Pacis Monuments ab.

(Foto: AFP)

In der New Taxi Bar an der Ecke hat sich noch nicht endgültig erwiesen, welchen Effekt der Neuanfang haben wird. Der Pächter Mirko Isaachi hat im August umbauen lassen. Früher war sein Laden gelb und vergilbt wie einst die römischen Taxis. Heute ist er so weiß wie die neuen Modelle, die an der Rufsäule vor seinem Laden mit laufendem Motor warten. Die meisten Taxler sagen, die neue Optik der Bar würde ihnen gefallen. Aber die Feuerprobe steht noch aus, wenn die Schule in ein paar Tagen wieder beginnt und die Mütter, nachdem sie den Nachwuchs gegenüber in der Grundschule abgegeben haben, noch schnell einen Caffè trinken.

Diebesgut als Flohmarktware

Unten in der Viale Trastevere stehen die Accattoni jetzt wieder bereit, Bettler und Müllsammler, die im August nichts zu holen haben, weil mit dem Ausdünnen der Römer auch ihr Abfallausstoß einschläft. Jetzt, wo Porta Portese, der ebenso schäbige wie lebendige Markt, wieder zum Leben erwacht, lauern Dutzende von ihnen darauf, dass die Polizisten den Trödel um 14 Uhr für beendet erklären und sie freie Bahn haben zum Reste-Sammeln und -Verkaufen. Nicht wenige Römer haben an der Porta Portese auch schon das Fahrrad oder Handy wiedergefunden, das ihnen Tage zuvor gestohlen wurde. Eine füllige Polizistin mit Miami-Vice-Sonnenbrille gesteht, dass ihr der August lieber war, ohne das ganze Gesindel.

Seit 31 Jahren hat Maurizio Cavalieri einen Stand mit Pornofilmen auf dem Markt. "Der September war früher immer ein Monat der Hoffnung, Hoffnung, dass ein besseres Jahr kommen wird", sagt er. Die Zeiten sind vorbei. Neben seinem Stand packt gerade eine 84 Jahre alte Signora ihre Sachen, die jeden Sonntag aus der Vorstadt mit ein paar Gebrauchtwaren kommt, um sich ihre Pension aufzubessern. "Heute herrscht nach den Ferien vor allem Angst vor der Zukunft", sagt Cavalieri, dem man mit seinem weißen Prophetenbart jedes Wort abnimmt.

Endzeitstimmung in Rom-Süd

Cavalieri ist so etwas wie der Seelsorger von Porta Portese, bei ihm schütten die Händler und Kunden ihr Herz aus. Weil die schmutzigen Filmchen kaum noch über den Ladentisch gehen, verkauft er jetzt auch Schallplatten und Sammlerstücke verschiedener Art, Modellautos und Flugzeuge etwa, Kinderkram. Die Filme hat er mit einer Plastikplane abgedeckt, "als Schutz vor Minderjährigen". Verstaubte Pornos, ein Modellflugzeug, viele Sorgen. Endzeitstimmung in Rom-Süd.

General Views From Rome As Credit Rating Lowered

In den ersten Septembertagen ist die Luft milder und die Menschen sind entspannter als in der Hitze des Augusts. Doch viele sorgen sich um die Zukunft.

(Foto: Bloomberg)

Vielleicht ist das noch einmal ein geeigneter Anlass für einen schnellen Abstecher ins Centro Storico. Rom in seiner ganzen Blüte, Touristenscharen, die die Schätze der Stadt bewundern. Blauer Himmel, zwischen Abgasen und leichtem Scirocco changierende Septemberluft. Sogar das wieder auflebende Verkehrsspektakel auf der Piazza Venezia hat seine anarchische Ästhetik. An der Piazza Colonna haben sich unter den Arkaden ein paar Magier auf dem Trottoir niedergelassen.

Die Zukunft in den Karten

Carlo Francilotti sitzt hier seit 1982 und liest für 20 Euro aus der Hand oder blickt mit Tarotkarten in die Zukunft. Er saß auch den ganzen August über hier. Natürlich freut er sich, dass der September wieder mildere Luft und entspanntere Besucher bringt. Außerdem geht jetzt der Parlamentsbetrieb gegenüber in Montecitorio wieder los, und Francilotti wird einigen Abgeordneten wie jedes Jahr den weiteren Verlauf der Legislaturperiode prophezeien.

Auch ein paar Minister waren schon da, inkognito versteht sich. Und über Mario Monti, den Ministerpräsidenten und Retter Italiens, der in der Entfernung eines Steinwurfs im Palazzo Chigi arbeitet, will Francilotti kein Wort zu viel verlieren. Er sagt nur: "Das Leben ist kein Zufall. Alles ist einem großen Willen unterworfen." Jetzt will ein Mann im Anzug die Dienste des Kartenlegers in Anspruch nehmen. Der Magier winkt zum Abschied kurz. Der Sommer ist wohl vorbei.

Trattoria Pizzeria Il Biondo Tevere, Via Ostiense 178, Metro Garbatella, Tel.: 0039/065 74 11 72. Porta Portese: Wochenmarkt sonntags von 6 bis 14 Uhr. Trambahn Nr. 8 vom Largo Argentina bis Piazza Ippolito Nievo. New Taxi Bar, Circonvallazione Gianicolense 129, Tel.: 0039/06 58 23 05 89.

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