Rio de Janeiro vor der WM:Kicken wie die Cariocas

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Am Strand von Ipanema macht man sich als Tourist schnell lächerlich. Die Brasilianer dagegen halten den Ball auch beim Altinha-Spiel virtuos hoch.

(Foto: Mario Tama/Getty Images)

Wer mit den Einheimischen in Rio Fußball spielt, lernt nicht nur, was ein zauberhaftes Dribbling ist, sondern muss sich auch auf lange Nächte einstellen. Ein Selbstversuch.

Von Peter Burghardt, Rio de Janeiro

Ein Freitag in Rio de Janeiro wird gerade zum Samstag, als ich meine Karriere als Freizeitkicker fortsetze. Glorreich war meine Laufbahn nie, sie beschränkte sich nach Dauerfußball in meiner Kindheit auf sporadische Einsätze im Erwachsenenalter. Blamiert hatte ich mich zuletzt in einer überhitzten Halle von Asunción. "Ich habe lange nicht gespielt", entschuldigte ich mich in Paraguay. "Du hast sehr lange nicht gespielt", rief ein flinker Paraguayer, nachdem ich mehrmals ungestört das leere Tor verfehlt hatte.

Neuerdings passe ich unserem kleinen Sohn im Gang unserer Wohnung in Buenos Aires immerhin souverän einen Miniaturball in die Arme. Da wurde es also Zeit für ein Comeback. Aber wie macht man das im Zentrum des Jogo bonito, des schönen Spiels? Wie spielt ein Fremder in der wunderbaren Stadt, in der am 13. Juli die Weltmeisterschaft entschieden wird?

Ich hatte es, ehrlich gesagt, trotz diverser Besuche noch nie probiert. Das wöchentliche Match eines Freundes fiel aus, obendrein regnete es im südamerikanischen Spätherbst. Ein Taxifahrer gab sich nach der Wetterbesserung als ehemaliger Zweitligaprofi zu erkennen, während wir eine Stunde im Stau steckten und er auf korrupte Funktionäre schimpfte. Er lud mich für anderntags zu einem Grillfest mit Partie in einen Vorort der Baixada Fluminense ein, das wäre eine Möglichkeit gewesen. Ist nur ein bisschen weit, noch dazu bei dem Verkehr. Strandfußball im Sand von Copacabana oder Ipanema wollte ich auch lieber sein lassen, da macht sich unsereiner lächerlich. Also zog ich kurz entschlossen meine neutral schwarzen Sportklamotten an und wagte mich eine halbe Stunde vor Mitternacht zu den Aterros do Flamengo, dem Ort der ewigen Dribblings.

Wie Rios berühmtester Sportverein

Die Aterros sind ein lang gezogener Park an der Bucht von Flamengo, rechter Hand steht der Zuckerhut, und linker Hand liegt der Stadtflughafen Santos Dumont. Das Viertel trägt schon deshalb einen klingenden Namen, weil auch der berühmteste Sportverein von Rio so heißt, die Heimat von Zauberern wie dem ehemaligen Mittelfeldgenie Zico. Die Anlage oberhalb des Strandes war zuletzt zwar weniger gut beleumundet, es gibt da immer mal wieder Überfälle. Als ich ankomme, kontrollieren an der Hauptstraße nebenan Polizisten an einem quer geparkten Streifenwagen, das Rotlicht des Fahrzeugs blinkt im Halbdunkel. Gegenüber leuchten die grünen Buchstaben des Hotels Novo Mundo. Doch auf diesen städtischen Plätzen wird wie immer mit Gebrüll gespielt, kostenlos und zumindest an Wochenenden 24 Stunden lang.

Gleich ist es Mitternacht, in den Bars einige Ecken weiter sitzen die Menschen beim Bier. Hier dagegen beleuchtet Flutlicht mehrere voneinander abgetrennte Parzellen mit ordentlichem Kunstrasen, hinter denen es mangels offizieller Pissoirs teilweise streng riecht. Ich hatte gelesen, dass irgendwann nach der Sperrstunde sogar Kellner auflaufen, so gegen drei Uhr morgens, dafür ist es noch zu früh. Aber es laufen etliche Partien, und es warten Männer, auf deren Trikots Jefferson und 99 steht oder Marlon und 20.

Warten auf die "dois gols"

Ein anderer steckt in einem deutschen Shirt, der brasilianische Respekt vor Futebol aus Alemanha beunruhigt mich. Soll ich mich besser als Österreicher ausgeben? Ich wende mich an einen gestikulierenden Wortführer im rotschwarz gestreiften Hemd von CR Flamengo mit Aufdruck Junior. Ob ich mitmachen dürfe? "Wir spielen ein Turnier", erläutert er freundlich und bestimmt, ich solle es bei den gemischten Teams probieren.

Auf der einen Seite amüsieren sich Immigranten aus Argentinien, Chile und Bolivien. Ich solle Moises fragen, den im weißen Dress von Real Madrid, rät ein Chilene, es gebe bestimmt kein Problem. Aber in Brasilien sollten es für meinen Geschmack schon Brasilianer sein. Nächster Versuch, bei Einheimischen auf der anderen Seite, sechs gegen sechs. Am Maschendrahtzaun steht einer mit Bauchansatz, Anfang dreißig vielleicht. Er stellt sich auf Anfrage als André vor und kommt aus Vila Isabel, der Stadtteil in Rios Norden nahe des Maracanã-Stadions ist bekannt für seine Sambaschule. Die meisten seiner Mitstreiter sind wie er Verkäufer. Kann ich mitspielen? Von ihm aus gerne. Wir müssten bloß warten, bis eine der in diesen Momenten aktiven Mannschaften "dois gols" geschossen habe, zwei Tore.

Das dauert. Technisch kommen mir die meisten vor wie die droben im WM-Camp der brasilianischen Nationalelf in Teresópolis Neymar, ein paar junge Pelés ziehen Übersteiger und Körperdrehungen eindeutig dem schnellen Abspiel und Abschluss vor. Mehrmals fliegt der WM-Ball Brazuca außerdem über den Zaun, begleitet von Schimpfwörtern wie "porra". Währenddessen erzählt mein Kontaktmann André von seiner Liebe zum Stadtteil Botafogo und seinem Ärger über die teure WM. "Ich wollte die WM nicht, ich sehe da keinen Nutzen für uns. Meine Tochter bräuchte eine bessere Schule." Dann fällt vor uns der Treffer Nummer zwei, nach dem man jeweils wechselt.

Es ist so weit, der Deutsche wird aufgenommen wie ein alter Bekannter. Man freut sich über exotischen Besuch. Spielst du oft? "Não." Daumen hoch, "tudo bem", alles gut. "Schwejnstejger", ruft einer, und "Thommas Muller". Zum Aufwärmen ist keine Zeit, ich weiche dem launischen Brazuca fürs Erste aus. Meine Kollegen heißen Elías, Felipe, Mauricio und so weiter. Der kleine Elías trägt die Farben Flamengos und ist barfuß unterwegs, er besitzt momentan keine Fußballstiefel. Doch er legt wie die anderen gleich los.

Wir, beziehungsweise meine Jungs, spielen unsere Gegner in ungefähr zwanzig Minuten 2:0 an die Wand, ich bemühe mich um fehlerfreie Unauffälligkeit. Unser zweites Tor besorgt ein schlaksiger Wirbelwind im Shirt von Vasco da Gama, dem einheimischen Team, für das Romário einst zum 1000. Mal getroffen hatte.

Ach, Ronaldo, Kaká, Ronaldinho

Danach setzen wir für ein Match aus. Der schuhlose Elías erzählt mir, dass er aus dem Morro da Providência kommt, der ersten Favela Rios. Dort ist eine Friedenseinheit der Militärpolizei stationiert. Wir reden über Brasilien, Argentinien und Deutschland, ich lobe Brasilien. Er sagt: "Willst du mit mir tauschen?" Bald wechsle er zum FC Bayern, sagt er todernst und lacht. Die aktuelle Seleção findet der Amigo Elías so mittel, er bewundert trotz seiner Jugend Ronaldo, Kaká und Ronaldinho. Im Maracanã wird der Schüler und Händler Elías aus dem Armenviertel natürlich kein einziges Spiel der Weltmeisterschaft sehen, "viel zu teuer". Wie lange werden sie eigentlich heute Nacht spielen? "Bis wir müde werden."

"Schau mal, der Deutsche"

Weiter geht es. Diesmal läuft unsere Truppe oben ohne auf, denn einheitliche Leibchen wie andere haben wir nicht. Mein Einwurf von links bringt unseren Torwart in Bedrängnis, anschließend revanchiere ich mich nach einem Abschlag mit einem irgendwie gewonnenen Zweikampf. "Schau mal, der Deutsche", jauchzt einer. Ich kündige meine sofortige Unterschrift bei Flamengo an.

Ansonsten lernt man gleich die bedeutenden Kommandos. Vor einem Hintermann zum Beispiel wird mit dem Wort "ladrão!" gewarnt, Dieb! Zwischendurch herrscht am gegnerischen Strafraum Aufregung nach einem Tritt gegen ein ungeschütztes Schienbein, wir schlichten ohne Schiedsrichter. Der Gefoulte steht nach theatralischem Fall bald wieder auf, und alle beruhigen sich. Das Duell zieht sich um kurz nach eins in die Länge, ohne dass ich entscheidende Beiträge für eine Entscheidungsfindung leisten würde. Unserem Elías tun allmählich die Füße weht. Felipe macht mit einem Flachschuss das 2:1.

Ich verabschiede mich um halb zwei, ein quirliger Neuling im Fluminense-Trikot ersetzt mich und wirkt erheblich effektiver. Ich trotte bester Laune zur Straße auf der Suche nach Taxi und Bier, zunächst kommen die Müllabfuhr und ein Müllsammler mit Handwagen des Weges. Zurück bleibt der Aterro do Flamengo, mein Maracanã. "Klinsmann", schreien mir meine Amigos hinterher, es klingt nicht schlecht.

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