Reiseziele:Wie viel können Sehnsuchtsorte aushalten?

06 10 2016 Cirali Strand Mittelmeer t¸rkische Riviera T¸rkei Provinz Antalya leere StrâÄ°nde leerer St

Der Cirali-Strand an der türkischen Riviera ist leer - trotzdem bleibt das Land ein vielbesuchtes Urlaubsziel.

(Foto: imago; Bearbeitung SZ)

Gestern Traumziel, heute abgemeldet - die Beliebtheit von Reisezielen schwankt teils enorm. Was Urlauber abschreckt und wie die Branche reagiert.

Von Irene Helmes

"Also dahin würde ich zurzeit auf keinen Fall fahren." Keinen Satz fürchten Orte, die ihr Geld mit Urlaubern verdienen, mehr als diesen. Wenn Ziele nicht mehr wie Versprechen klingen, sondern an Anschläge, Unruhen, Erdbeben oder Epidemien erinnern, können Strände leer bleiben, Hotels und Restaurants bankrottgehen, Menschen ihre Arbeit verlieren. Islamistische Terroristen versuchen, ganze Gesellschaften mit diesem Szenario zu erpressen. Allerdings zeigt sich immer deutlicher: So einfach ist die Sache nicht.

Die vergangenen Jahre haben einigen Reisezielen zwar stark zugesetzt. In Ägypten etwa fielen die Touristenzahlen im Juli 2016 nach diversen Anschlägen im Vergleich zum Vorjahr um fast die Hälfte. Doch in Kooperation mit Behörden setzt die Reisebranche international verstärkt auf Sicherheitsmaßnahmen. Zufahrtskontrollen, Kameraüberwachung und Metalldetektoren in Hotels, bewaffnete Patrouillen an beliebten Plätzen und Stränden, Apps für den Krisenfall und digitale Monitoringsysteme für Veranstalter - derlei Methoden waren nicht nur auf der weltgrößten Reisemesse ITB im März das bestimmende Thema.

Touristen werden auch direkt angesprochen. Britische Anti-Terror-Behörden haben für diese Hochsaison ein Vier-Minuten-Video ins Netz gestellt, das konkrete Verhaltensregeln für den Notfall im Urlaubshotel gibt - nach dem Motto "run, hide, tell" (wegrennen, verstecken, Hilfe rufen). Es sind dramatische Szenen, die da völlig pragmatisch gezeigt werden. Man solle, so die Botschaft, eben auch auf unwahrscheinliche Schreckensszenarien vorbereitet sein, um im Ernstfall schnell reagieren zu können - anstatt aus Angst zuhause zu bleiben.

Den Balanceakt schaffen zwischen sichtbaren Vorsichtsmaßnahmen und betonter Gelassenheit: Das scheint das neue Mantra im Tourismus zu sein. Doch die Risikowahrnehmung Reisender ist sehr unterschiedlich. Zum Leidwesen der einen, zur Erleichterung der anderen.

Ägyptens Tourismusminister Yahya Rashed klagte vor einiger Zeit in einem Interview, man habe das Land sicher gemacht und sitze im selben Boot mit europäischen Anschlagszielen - und doch hätten in seinem Land Hunderte Hotels schließen müssen. Mittlerweile wird Ägypten ein Comeback attestiert, doch laut Branchendienst "Reise vor9" erleben aktuell immer noch die Hälfte der befragten deutschen Reisebüros das Thema Sicherheit in Beratungsgesprächen zu Ägypten als "wichtig" für ihre Kunden.

In Nizza wiederum, wo sich am 14. Juli der verheerende Anschlag am Nationalfeiertag zum ersten Mal jährt, wird vom "Moment der Wiedergeburt" gesprochen. Nach großen Gedenkveranstaltungen soll "ab dem 15. Juli das Leben komplett auf die Promenade des Anglais zurückkehren", hat der für Tourismus zuständige Lokalpolitiker Rudy Salles angekündigt. Auch Veranstaltungen werden dann wieder überall erlaubt sein. Was die Besucherzahlen betrifft: Nach der Attacke verzeichnete Nizza kurzfristig einen Rückgang um zehn Prozent. Mittlerweile ist das Niveau des starken Jahres 2015 schon wieder erreicht.

Andere Orte, die fast völlig vom Tourismus abhängen, sind mit länger anhaltender Wucht geschädigt worden. Als 2015 in Sousse Badeurlauber am Strand niedergeschossen wurden, war klar, hier hatten Touristen sterben sollen - nicht nur das betroffene Hotel blieb lange geschlossen. Zehntausende Tunesier haben während der vergangenen Jahre ihren Job verloren, das Land musste als Ziel um seinen Ruf kämpfen.

Eine mehrfach attackierte Weltstadt wie London versucht dagegen offensiv das alte Weltkriegsmotto "Keep calm and carry on" zu leben. Europa gewöhne sich soweit möglich an den Terror, das klang zuletzt immer öfter durch. Ob in Berlin, Stockholm, St. Petersburg oder Paris, das Leben und Reisen in den Metropolen geht weiter. Seit Einzeltäter immer öfter an unvorhersehbaren Orten zuschlugen, dürfte sich auch die öffentliche Wahrnehmung ändern. Wenn es "sowieso überall passieren kann", macht es wenig Sinn, als Reisender gezielt einzelne Städte oder Gegenden zu meiden. Und ohnehin wird der Abschreckungseffekt von Anschlägen und Krisen überschätzt, sagt Professor Martin Lohmann.

"Eine Algenpest hat einen größeren Effekt als die politische Lage"

"Man darf nicht immer alle Urlauber über einen Kamm scheren", betont der Wissenschaftler Lohmann. Risiko werde extrem unterschiedlich eingeschätzt. Wer ohnehin keine nennenswerte Gefahr für sich sehe, könne auch an angeblich kritischen Orten für sich sehr attraktive Urlaubsangebote finden. Das bestätigen auch Buchungstrends für den Sommer 2017. Die Veranstalter Studiosus und FTI etwa melden seit geraumer Zeit verschiedene Entwicklungen beim Türkei-Geschäft: Während sich Bildungsreisende zurückhalten, haben billige Badeangebote besonders im Last-Minute-Geschäft Aufwind.

Touristenflaute in Relation

Türkei

Deutsche Urlauber: 5,6 Millionen im Jahr 2015, vier Millionen im Jahr 2016

Einnahmenverluste im Jahr 2016 um etwa ein Drittel (8,5 Milliarden Euro) / (Türkisches Amt für Statistik)

Ägypten

Im Juli 2016 42 Prozent weniger ausländische Gäste als im Juli 2015 (ägyptische Statistikbehörde)

Frankreich bleibt Tourismus-Weltmeister

vom Rekordjahr 2015 mit 85 Millionen ausländischen Besuchern zu immerhin noch 83 Millionen im Jahr 2016

Das Verhalten von Reisenden ändere sich letztlich erst, wenn Probleme für sie direkt spürbar werden, so Lohmanns Langzeitbeobachtung: "Eine Algenpest hat einen größeren Effekt als die politische Lage." Der Psychologe untersucht seit vielen Jahren systematisch das Urlaubsverhalten der Deutschen und ist zu dem Schluss gekommen, dass hinter sinkenden Gästezahlen oft andere Gründe stecken als vielleicht zunächst naheliegend scheint.

"Für Griechenland etwa hieß es 2010, 2011, dass nun weniger Deutsche hinfahren würden, weil die Griechen Frau Merkel als Nazi bezeichneten", erinnert Lohmann. Tatsächlich aber habe man für Griechenland schon seit 2004 Verluste festgestellt: "Griechenland hatte schlicht den Anschluss verpasst, bot zu wenig für zu viel Geld - das wäre auch ohne Krise und Nazi-Vergleiche weiter nach unten gegangen." Während des Tiefs habe man dann begonnen, das Angebot zu verbessern. Nun - verstärkt durch Probleme in Nachbarländern - ist vom nächsten griechischen Rekordsommer die Rede.

Fehlinterpretationen sieht Lohmann auch für Frankreich. Dieses ist trotz der erschreckenden Anschläge der vergangenen beiden Jahre weiterhin das meistbereiste Land der Welt und erwartet für 2017 mit bis zu 89 Millionen Besuchern einen neuen Allzeitrekord. Dass die Hotels besonders in der Hauptstadt in den vergangenen Jahren dennoch schlechtere Belegung meldeten, müsse nicht zwangsläufig oder ausschließlich am Terror liegen: "Die schlechte Qualität Pariser Hotels ist geradezu legendär, das wird irgendwann bestraft."

Was bleibt Hotels, die um ihre Gäste kämpfen müssen? Auf schwankende Besucherzahlen reagieren viele kurzfristig mit Schleuderpreisen, wie sie derzeit aus der Türkei kommen. Dort kann eine Woche im Fünf-Sterne-Hotel am Strand mit Flug und All-Inclusive pro Person weniger als 500 Euro oder sogar um die 300 Euro kosten.

Solche Notmaßnahmen seien zwar wirtschaftlich womöglich vernünftig - "aber für ein Hotel sind niedrige Auslastung und niedrige Preise natürlich eine Katastrophe - und damit auch für diejenigen, die dort arbeiten oder ihren Job verlieren", so Lohmann. Was das wiederum mittelfristig für die Entwicklung in einem Land bedeutet, hält er aber für offen: "Politische Auswirkungen kann man sich in beide Richtungen vorstellen - entweder, dass die Politik etwa in der Türkei wieder befriedet wird nach dem Motto 'dann sind wir lieber netter', oder dass es zu einer Radikalisierung beiträgt - beides ist denkbar."

In jedem Fall warnt er davor, Zahlen zu ignorieren, wenn sie gerade nicht ins Bild passen: "Die Türkei war 2016 immer noch das zweitwichtigste Mittelmeerreiseziel der Deutschen." Alles spreche dafür, dass auch in diesem Jahr wieder Millionen hinfahren. Zwar geht er davon aus, dass das Land auch in den kommenden Jahren viele Gäste verlieren werde im Vergleich zu 2015 und vorher - "aber das niedrigere Niveau ist immer noch sehr gut."

Austauschbar oder unersetzlich?

Neben Sicherheitsmaßnahmen und unschlagbaren Angeboten scheint mittlerweile ein weiterer Punkt immer entscheidender für die Krisenresistenz von Urlaubsdestinationen: Sympathie oder Verbundenheit. Die Frage also, ob man das, was in einem Land passiert, überhaupt an sich heranlassen will, im Fall umstrittener Innenpolitik gar unterstützen möchte durch die eigene Anwesenheit und das Geld, das man mitbringt.

An der Frage von Boykotts scheiden sich seit jeher die Geister und die Debatte über Sinn und Unsinn dreht sich im Kreis. Mit Blick auf die Türkei ist wegen der Politik Erdoğans die Forderung nach demonstrativem Fernbleiben durchaus schon lautgeworden - etwa vor dem Verfassungsreferendum im Frühjahr durch die Linken-Politikerin Katja Kipping. Umgekehrt gibt es die leidenschaftliche Forderung, gerade in solchen Zeiten Andersdenkende im Land nicht von der Welt abzuschneiden, wie etwa der Historiker Timothy Garton Ash in einem Gastbeitrag in der SZ argumentiert hat. Der Präsident des Deutschen Reiseverbands, Norbert Fiebig, betonte im Frühjahr: "Ein Boykott eines Landes schadet meist nicht der Regierung, sondern vor allem den Menschen, die ihren Lebensunterhalt aus dem Tourismus beziehen".

Appelle, sich von nichts abschrecken zu lassen, dürften vor allem bei Menschen verfangen, die Orte bereits aus unbeschwerteren Zeiten kennen. Denn Beziehungen halten vieles aus, das gilt auch für Urlaubsorte. "Stammgäste haben tiefere Einsichten - wenn man eine engere Bindung zum Land hat, spielen Krisen eine geringere Rolle", sagt auch Lohmann. Für ein Reiseziel ist also mit entscheidend, ob es als besonders wahrgenommen und geschätzt wird. Oder ob es einfach nur ein Ort unter Tausenden ist, an denen sich ein Liegestuhl aufstellen, ein kaltes Getränk genießen oder eine Landschaft bewundern lässt. Denn, so zeigen Lohmanns Studien: "Touristen wollen sich willkommen geheißen fühlen, sich als Gast wohlfühlen - das bestimmt die Besucherzahlen mehr als ein paar Terrorattacken."

Wo sind denn nur alle?

Von den Problemen überlaufener Reiseziele wird hier nur geträumt: An manchen Orten bleiben viele Gäste aus. Reportagen und Geschichten über das, was dann passiert:

  • Reisen? Jetzt erst recht!

    Terrorismus heißt Unfreiheit, Abschottung, Hass. Deshalb ist Tourismus das Gegenteil, denn Reisen bedeutet Freiheit, Weltoffenheit, Neugier auf Fremdes. Warum wir weiter Urlaub machen sollten.

  • Egypt to end visa on arrival policy for independent travelers Comeback in Gefahr

    Nach Revolution und Anschlägen kamen zuletzt wieder mehr Urlauber nach Ägypten. Nun aber droht der wichtigen Branche eine neue Krise.

  • Amelia Das schöne Herz Italiens wartet auf Gäste

    Malerische Dörfer, Gelassenheit, gute Küche: Umbrien hat, was Urlauber suchen. Doch die meiden die Region aus Angst vor neuen Erdstößen. Was jetzt?

  • Istanbul Warum mich niemand mehr in Istanbul besuchen möchte

    Seit einem Jahr lebt unser Autor als Türkei-Korrespondent in Istanbul. Früher war die Stadt ein beliebtes Ziel von Touristen - jetzt trauen sich seine deutschen Freunde nicht mehr, in die Türkei zu reisen. Darum fasst er einen traurigen Beschluss.

  • Einkaufen ohne Geld oder die türkische Mülltüten-Logik

    Unsere Autorin war mit 19 Jahren das erste Mal in Italien. Als Münchnerin! Als Kind war sie jede Ferien in der Türkei. Und lernte dabei: Das Land ist immer eine Reise wert - egal ob gerade Putsch Nummer drei oder vier ist. Die siebte Folge der "Isartürkin".

  • In einem getroffenen Land

    Seit den Anschlägen meiden Touristen das klassische Urlaubsziel Tunesien. Doch die Gastgeber lassen sich nicht unterkriegen.

  • Fährt man hin, fährt man nicht hin?

    Auf nach Istanbul? Oder die Türkei boykottieren? Eine Reise in Länder, die Menschenrechte missachten, kann eigene Ansprüche auf die Probe stellen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: