Reiseverhalten:Unser Thailand

Fernziele sind nicht mehr fern, wir fühlen uns in Bangkok ebenso zuhause wie in Istanbul. Die Welt ist kleiner geworden. Aber kennen wir sie deswegen besser?

Kai Strittmatter

Kurt Tucholsky hätte die Idee mit den Konsumgutscheinen gut gefunden. Und auch eine Verwendung dafür gehabt: "Man sollte jedem Deutschen noch fünfhundert Mark dazugeben, damit er ins Ausland reisen kann", schrieb der Schriftsteller und Journalist 1924: "Er würde sich manche Plakatanschauung abgewöhnen - wenn er vorurteilslos genug ist, die Augen aufzumachen."

Reiseverhalten: Touristen warten am 3. Dezember am Internationalen Flughafen von Bangkok auf ihren Rückflug.

Touristen warten am 3. Dezember am Internationalen Flughafen von Bangkok auf ihren Rückflug.

(Foto: Foto: AFP)

Ein schöner Traum. Der vom Reisen, das bildet. Ein Traum, in dem vor dem Hinausrufen der Weltanschauung das genaue Anschauen der Welt steht. Tucholsky wollte den Deutschen damals ihre Klischees über die Franzosen austreiben.

Heute kann man uns nicht mehr den Vorwurf machen, wir reisten nicht. Reisen kommt als Glücksversprechen gleich hinter der Liebe und dem Essen. Man ist hinausgezogen in die Welt, und die Welt ist einem praktischerweise auf halber Strecke entgegengekommen.

Die Bilder der letzten Tage aus Thailand, die über 300.000 gestrandeten Urlauber, erinnern uns an die denkwürdige Tatsache, dass es heute Leute gibt, die inzwischen die Gassen rund um Bangkoks Khao-San-Straße besser kennen als die in Berlin. Und zwar nicht wenige.

Sie sehen die Bilder vom lahmgelegten Flughafen in Bangkok und diskutieren mit den Kollegen im Büro: Oh Gott, geht unser Weihnachtsurlaub nicht dahin? Was früher die Fahrt in die Sommerfrische auf dem Land war, ist heute der winterliche Zug in den Süden, an Thailands Strände.

Die Welt ist schon verdammt klein geworden. Wir alle leben längst unsere private Globalisierung, egal, ob wir zu Hause beim Thailänder an der Ecke essen oder in Bangkok beim Paulanerbräu. Manche fliegen für eine Hochzeit nach Shanghai oder für einen Clubabend nach Istanbul.

Aufregend? Vielleicht, aber mit den weißen Flecken ist auch der Zauber verschwunden: China hat sogar das mythische Paradies Shangri-la, einst Inbegriff für einen auch geographisch unerreichbaren Glückszustand, vom Himmel geholt und verscherbelt es gegen Devisen, Jacuzzi mit Blick auf Schneegebirge inklusive.

Und die Exotik? Die Geologie bezeichnet solche Körper als exotisch, die ihrer Umgebung fremd sind, Geröll auf einer Wiese etwa. Exotisch also ist heute, wo Münchner Familien zum Silvesterabend mongolischen Feuertopf servieren, nur mehr eines: Der Deutsche selbst am Urlaubsstrand.

Überall Heimat

Und jetzt, wo uns die Ferne so nah ist, wo wir das Reisen fast zwanghaft betreiben, sind da unser "Geist veredelt" und unsere "Vorurteile aufgeräumt", wie Oscar Wilde hoffte? Ja, unser Interesse an manchen Weltgegenden ist gewachsen. Dass so viele Abend für Abend gebannt an Tagesschau-Berichten über innenpolitische Kungeleien in Bangkok hängen, das wäre vor einigen Jahren noch nicht passiert.

Nicht wenigen gehen neue Horizonte auf. Allgäuer Gymnasien schicken ihre Schüler zu einem Austauschjahr nach China. Und gerade im Falle Istanbuls ist zu beobachten, welch aufklärerische Wirkung auch der hedonistischste Kurzausflug haben kann: Erstbesucher sind meist bass erstaunt ob der Vielfalt und Moderne des Treibens in der Stadt.

Und dennoch ist die Bilanz ernüchternd. Weil der im Falle Istanbuls so wohltuende Effekt ("Die Türken sind ja gar nicht so!") sich auch anders auswirken kann. Im Falle Chinas zum Beispiel ist oft zu beobachten, wie verblüffte Besucher das alte Klischee durch ein neues ersetzten, und wie sie noch an Ort und Stelle in einen China-Taumel ("China beherrscht die Welt!") fallen. Und viele fahren zwar in die Welt, die Welt soll ihnen dabei aber nicht zu nahe kommen.

Der Blick auf die Welt durch Gitterstäbe

War Reisen einst ein Ausbruch aus der Heimat, aus dem Gewohnten, so ist es für die Masse heute höchstens noch Hofgang: Sie schleppen die Gitterstäbe noch mit, durch die sie auf die Welt blicken.

Die Industrialisierung des Reisens hat es mit sich gebracht, dass man sich der Welt nicht mehr aussetzt - man eignet sie sich an. Man kann zwei Wochen auf Safari durch Kenia und Tansania fahren, ohne auch nur einen Afrikaner zu Gesicht zu bekommen, der nicht ein Tablett in der Hand hält. Die Verwandlung der Fremde in Heimat geht heute fast unmerklich, wo ein Starbucks-Café in Hamburg auch nicht anders aussieht als eines in Bangkok. Egal, ob auf Pukhet oder auf Koh Samui, überall heißen einen deutsche Metzger, deutsche Rechtsanwälte und ein deutscher Immobilienhändler willkommen.

Und bloß weil einer keinen Koffer hinter sich her zieht, sondern einen Rucksack trägt, macht ihn das nicht automatisch wissbegieriger: Thailands Haad-Rin-Strand - mit seiner Fullmoon-Party ein Muss für jeden Asien-Reisenden unter 25 Jahren - ist Neckermann-Urlaub für Alternative.

Die Welt als Kitzel

Die Welt ist so klein wie nie, aber ist der Wissensdurst gewachsen? Eine Reihe von Korrespondenten von ARD und ZDF hat sich im letzten Jahr zu Wort gemeldet und einen sinkenden Stellenwert der Auslandsberichterstattung beklagt. Auch eine neue Studie des "Netzwerk Recherche" stellt "erhebliche Defizite" in deutschen Medien fest: Zum einen gebe es eine Hinwendung zu Innenpolitik und Lokalem, zum anderen nehme auch bei Auslandsberichten der Deutschlandbezug stark zu.

Unter den 100 Bestsellern von Amazon in diesem Jahr befassen sich gerade zwei mit dem Abenteuer Fremde: "Die Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann auf Platz 64 und auf Platz 75 der "Diercke Weltatlas". Auf Platz drei, immerhin, eine "philosophische Reise" von Richard David Precht: "Wer bin ich - und wenn ja wie viele?" Wir gehen also in die Welt - und drehen uns dort vor allem um uns selbst.

Die Masse will die Welt nicht unbedingt kennenlernen, sie will sich nur ein wenig kitzeln lassen. Manchmal aber, da kitzelt die Welt nicht nur, da holt sie aus und versetzt einem einen Stoß zwischen die Rippen. Dann kriegt die virtuelle Wirklichkeit einen Riss, und die Realität holt alle ein, die annehmen, ein Land, das im TUI-Katalog stehe, käme mit Vollkaskoversicherung.

Das ist so auf noch glimpfliche Weise jenen geschehen, die in Bangkok festsaßen. Viel grausamer mussten das die erfahren, die im Dezember 2004 dem Tsunami zum Opfer fielen, oder jene, die ins Kreuzfeuer der Terroristen von Mumbai gerieten.

Die Verlockung weltweiter Aufmerksamkeit

Bemerkenswert ist, wie eben jene Kräfte der Globalisierung, die die Europäer nach Asien treiben, auch hinter den Vorfällen von Bangkok und Mumbai wirkten: In Thailand wie in Indien ging es um die Destabilisierung der nationalen Regierungen - und doch suchten sich die Demonstranten von Bangkok wie die Terroristen von Mumbai Zielorte, an denen sie Europäer und Amerikaner treffen konnten. Weil ihnen so weltweite Aufmerksamkeit sicher war. Dies wird auch in Zukunft eine Verlockung bleiben.

Wird dies uns vorsichtiger machen? Kaum anzunehmen. Nach dem Tsunami dauerte es keine zwei Jahre, bis Thailand wieder boomte. Der Mensch vergisst schnell. So ist das eigentlich Überraschende erneut die Überraschung, ja Empörung der Reisenden selbst, die feststellen mussten: Die Welt ist noch lange nicht so heimelig wie vermutet.

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