Reisen neu lernen:So gut wie weg

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Urlaub ist inzwischen Alltag bei besserem Wetter und schlechteren Wohnverhältnissen - der Beginn vom Ende des Massentourismus.

Matthias Drobinski

Der erste Sommerferientag war immer ein besonderer Tag. Unsereins stand noch früher auf als zur Schulzeit, jede Minute dieser sechs Wochen war kostbar. Der Himmel war weit und blau, es roch nach Heu und Wiese, und der Magen zog sich zusammen vor Fernweh.

Es ging dann meist ins Zeltlager in den Odenwald oder den Pfälzer Wald; einmal fuhr die ganze Familie mit dem Ford Transit über den Brenner an die Adria, wo die Eiskugeln unendlich groß waren und die Sonne den ganzen Körper durchwärmte; abends zirpten die Grillen und zischten die Mücken in den elektrischen Insektenfallen, das Meer rauschte, und Camper und All wurden eins.

Friedrich Schlegel, der Dichter der Romantik, hat gesagt, dass im Reisen die "Sehnsucht nach dem Unendlichen" wohne. Als er 1803 durch Frankreich nach Paris kutschierte, waren solche Fahrten die Angelegenheit einer kleinen Oberschicht, deren Angehörige auf den Kavalierstouren sich bilden und vervollkommnen sollten - manche sammelten allerdings wüste Frauen- und Saufgeschichten.

Eine Generation später, 1845, eröffnete der Brite Thomas Cook in Leicester das erste Reisebüro der Welt, wieder eine Generation später wurden die Sommerfrische und der Skilauf populär. Die Nazis verordneten den Deutschen den ersten Haufentourismus, und nach dem Krieg demokratisierte sich für die Westeuropäer das Reisen: Meerblick incl. Frühstück für alle.

Die Entwicklung des Tourismus ist eine Erfolgsgeschichte, die nur mit dem Triumphzug des Autos in die Garagen und Herzen zu vergleichen ist. Die Branche hat weltweit die meisten Angestellten und liegt auch beim Umsatz ganz weit vorne; zwei von drei Deutschen werden dieses Jahr verreisen.

Nichts hat das Bewusstsein für die Globalisierungsprozesse so sehr vorangebracht wie die Flugreise.

Im vergangenen Jahr hat Peer Steinbrück, der Bundesfinanzminister, unvorsichtigerweise die Deutschen ermahnt, beim Urlaub zu sparen und dafür mehr Geld in die Altersversorgung zu stecken - die allgemeine Empörung prasselte auf den Mann hernieder wie ein Sommergewitter über Palma de Mallorca.

Gerichtsverfahren über missglückte Reisen werden mit gleicher Verbissenheit geführt wie über Nachbarschaftsstreitigkeiten: Die Sehnsucht nach Ferne erfüllt zu bekommen, gilt Früh- wie Spontanbuchern als Menschenrecht.

Der Jedermannstourismus wiederum hat das Reisen von Grund auf geändert. Er hat die Strände und Berge zubetoniert, die Pfade zu Straßen ausgebaut, er vergrößert das Ozonloch und verbraucht Wasser in obszöner Menge, er verändert unwiederbringlich Kulturen wie Ökosysteme und hat an seinen Rändern Elemente des Kolonialismus. Und: Reisen ist nicht mehr Sehnsucht nach dem Unendlichen.

Reisen bedeutet, viele Menschen in einer kurzen Zeit auf begrenztem Raum zu konzentrieren, sie tagsüber mit dem Lärm der eigenen Kinder und nachts mit den Bässen der Diskothek zu beschallen. Das ist allgemein kein böser Wille der Urlaubsveranstalter, sondern der Ökonomie geschuldet: Wer möglichst lange möglichst billig reisen will, darf sich über Mitreisende nicht wundern.

Reisen bedeutet auch nicht mehr, Fremdes zu erfahren, seit Türken, Spanier und Italiener investieren, damit der Gast sich heimisch fühlt: Urlaub ist die Fortsetzung des Alltags bei besserem Wetter und schlechteren Wohnverhältnissen.

Es spricht viel dafür, dass dieser Massentourismus seinen Zenit überschritten hat. Es wird ihn weiterhin geben, solange es Menschen gibt, die wenig Geld haben und die sich, statt zu Hause zu wandern, lieber in eine umgebaute Besenkammer am Mittelmeer setzen. Doch zunehmend wollen die Reisenden nicht mehr Touristen sein.

Sie wollen etwas für sich tun, mit sich, ihren Freunden, ihrer Familie unterwegs sein; sie wollen verändert wiederkommen. Dass seit einigen Jahren der Urlaub in Deutschland boomt, ist nicht einfach der Terrorangst geschuldet - die Leute kapieren den Unterschied zwischen einem Fernflug mit anschließender Vollverpflegung und einer Reise.

Reisen ist überall

Deshalb ist es an der Zeit, dem Tourismus wieder das Reisen abzutrotzen. Ein Reisender wird zum Fremden auf Zeit, an der Mecklenburger Seenplatte wie in Vietnam - und das ist das Faszinierende am Unterwegssein. Wer sich fremd macht, indem er die Koffer packt, muss offen sein für die anderen, für Einheimische und Mitreisende; er wechselt Standorte und Standpunkte, lässt sich befremden, irritieren, verunsichern.

Hape Kerkelings Buch über seine Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela konzentriert den Unterschied vom Touristen zum Reisenden im Titel: Ich bin dann mal weg. Wer reist, ist weg. Der schafft sich eine eigene Wirklichkeit auf Zeit, einen Freiraum.

Ob er ihn nutzt, um Kirchen zu besichtigen oder keuchend mit dem Mountainbike Bergpässe zu bezwingen, um zu lesen, sich Gurkenscheiben auf die Augen legen zu lassen oder einfach sich der Kunst des Müßiggangs hinzugeben - das ist zweitrangig.

Friedrich Schlegels Sehnsucht nach dem Unendlichen ist an keinen Ort und an keine Handlung gebunden; sie kann es überall geben.

Auch dreißig Kilometer von zu Hause entfernt, mit einem Rucksack auf dem Rücken.

© SZ vom 18.7.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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