Reisebuch:Urbane Dörfer

Walter Niedermayr porträtiert die Architektur im Fleimstal - darin spiegelt sich ein besonderes Gemeinwesen.

Von Stefan Fischer

Predazzo ist der größte Ort im Fleimstal und hat doch keine 5000 Einwohner. Das Tal, Val di Fiemme auf Italienisch, südöstlich von Bozen gelegen und bekannt auch durch Weltcup-Wettbewerbe von Langläufern und Nordischen Kombinierern, ist eindeutig ländlich geprägt. Gemeinsam bringen es die elf Gemeinden der Talschaft auf 23 000 Einwohner. Und doch haben die Ortschaften allesamt etwas Urbanes.

Das liegt an der Geschichte des Fleimstals, an einer Tradition des Gemeinsinns, die sich nicht zuletzt in der Architektur niedergeschlagen hat. Der in Bozen ansässige Fotograf Walter Niedermayr hat diesen steinernen Ausdruck einer speziellen Form des sozialen Zusammenlebens in dem Band "Koexistenzen" porträtiert.

Allein stehende Häuser sind untypisch für das Fleimstal. Ganz städtisch stehen vielmehr die Gebäude beieinander und bilden Ensembles, die Innenhöfe oder kleine Plätze umschließen, zu denen man mitunter nur durch Tordurchfahrten gelangt. Etliche dieser Häuser und Ensembles sind architektonische Wucherungen, vielfach wurde um- und angebaut. Die Übergänge von den öffentlichen in die halböffentlichen und von dort in die privaten Bereiche sind fließend oder jedenfalls nicht immer klar markiert.

Zu tun hat das mit den Besitzverhältnissen. Anfang des 12. Jahrhunderts haben sich die elf Gemeinden zu einer Talschaft zusammengeschlossen. Ein Vertrag mit dem Fürstbischof von Trient regelte die selbständige Verwaltung, das Recht auf die eigene Gerichtsbarkeit und die Bewirtschaftung der Wälder und Felder. Die ist gemeinschaftlich geschehen, die Erträge sind auf alle Gemeinden verteilt worden - und werden es bis heute, nur dass die Einkünfte aus der Holzwirtschaft heute nicht mehr besonders relevant sind. Diese Form des gemeinschaftlichen Eigentums ist im Alpenraum nicht ungewöhnlich, sie wird Allmende genannt. Der Kurator und Architektur-Publizist Arno Ritter schreibt in seinem Vorwort von einem "gemeinsam gebauten und bewohnten ,Wir'" im Gegensatz zu dem sonst üblichen "gebauten ,Ich' mit Thujenhecke und Garage".

Niedermayr zeigt die Orte menschenleer, was aus zwei Gründen clever ist. Die Architektur soll im Vordergrund stehen und nicht bloß Kulisse sein für das dörfliche Leben. Aus ihr allein soll und kann der Charakter dieser Talschaft abgelesen werden. Und dann zeigt diese Menschenleere aber auch die Brüche, die es längst gibt. Ein Fünftel der Bewohner pendelt täglich zur Arbeit aus, es gibt im Fleimstal doppelt so viele Gästebetten wie Einheimische und jede Menge Zweitwohnungen, die lange Wochen leer stehen. 400 Menschen sind noch in der Landwirtschaft tätig, Anfang der 1950er-Jahre waren es noch fünf Mal so viele. Das gemeinschaftliche Gut ist nicht mehr der wichtigste Faktor, die Prosperität des Tals hängt nicht mehr so stark am Zusammenhalt.

Insofern mag man dieses Gesellschaftsmodell für überkommen halten. Andererseits ist es eine frühe Form dessen, was als Commons-Bewegung gerade wieder neu entdeckt wird.

Walter Niedermayr: Koexistenzen. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2017. 248 Seiten, 45 Euro.

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