Reisebuch:Tempel der Moderne

Zwei Künstlerinnen zeigen südindische Kinobauten als kuriose Sehenswürdigkeiten: Der Architekturmix reicht von Art déco bis zum Sozialismus.

Von Evelyn Pschak

Es ist vermutlich der Traumauftrag eines jeden Taxifahrers: Zwei Künstlerinnen steigen ein und ordnen an: "Fahre uns zu allen Kinos der Stadt." So begann 2010 das Abenteuer von Sabine Haubitz und Stefanie Zoche in Keralas Hauptstadt Thiruvananthapuram im äußersten Süden Indiens. Viel Taxi sind die beiden dann aber nicht gefahren. "Der indische Verkehr ist so verrückt, das war viel zu zeitaufwendig. Und nicht alle Kinos waren es wert, fotografiert zu werden", erinnert sich Stefanie Zoche an die Anfänge dieses Fotoprojekts. Haubitz und Zoche suchten nach einem besonderen Typus südindischer Kinos: nach den exaltierten, farbenfrohen Bauten aus den 1950er- bis 1970er-Jahren, deren modernistische Architektur entstand, nachdem der Architekt Le Corbusier vom ersten Ministerpräsidenten des unabhängigen Indiens, Jawaharlal Nehru, den Auftrag erhalten hatte, Chandigarh zu gestalten, die neue Hauptstadt des Punjab.

Sabine Haubitz und Stefanie Zoche beschäftigten sich zuvor bereits seit geraumer Zeit mit Fassaden im Stadtraum - und mit deren Aussage über gesellschaftliche Zusammenhänge. "Spannend an den indischen Kinos war für uns, dass wir ihren Baustil nicht einordnen konnten. Es waren Elemente aus der Moderne, der sozialistischen Architektur, dem Art déco - durchmischt mit lokalen Baustilen", sagt Zoche.

Diese Zeugnisse in Beton stünden für die Identitätssuche Indiens nach der Unabhängigkeit 1947. So erklärt es der Designtheoretiker und Architekt Rohan Shivkumar. Er spricht in Haubitz' und Zoches Buch "Hybrid Modernism" von einer "imaginierten Modernität", die der Vorstellung Indiens vom Westen entsprach. Und wie man damals hoffte, es genüge, sich die äußere Hülle des Westens anzueignen, um selbst einen inneren Wandel zu bewerkstelligen. Der Fotoband präsentiert die gesammelte Werkschau der Kinoansichten von Stefanie Zoche und der 2014 tödlich verunglückten Sabine Haubitz. Verschiedene Aspekte des indischen Kinowahnsinns werden darin beleuchtet: Der archivarische Blick in frontaler Draufsicht bannt alternden Beton und menschenleere Innenansichten, samt wilder Verlebtheit, kaputtem Mobiliar und Stuhlreihen "mit vielen Zahnlücken", wie Zoche es nennt. Für haptisches Vergnügen beim Blättern sorgt Affichenpapier, das für die Reproduktion der im Stadtbild fotografierten Plakatwände verwendet wurde: Auf ihm sind die Obst- und Gemüsehändler abgedruckt, die ihre Ware am Wegesrand feilbieten und deren Leben so wenig gemein hat mit dem der überlebensgroß plakatierten Schauspielerinnen in goldenen Bikinioberteilen hinter ihnen. Zudem weisen die beiden Essays von Rohan Shivkumar und S. V. Srinivas die einseitig auf Bollywood ausgerichtete Rezeption des indischen Kinos in Deutschland in die Schranken.

Das südindische Kino hatte in den Jahren nach 1947 eine Mission: "Mit seiner Mischung der Klassen, Kasten, Geschlechter und Religionen war das Kino eine Stätte des keimenden Nationalismus, gar ein Mikrokosmos der zukünftigen Nation, in der alle ihren Platz finden würden", schreibt S. V. Srinivas, Professor für Populärkultur in Bangalore. Mittlerweile sei diese Vorstellung verbraucht, der Verlust an Geltung und Gemeinsinn mehr als offensichtlich. Insofern, so Rohan Shivkumar, dienten die Fotografien von Haubitz und Zoche "als Erinnerung an eine Zeit, als es noch möglich war, sich durch die Teilnahme an dem kollektiven Ritual des Kinobesuchs eine gemeinsame Zukunft für alle vorzustellen."

Sabine Haubitz, Stefanie Zoche: Hybrid Modernism. Movie Theatres in South India. Verlag Spector Books, Leipzig 2016. 144 Seiten, 42 Euro.

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