Reisebuch:Offene Rechnungen

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Anfang des 20. Jahrhunderts reisten Vita Sackville-West und Edith Wharton nach Ägypten, Persien und Marokko. Bis heute hat eine Beobachtung Gültigkeit: Es ist illusorisch, wenn man diese Länder mit unseren Maßstäben misst.

Von Stefan Fischer

Ägypten ist nicht das eigentliche Ziel der Reise von Vita Sackville-West gewesen. Es lag nur auf dem Weg nach Teheran, wo die Schriftstellerin und Freundin von Virginia Woolf 1926 ihren Mann Harold Nicolson besucht hat, der im Jahr zuvor als Diplomat an die britische Gesandtschaft dort berufen worden war. Doch mit Ägypten hatte Sackville-West noch eine Rechnung offen, sie war 1913 schon einmal für zehn Tage im Land gewesen - und hatte es seither in schlechter Erinnerung behalten. Sie war seinerzeit zu Gast bei Horatio Herbert Kitchener, dem britischen Oberkommissar in Ägypten. Sie mochte die rüde Art des Mannes nicht, litt überdies an einem Sonnenstich und war mit Anfang zwanzig auch noch zu verzagt, um Kitchener und seinem Gefolge verständlich zu machen, dass sie sich unwürdig behandelt fühlte.

Es ist ein wenig so wie in der Gegenwart: Ägypten ist einem aufgrund der jüngsten Vergangenheit suspekt, kaum einer reist derzeit noch in das Land, weil er um sein Wohlbefinden fürchten muss. Und doch gäbe es so viel zu entdecken oder wiederzusehen. Man wünscht sich, dass der aktuelle Eindruck nicht der letztgültige ist. Ganz wie Vita Sackville-West, die ihren zweiten Ägypten-Aufenthalt ganz explizit geplant hat als eine Reise, die zuvor Versäumtes und immer schon Ersehntes nun endlich bieten sollte. Ihr Plan ist aufgegangen. Vor allem, Karnak im Licht des Vollmondes gesehen zu haben, bedeutete Sackville-West viel. Zugleich reflektiert sie, in welche Gefahr sie sich als Reiseschriftstellerin dadurch begeben hat: Überwältigt von den Eindrücken, müsse man vorsichtig sein, um nicht Dinge in die Wirklichkeit hineinzulesen, die gar nicht existieren.

Darum geht es immer wieder in ihrem Text "Passenger to Teheran", der in der Reihe "Die kühne Reisende" in der Edition Erdmann unter dem Titel "Bombay, Bagdad, Teheran" in deutscher Übersetzung erschienen ist: Wie viel der Fremde versteht von dem, was er sieht und erlebt.

Vita Sackville-West hatte es zum Teil mit sehr exotischen Gepflogenheiten zu tun, in einer Zeit, in der man als westlicher Reisender bei Weitem noch nicht derart an Exotismen gewöhnt war wie heute. Das Gleiche gilt auch für die 30 Jahre ältere US-Amerikanerin Edith Wharton, die 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, Marokko bereist hat. Auch ihre Schilderung "In Marokko" ist in der Erdmann-Reihe über wagemutige Frauen auf Tour erschienen.

Edith Wharton war eine privilegierte Reisende, nicht nur, weil sie wie Vita Sackville-West finanziell unabhängig war. Sie war auf Einladung in Marokko, das damals noch französisch beherrscht war - wohl auch als Dank dafür, dass sie sich, in Frankreich lebend, während des Krieges karitativ und humanitär sehr engagiert hatte. In Marokko standen ihr Türen offen, die anderen verschlossen blieben. Es ist aber natürlich das französische Milieu, in dem sie sich überwiegend bewegt; und ihr Blick auf die Verhältnisse im Land ist ein kolonialistischer. Wharton preist die französischen Eingriffe als kulturelle Entwicklung. Dass sie jedoch zu einer Europäisierung und damit zu einem Niedergang der marokkanischen Traditionen führen, die sie selbst schätzen lernt und für unbedingt bewahrenswert hält - diesen Zusammenhang reflektiert sie nicht.

Was einem die beiden Texte vor Augen führen, ist, wie anders als westeuropäische Gesellschaften jene in Marokko, Ägypten oder Persien vor 90 oder 100 Jahren funktioniert haben. Und dass es deshalb illusorisch ist, wenn man sie heute mit unseren Maßstäben misst. Es ist sogar fatal, wenn sich Urlaub am Roten Meer anfühlt wie auf den Kanaren.

Vita Sackville-West: Bombay, Bagdad, Teheran. Meine Reise nach Persien. Edition Erdmann im Verlagshaus Römerweg. Wiesbaden 2016. 200 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 20.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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