Reisebuch:Flucht ins Grüne

Evgeny Makarov besucht die Datschen-Siedlung seiner Kindheit. Und lässt Fragen offen.

Von Monika Maier-Albang

Geborgenheit. Natur. Weite. Das Gegenteil halt vom Großstadtleben, wo man sich in 20-Quadratmeter-Wohnungen quetscht, Mutter, Vater, Kinder. Und nicht selten die Eltern der Frau oder die Schwester des Mannes samt ihren Kindern noch dazu. In den grauen russischen Betonstädten, mit denen Evgeny Makarov seine Fotoreportage über "Die Datscha. 600 m² Glück" programmatisch beginnt.

Das Zweithäuschen im Grünen hilft gegen die beklemmende Enge. Das der Familie Makarov liegt in Orkhovo, einer Siedlung in der Leningrader Oblast bei St. Petersburg. Evgeny Makarov, Jahrgang 1984, hat hier seine Sommer verbracht, selbst nachdem seine Familie 1992 nach Deutschland ausgewandert war. Man merkt es seinen dokumentierenden Bildern an, dass er den Menschen weiterhin nahe ist, wenngleich sein Leben ihn in eine andere Richtung geführt hat.

So lernt man denn Artur kennen, der quasi als Hausmeister der Siedlung fungiert, Alexander, den Bärtigen, der gern durch den Wald streift. Und Anna, die ihr Haus, nachdem es abgebrannt war, trotzig wieder aufbaute. Man lernt, die Datscha als Freiraum zu verstehen und zu lieben. Einen Raum, der auch schluckt, was zu schade ist zum Wegwerfen - in der Stadtwohnung aber keinen Platz mehr hat. Einen Moment hat Makarov eingefangen, der besonders anrührend ist: Anna liegt auf einer Art Bank, errichtet auf Holzscheiten, und reicht mit der Hand bis zu den reifen Kirschen über ihr. Man ist dabei, wenn sich die Männer in den Weißen Nächten am Lagerfeuer wärmen, wenn sie angeln. Die Mücken muss man sich ja nicht unbedingt hinzudenken. So ist's im Paradies. Oder?

Ganz klar wird das nicht. Dass der Bildband nicht ins Verklärende abdriftet, liegt vor allem am begleitenden Text des russischen Publizisten Lew Rubinstein, der die Datscha nicht nur als Ort des Eskapismus' schildert, der die "Flucht aus der seelenlosen Stadt" ermöglicht. Sondern auch von der "trügerischen Empfindung" schreibt, der viele während der Sowjetzeit erlagen: dass sie hier Schutz fänden. "Auch aus Datschen wurden nachts Menschen abtransportiert", klärt Rubinstein auf. Und es ist anzunehmen, dass auf dem Land nicht weniger gesoffen und geprügelt wird als in der Stadt.

So beredt viele der Fotos sind - ein wenig mehr Erklärung wünscht man sich. Zur Geschichte der Datscha etwa. Datschen sind "traditionell" 600 Quadratmeter groß. Aber seit wann und warum? Weil die meisten Gartenkolonien aus der Sowjetzeit stammen und die Kollektive so viel Land zur privaten Bewirtschaftung zuwiesen. Schest Sotok, "600", war ein Synonym für Datscha. Und warum muss Artur allabendlich den Strom wieder andrehen? Makarov und Rubinstein setzen viel voraus. Und ein Foto würde man doch gern sehen von den monströsen Datschen der Neureichen. Aber dieser Anblick zerstört jedes Kindheitsidyll. Und der Mythos muss leben, scheint's.

Evgeny Makarov, Lew Rubinstein: Die Datscha. 600 m² Glück. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Sieveking Verlag, München 2017. 96 Seiten, 39,90 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: