Reisebuch "Brenner.o":Der diskrete Charme des Brenners

Die Aussicht auf Sonne und Süden treibt Reisende über den Gebirgspass nach Italien - der gleichnamige Ort interessiert sie nicht. Ein liebevoll gemachter Bildband erinnert nun daran, dass die Grenze einmal selbst ein Reiseziel war.

Rezension von Stefan Fischer

Wer weiter als drei oder vier Jahrzehnte zurückblicken kann, der erinnert sich daran, dass der Brenner einmal eine richtige Grenze war. Willkürlich gezogen nach dem Ersten Weltkrieg und - bei aller Schlampigkeit und Nachsicht im Einzelnen - generell so streng bewacht wie eben eine Grenze innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, die erst in den Neunzigerjahren zur Union wurde mit offenen Binnengrenzen. Und die auch erst seit den Siebzigerjahren auf einer Autobahn überquert werden kann, den Ort Brenner - oder auf Italienisch: Brennero - seither seitlich liegen lassend. Zuvor musste man hindurch durch die Siedlung, musste halten. Dort war Leben; Zollbeamte, Grenzer, Eisenbahner, Händler und Wirtsleute hatten ihr Auskommen in dem Ort auf dem Pass, Bahnreisende sind hier umgestiegen, Spediteure mussten ihre Waren verzollen.

Nach Spuren aus dieser Zeit sucht der Innsbrucker Fotograf Othmar Kopp in dem Band "Brenner.o", für den der Bozner Autor Kurt Lanthaler einen klugen, gewitzten, dabei ganz und gar nicht nostalgischen Essay beigesteuert hat. "Eine Schönheit", schreibt Lanthaler gleich eingangs, sei die Ortschaft Brenner "wirklich nicht". Er schiebt das aber nicht auf den Verfall. Dort heroben sei es noch nie schön gewesen. Aber heimelig. Und das sei es - zumindest wenn man weiß, wo man hinmuss - auch heute noch auf eine spröde, eigenwillige Art.

Manfred Breitenlechner resümiert in einem kurzen Text: "Eine Erinnerungsfahrt auf den Brenner ist keine vertane Zeit." Breitenlechner ist einer von mehr als zwei Dutzend Menschen, die einen starken persönlichen Bezug zum Brenner haben und mit denen der Fotograf Othmar Kopp deshalb auf den Pass hinaufgefahren ist, auf Spurensuche und um Erinnerungen wieder wachzurufen an vergangene Zeiten, die im Verborgenen heute noch ein wenig fortleben. In seiner Jugend war der Brenner für Breitenlechner eine Verheißung. Nicht wegen der vagen Aussicht, dass man von dort aus irgendwann das Meer erreichen konnte, sondern wegen handfester Vorzüge. Hier oben gab es Waren, "die Innsbruck nicht zu bieten hatte, weder in Qualität noch Design noch Preis". Seien es Schuhe und Kleidung, Wein und Lebensmittel. "Lederstiefeletten machten aus Halbwüchsigen lässige Haberer", so Breitenlechner, den man sich als einen von ihnen denken darf. Noch heute findet jeden 5. und 20. eines Monats der Brennermarkt statt, mit beinahe 200 Ständen.

Eine erste Manifestation südländischen Lebens, ganz anders als das Outlet Center, für das der Ort heute weithin bekannt ist.

Man kann im Bahnhofsrestaurant ein Glas Weißwein für 1,40 Euro trinken und im Feinschmeckerlokal, wie es Franz Winklehner nennt, ein weiterer Brenner-Kenner, eine Flasche toskanischen Rotweins für 145 Euro. Der billige Wein ist besser als vieles, was andernorts viermal so viel kostet. Und was wiederum den Sassicaia aus der Toskana anbelangt: Einen guten Wein schätzen zu können, ist keine Frage des Ambientes.

Othmar Kopp bevorzugt für sein Brenner-Porträt Stillleben. Weil das für ihn den Pass und die Ortschaft ausmacht: ein Beharrungsvermögen, eine Beständigkeit in den Dingen, die sich keinen Moden unterwerfen. Ein duldsames Nebeneinander. So werben etwa allerlei Frauenbildnisse für ihre jeweilige Sache: für Markenbekleidung, erotische Abenteuer oder das Himmelreich.

Im vergangenen Jahr, als Kopp die Arbeit an "Brenner.o" am Ort beinahe schon abgeschlossen hatte, wurde die Grenze mit einem Mal wieder sehr real, für die vielen Flüchtlinge, die über Italien nach Österreich, Deutschland und weiter gelangen wollten. Es gab wieder Kontrollen, es gab wieder Umgehungsversuche, wenn auch aus ganz anderen Gründen als 30 oder 50 Jahre zuvor. Es sind wieder Welten aufeinandergeprallt.

Der Brenner, schreibt Kurt Lanthaler, sei auch, was wir ihm zuschreiben und andichten. "Brenner.o" fügt diesem Durchgangsort ein schönes Kapitel übers Innehalten hinzu.

Othmar Kopp, Kurt Lanthaler: Brenner.o - Geschichten über die Grenze. Tyrolia Verlag, Innsbruck und Wien 2018. 232 Seiten, 39,95 Euro.

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