Reeperbahn in Hamburg:Nachts um halb eins

Die Reeperbahn hat sich verändert. Ist das nun gut oder schlecht? Hamburgs lauteste Straße schillert zwischen Prostitution, Nepp und Gentrifizierung.

Von Thomas Hahn, Hamburg

An einem Sonntagabend sieht die Reeperbahn ganz anders aus, fast friedlich. Nicht leblos allerdings, das ist klar, denn leblos ist Hamburgs lauteste Straße nie, nur eben nicht ganz so voll von Trunkenheit und überdrehtem Frohsinn wie an Freitagen oder Samstagen.

In den Bars singen Musiker vor wenig Publikum. Viele Leute sitzen draußen bei Kaltgetränken zum Ausklang des Wochenendes. Trotzig leuchten die Reklamen. In den Ecken schlafen Obdachlose. Zwei aufgetakelte Russinnen suchen verzweifelt das Angie's. Und am Hans-Albers-Platz erzählt eine Prostituierte mit absurd langen Fingernägeln, dass der Schöne Klaus, der frühere Groß-Zuhälter, ständig Geld schnorre und dass im Elbschlosskeller mal einer "ganz lange" tot überm Tresen gehangen habe, weil alle dachten, der schläft nur.

Manche sagen, die Reeperbahn sei auch nicht mehr das, was sie mal war. Andere sagen, das sei auch gut so. Und die Wahrheit ist, dass man diese lärmende, leuchtende Amüsiermeile im Stadtteil St. Pauli auf keinen Fall abtun sollte als einen Ort, der mit wenigen Klischees hinreichend erklärt wäre. Die Reeperbahn ist ein Gebilde der tausend Eindrücke, mal schön, mal hässlich.

Nicht einmal die Frage nach der Veränderung ist hier so leicht zu beantworten. Frisst die Gentrifizierung die Seele der Reeperbahn? Oder gewinnt ihre Seele sogar, weil ein paar alte Schrecklichkeiten verschwunden sind? Oder wird die Seele der Reeperbahn ohnehin überschätzt?

Corny Littmann kann nur müde lächeln, wenn jemand der alten Reeperbahn nachweint. Er ist Schauspieler, Regisseur, Theaterunternehmer und eine prägende Figur im Kiez. Das Schmidt Theater und Schmidts Tivoli hat er vor bald 30 Jahren mitbegründet und damit einer Bühnenunterhaltung Raum gegeben, die derb genug ist, um zur Amüsiertradition der Reeperbahn zu passen, aber auch so stilsicher, dass sie ihr Niveau hebt. Maßgeblich war er daran beteiligt, dass der Spielbudenplatz im östlichen Teil der Reeperbahn zu neuem Leben erwachte. Auch deshalb musste sich Littmann schon anhören, er sei ein "Obergentrifizierer", was er schon deshalb nicht ernst nimmt, weil er gar keine Immobilien besitzt an der Reeperbahn.

Und wenn wirklich einer darauf beharrt, dass das gute alte St. Pauli verloren gehe, dann stellt er die Gegenfrage: "Was möchtest du denn wiederhaben? Die Peepshows? Die Nepp-Lokale?"

Die Zeit der schillernden Schrecken ist vorbei

Reeperbahn-Nostalgiker denken gerne an die Charakter-Gebäude, die für ein städtisches Leben jenseits von Eitelkeit und Schein standen. Dort wo einst die alte Tankstelle und die Esso-Häuser ihren herben Charme ausstrahlten, entsteht gerade im Auftrag der Bayerischen Hausbau ein moderner Gebäudekomplex nach dem Prinzip der Bürgerbeteiligung.

Eingangs der Reeperbahn entfalten seit fünf Jahren die Tanzenden Türme ihre zeitlose Eleganz. Und die neue Medienfassade am Gastronomie-Komplex "Klubhaus" führt nachts ein digitales Lichtspiel auf, das man auch abgehoben finden kann.

Die Zuhälter verhalten sich heute diskreter, aber es gibt neue Probleme

Fortschritt oder Triumph der Neureichen? Über Architektur kann man immer streiten. Allerdings wäre es tatsächlich kühn, die Vergangenheit der Reeperbahn zu verklären. Die Zeiten der schillernden Rotlichtgrößen sind vorbei. Der Schöne Klaus ist abgebrannt, viele seiner Kollegen sind tot. Die Zuhälterbanden, die sich in den Achtzigerjahren blutige Konkurrenzkämpfe lieferten, gibt es nicht mehr - das kann niemand schlecht finden.

Das Rotlichtmilieu spielt nicht mehr die Hauptrolle hier, das Image hat sich gebessert. Littmann erinnert sich, wie der frühere Bürgermeister Klaus von Dohnanyi in den Achtzigern bei der Eröffnung des La Paloma am Hans-Albers-Platz auftauchte und damit eine moralische Empörung in deutschen Zeitungen entfachte. "Heute kommt der Bürgermeister ohne Probleme."

Die Gegenwart der Reeperbahn muss man auch nicht verklären. Die Laufhäuser mit ihren Billig-Sex-Angeboten fügen sich wie selbstverständlich in die Diskotheken-Landschaft. An den anderen Stammplätzen Davidstraße und Hans-Albers-Platz ködern die Prostituierten Freier mit wiederkehrenden Sprüchen ("Du hast doch nichts zu verlieren außer ein paar Gramm Saft") und vorgeschobenen 30-Euro-Angeboten, die sie in Wirklichkeit als Anzahlung für sehr viel mehr verstehen. Und die Zuhälter von heute? Treten nicht mehr so auf wie einst der Schöne Klaus.

Krimineller als andere Rotlichtviertel

Sie verhalten sich diskret, weil sie erkannt haben, dass Ruhe besser fürs Geschäft ist. Trotzdem sind sie da, und bei Bedarf greifen sie zur Selbstjustiz. Vor zwei Jahren ließen sie jugendliche Flüchtlinge krankenhausreif schlagen, weil diese potenzielle Freier beklauten. Damals sagte Jörn Blicke, Leiter des Kommissariats für Milieudelikte der Polizei Hamburg: "Anders als andere Rotlichtviertel ist St. Pauli von relativ viel Kriminalität und Betrug geprägt."

Aber es stimmt schon, man kann gut vorbeischauen am horizontalen Gewerbe mit seinen undurchsichtigen Strukturen. Auch wenn das Anzügliche hier Teil der Folklore ist. Sex sells, erst recht auf der Reeperbahn. Beim jährlichen Weihnachtsmarkt am Spielbudenplatz gibt es Strip-Partys und Buden mit Schokoladen-Dildos im Angebot. Und das Reeperbahn-Musical "Heiße Ecke", das seit 14 Jahren unter Littmanns Regie mit enormem Erfolg an Schmidts Tivoli läuft, verzichtet auch nicht auf diverse Anspielungen.

Es gibt auf der Reeperbahn die Tanzclubs, die Kneipen, die Musikbühnen - und die Geschichten von großen Karrieren, die hier begannen: vor allem die der Beatles, die ab 1960 an der Großen Freiheit spielten. Das Reeperbahn-Festival ist das größte Clubfestival Europas und bietet immer im September für vier Tage ein breites Programm aus Musik und Kunst. Und das St. Pauli Theater neben der Davidwache, mit 176 Jahren das älteste Theater Hamburgs, steht für ein Bühnenspiel, das anspruchsvoll, aber auch nicht zu weit weg vom Boulevard der Normalbürger ist.

Neue Zeiten, neue Probleme

Es hat kein Foyer, das Publikum marschiert vom Eingang praktisch direkt in den Zuschauersaal, und manchmal zittern die Wände, weil die U-Bahn darunter rumpelt. Die Reeperbahn hat viele Stätten, an denen Kunst und städtische Wirklichkeit ineinandergreifen.

Seit 35 Jahren lebt Corny Littmann in St. Pauli, und er muss wieder schmunzeln, wenn ihm jemand sagt, dass es sich bei der Reeperbahn doch eigentlich um einen eingefahrenen Betrieb handle, der sich immer wieder ums Gleiche drehe, um schnellen, bodenständigen Spaß. "Aus Münchner Sicht mag das so aussehen", sagt er. Er selbst hat hier etwas anderes erlebt. "Es gibt hier einen ständigen Wandel."

Nicht grundsätzlich ist dieser Wandel gut, die Zeit weht auch neue Probleme herbei. Wegen der Nähe zum Hafen ist die Reeperbahn einst zum einträglichen Amüsierquartier gewachsen. Als im frühen 18. Jahrhundert an den heutigen Landungsbrücken der Anleger für die Dampfschiffe entstand, kamen prompt sehr viele Matrosen in ihrer Freizeit ins heutige St. Pauli. Es setzte ein Boom für Kneipen und andere Etablissements ein.

Heute geht es der Schifffahrt nicht gut, es kommen kaum noch Seeleute. Stattdessen müssen sich die Kneipen mit der Konkurrenz der vielen Kioske an der Reeperbahn herumschlagen, die billigen Alkohol verkaufen.

Und mit leisem Bedauern denkt Corny Littmann daran, dass die Kinokultur an der Reeperbahn eingegangen und nicht zurückgekommen ist. Dass in alten Lokalen heute Discounter untergebracht sind, wo Varieté-Theater hätten entstehen können. "Das kann man vielfach beobachten hier", sagt Corny Littmann, "dass die privaten Besitzer ihre Immobilien nicht inhaltlich innovativ, möglicherweise noch kulturell vermieten, sondern an den, der den höchsten Preis bietet."

Er bleibt trotzdem dabei: Die Reeperbahn hat sich zum Besseren verändert. Verzichtbares ist verschwunden, Neues entstanden nach dem Vorbild der alten Varietés. Er blickt auf seine eigenen Theater mit den leicht frivolen Stücken, dem eingängigen, aber beseelten Gesang, dem Gastronomie-Service im Zuschauerraum. "Was wir tun, ist eigentlich nur an die Geschichte der Reeperbahn anzuknüpfen." Und wenn manchen das nicht gefällt, gehört das irgendwie auch zum Wesen des Ortes. Die Reeperbahn hat noch nie allen gefallen.

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