Radfahren am Furkelpass:"Wie man nur so blöd sein kann"

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Bei der ersten Passfahrt seines Lebens nahm unser Autor noch vor Jan Ullrich die Königssteigung des Giro d'Italia 2006 in Angriff.

Torsten Geiling

Als ich mich gerade zum hundertsten Mal frage, wie man nur so blöd sein kann, Pässe mit einem Rennrad bezwingen zu wollen, fängt es an zu schneien. Ende Mai, in Italien, weiße Flocken auf den schwarzen Röhren meiner Arm- und Beinlinge. Dabei wurde die Skisaison offiziell bereits vor einem Monat beendet. Das scheint das Wetter über diesem Felsungetüm in den Südtiroler Dolomiten aber nicht zu stören.

Die dicken eiskalten Regentropfen haben sich bei einem Grad in schwere Schneeflocken verwandelt. Sie tanzen durch die Wölkchen, welche bei jedem Tritt über mich hinweg ziehen. Wie eine schwer schnaufende Dampflok stößt sie mein Körper aus, während er nach Atem ringend die faszinierende Kulisse dieses Bergpasses und des zu seinen Füßen liegenden Antholzer Tales in sich aufsaugt.

Von der Gemeinde Olang bin ich vor einer Stunde gestartet. Von dort windet sich ein schmales Sträßchen wie eine Schlange den bewaldeten Osthang des Kronplatzmassivs hinauf. Auf den 18 Kilometern überwindet sie mit giftigen Steigungen von bis zu 18 Prozent 800 Höhenmeter. Was das bedeutet? Keine Ahnung.

Zumindest, als ich am Fuße des Berges in meine gepolsterte Radhose schlüpfe und das bequem geschnittene Trikot zu Recht zupfe. Schließlich sollte diese Passfahrt meine Premiere sein. Und dann haben mir meine Mitradler gleich den Schlussanstieg der Königsetappe des Giro d'Italia herausgesucht, einen 2273 Meter hohen Skiberg, den man in der Regel nur mit der Seilbahn oder höchstens noch zu Fuß bezwingt.

Das steht an diesem Morgen aber nicht zur Diskussion. Treten ist angesagt, zumeist im dritten, kleinsten vorderen Kettenblatt, das als "Steighilfe" an meinem blauen Felt-Rennrad montiert ist. Darauf scheinen anfangs meine Beine von selbst zu arbeiten. In einem runden harmonischen Tritt fliege ich aus der Ebene des Pustertales auf den Pass zu, der durch die sonnengelben Gläser meine Brille freundlicher als in natura aussieht.

Körper, Maschine und Geist scheinen aufeinander eingespielt. Ein Hochgefühl macht sich trotz des Regens breit. Ich muss an einen Satz von Albert Camus denken, den ich kurz zuvor in einer Broschüre gelesen habe. "Der Kampf gegen Gipfel vermag eines Menschen Herz auszufüllen," und Herz habe ich, vor allem ein schnell schlagendes, als sich das Sträßlein wenig später in die erste steile Rampe windet.

Obwohl die Kette wie von Geisterhand alsbald in die leichteste Übersetzung hüpft, kostet jede Kurbelumdrehung Kraft. Mit jeder bissigen Steigung weicht das Hochgefühl ein Stück mehr einem Brennen in den Oberschenkeln und den Waden. Auf den flacheren Zwischenpassagen fühle und rieche ich nicht nur die regennasse Natur, sondern sauge auch ausgehungert die Bergluft ein, die aufgrund der Kühe rechts und links der Straße etwas jauchig schmeckt.

Darüber vermag ich aber nicht lange nachzudenken, weil in der nächsten Spitzkehre bereits meine Beine wieder sämtlichen Sauerstoff für sich beanspruchen. Im Wiegetritt kurble ich die Pedale durch die Luft und habe doch immer mehr das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Die verirrte Kuh links auf der Almwiese könnte nun wohl ohne Probleme die Straßenseite wechseln, ohne dass es zur Kollision kommen würde - jedenfalls mit mir. Aber sonst ist sowieso fast niemand am Berg zu sehen, der von den Carabinieri für motorisierte Fahrzeuge ohnehin gesperrt ist. Vereinzelt passiere ich regenbeschirmte Fußgänger, die an ihrem Frühstück kauen.

Der Fluch der Kette

"Regelmäßiges essen und trinken ist wichtig, um einen Hungerast und damit den Kräfteverlust zu vermeiden", fällt mir da ein ungeschriebenes Radfahrergesetz ein. Hastig nehme ich zwischen zwei Atemzügen einen Schluck Wasser aus der Plastikpulle und fingere dann zwei Mini-Schokoriegel aus den Taschen meines schweiß- und regendurchnässten Trikots, die ich dort im Dutzend neben einer Banane verstaut habe.

Als ich gerade versuche, die Plastikverpackung mit den Zähnen aufzureißen, kommt hinter ein paar Bäumen die nächste Serpentine um die Ecke. Noch schlimmer als die Tatsache, dass ich nicht weiß, ob ich bereits die Hälfte oder nur ein Viertel des Anstiegs hinter mir habe, ist, dass beim Schalten die Kette vom Kettenblatt springt. Alle Räder stehen an der 18-prozentigen Steigung still und kommen auch nicht mehr in Fahrt, als ich fluchend die Kette wieder aufgefädelt und mich mit zitternden Beinen in die Klickpedale gequält habe.

Mein Tritt war schon seit endlosen Minuten nicht mehr rund, nun ist er aber stampfend und zerhackt. Während ich mit verzerrtem Blick um jeden Zentimeter Höhengewinn kämpfe, hadere ich mit mir, dem Radfahren und der Bergwelt, als im Graupelschauer am Straßenrand plötzlich zwischen ein paar abgestellten Kleinlastern ein braunes Schild auftaucht, auf dem in weißen Lettern geschrieben steht: "Furkelpass 1789 m".

Erst fünf Stunden später sollten dort Jan Ullrich und der spätere Giro-Sieger Ivan Basso heranstrampeln. Und eigentlich sollten sie, auf dem Sattel angekommen, nicht in ihre warmen Begleitbusse, sondern scharf links auf eine geschotterte Forststraße abbiegen, wo dann das meistgefürchtete fünf Kilometer lange Teilstück des gesamten Giro 2006 zum Kronplatzgipfel beginnen sollte, mit Steigungen von bis zu 26 Prozent. Doch das Fahrerfeld trat ob der (Wetter-)Aussichten bereits vor dem Start in einen Streik und erzwang damit eine verkürzte Etappe.

Trotz der weichen Knie will ich nach einer Pause probieren, was die Profis sich nicht zu trauen wagen. Beherzt quäle ich mich gleich auf den ersten steinigen Metern eine Rampe von gut 20 Prozent hoch. Meine Lunge pfeift mit dem eisigen Wind um die Wette, als ich die erste von 13 Haarnadelkurven passiere, die den großen, verstorbenen Helden der Vergangenheit gewidmet sind, während meine Finger in den abgeschnittenen Radhandschuhen ihre Farbe von rot nach blau wechseln.

1920 hieß der Sieger Tano Belloni lese ich im Schneetreiben. Gleich dreimal hat Giovanni Brunero gewonnen, steht 50 quälende Höhenmeter weiter auf dem nächsten Schild. In der letzten Kurve vor der 26 Prozent steilen Schlussrampe wird mich Marco Pantani anlächeln.

Doch ihn bekomme ich nicht mehr zu Gesicht, soweit tragen mich meine Füße nicht mehr. Stattdessen nehme ich die nächste Kehre wörtlich und holpere auf der Schotterpiste zurück zur Passhöhe, wo gerade der verfrorene Jan Ullrich über die Ziellinie rollt, mit dem Ausdruck im Gesicht, wie man nur so blöd sein kann, Pässe mit einem Rennrad zu bezwingen.

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