Patras:Das Tor nach Griechenland

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Dorf und Großstadt zugleich: 2006 war Patras Europäische Kulturhauptstadt. Zu Besuch in einer typisch griechischen Stadt.

Richard Fraunberger

Wenn die Nacht das Dämmerlicht verschluckt, bringt Kostas Makris die Welt zum Leuchten. Aus zehn Glühbirnen besteht sie, einem weißen Tuch und farbigen Figuren, deren Arme und Beine sich bewegen wie Windräder im Sturm. Schattentheater, Karagiozi, wird gespielt. Drei Stangen hält der Puppenspieler in den Händen, drei Figuren, die hinter dem Tuch als bunte Silhouetten reden, streiten, das Publikum zum Lachen bringen. Kostas stampft mit den Füssen, faucht, spricht mit drei Stimmen, lässt den Mond aufgehen und den Teufel aus dem Boden wachsen.

Im Mittelpunkt steht Karagiozi, eine schrullige, durchtriebene Gestalt mit dicker Nase, Buckel und einem Arm, der bis zu seinen Zehen reicht. Er ist der Eulenspiegel, der arme Jedermann. Immer schlägt er sich durchs Leben, immer streitet er sich mit der Obrigkeit. Selbst den Teufel trickst er aus.

Es sind alte Geschichten, die Kostas Makris erzählt. Geschichten, die schon vor hundert Jahren auf Dorfplätzen aufgeführt wurden, damals, als Schattenspieler durchs Land zogen und es in den Häusern keine Fernseher gab. Aus einer ausgedienten Gerberei hat Kostas nun ein Theater gemacht. Zehn Bistrotische hat der Raum, eine Bar und eine Bühne, und weil eine Küche fehlt, grillt er die Souflakis vor der Eingangstür. "Karagiozi ist die ungeschriebene Geschichte des griechischen Volkes", sagt Kostas. "Und Patras ist seine Heimatstadt."

Keine Liebe auf den ersten Blick

Patras: drittgrößte Stadt, Tor nach Griechenland, Brücke nach Europa. 200 000 Einwohner leben in der Hafenstadt, die im sattgrünen Nordwesten des Peloponnes liegt. Sie hat eine kleine, beschauliche Oberstadt und eine fiebrige, im Schachbrettmuster angelegte Unterstadt, und wer mit der Fähre anreist, legt direkt in deren lärmenden Mitte an. 230 000 ausländische Besucher kommen jährlich im Hafen an. Nur wenige bleiben.

Patras ist keine Liebe auf den ersten Blick. Aber welche andere Stadt Griechenlands ist das schon? Patras ist ein Gewirr aus Kirchen, historischen Trümmern und griechischem Modernismus. Es ist eine Stadt, in der es neben Juweliergeschäften Heiligenbilder, Schrauben und Sesamkringel zu kaufen gibt. Eine Stadt, die gern ein bisschen so aussähe, wie das moderne Athen, das große Vorbild, auf das alle Städte Griechenlands verstohlen blicken. Eine Stadt, die ihre von einem Betonmeer eingekeilte und eingezäumte Vergangenheit im Verborgenen hält - immer muss man sie suchen, die Mauern, Fresken und Säulenstümpfe, die hellenischen und römischen Reste, das Aquädukt, die neoklassizistischen Bauwerke und das einzige türkische Dampfbad Griechenlands, das noch in Betrieb ist.

Außer alldem hat Patras auch das, was der Mensch zuweilen braucht, um von einem Leben zwischen zugeparkten Bürgersteigen und großstädtischer Hast verschnaufen zu können: Vor der Haustür liegen ein himmelblaues Meer und der Panachaiko, ein 2000 Meter hohes Gebirge, auf dem es im Winter nichts gibt außer schneeverhangenen Dornenbüschen und einen fauchenden Wind. Das Herz der Stadt ist der Hafen. Er ist einen Katzensprung von der Flaniermeile Aghiou Nikolaou entfernt, dort wo in schicken Cafés sonnenbebrillte Studenten von Liebe und Karriere träumen und so den halben Tag verbringen.

Schiffe parken vor der Haustür

Fünf Stockwerke hohe Fähren legen täglich nach Bari ab, nach Ancona, Venedig und Triest. Sie sind so nah an der Häuserzeile der Uferpromenade vertaut, es ist, als hätten die Kapitäne direkt vor der Haustür geparkt. Lastwagen und Reisebusse schieben sich durch den Hafen, verkeilen sich zu einem Knäuel aus Blech, Menschen und Schweiß. Ruppige Fahrer schreien und schimpfen, winken die hin- und herwuselnden Rucksacktouristen zur Seite. Nur die Angler am Hafenbecken bewegen sich nicht, schauen unentwegt aufs Wasser, als gäben die Fische eine Vorstellung.

1880 war Patras einer der bedeutendsten Häfen Griechenlands. Mit Korinthen wurde gehandelt, mit Wein und Leder. Kaufleute aus England und Deutschland ließen sich nieder, und jede europäische Großmacht war durch einen Konsul vertreten.

Lange bevor die Stadt zum Tor nach Griechenland wurde, war sie das Tor der Auswanderer. Für Zehntausende war sie das Stück Heimaterde, das sie zum letzten Mal sahen, als sie nach Amerika aufbrachen, auf der Suche nach einem besseren Leben. 1893 wurde der Kanal von Korinth eröffnet. Ein schleichender Niedergang setzte ein. "Bis heute steckt Patras in einer Strukturkrise", sagt der Stadthistoriker Vasilis Lazaris.

Glanzvolle Vergangenheit

Die Stadt zehrt von ihrer glanzvollen Vergangenheit. Von der Antike erzählen die steinernen Spuren, von Römern, dem alten Byzanz, von Franken, Venezianern, Osmanen, vom ewigen Tauziehen um Geld und Macht. Und von Germanos. Der nationalen Schöpfungsgeschichte nach war es der Erzbischof von Patras, der 1821 in einem Kloster unweit der Stadt die Revolution gegen die osmanische Herrschaft ausrief. Auf dem mondänen Georgiou-Platz weihte er die Waffen der Aufständischen. Der Segen half wenig. Die Stadt wurde im selben Jahr niedergebrannt, und obgleich die Befreiung Griechenlands hier ihre Anfänge nahm, wurde sie als letzte auf dem Peloponnes befreit.

Nun also ist die Hafenstadt Europäische Kulturhauptstadt 2006, ein Titel, von dem man nicht sicher ist, was genau er bedeutet, aber dafür ziemlich sicher weiß, was er bringt: Geld und Touristen. 150 Millionen Euro fließen von Athen nach Patras. Straßen und Brücken werden gebaut, Felder planiert, zwei Theater und ein archäologisches Museum aus dem Boden gestampft. Die seit Jahren leer stehenden Fabriken und Lagerhallen sollen zu Kulturbauten umfunktioniert werden. Plötzlich wird in Patras gefegt, gehämmert, gepflastert und gestrichen. Der Müll und Schrott, der jahrelang achtlos in Hafennähe herum lag, ist verschwunden. Blumenbeete zieren die neu beleuchtete Uferpromenade.

Regierung und Stadtverwaltung haben es eilig das Stadtbild zu schminken. Auch die illegal eingewanderten Flüchtlinge aus dem Irak, aus Pakistan und Afrika sind vom Aufräumfieber betroffen. Sie dürfen sich nicht mehr im Hafen aufhalten. Für sie ist die Hafenstadt nur eine Zwischenstation auf dem Weg in andere EU-Länder.

Aber Patras will Touristen, keine Flüchtlinge. Die wirtschaftliche Krise hat sich in den letzten Jahren beschleunigt. Große Fabriken schlossen für immer ihre Tore, Textilunternehmen, Baumwollspinnereien, Papier- und Reifenhersteller. Die Arbeitslosenzahl liegt bei 20 Prozent. Die halbzerfallenen Fabrikgebäude entlang der Küstenstraße sind Symbole eines tiefgreifenden Strukturwandels. Da kommt der begehrte Titel zur Imagekorrektur und Selbstdarstellung wie gerufen.

"Patras ist eine 08/15-Stadt," sagt Olaf Schwencke, ehemaliges Mitglied in der von Brüssel beauftragten Kommission zur Auswahl der jährlichen Europäischen Kulturhauptstadt. "Noch nie gab es eine nominierte Stadt, die über so wenig Aura und Profil verfügt, die städtebaulich so wenig zu bieten hat." Dimitris Touliatos, Marketingmanager der Organisation "Patras 2006", sieht das naturgemäß anders: "Patras ist eine typisch griechische Stadt," sagt er. "Die Auswahl zur Europäischen Kulturhauptstadt ist kein Schönheitswettbewerb."

Kein Schmuckkästchen

Womit Touliatos Recht hat. Die schottische Industriemetropole Glasgow, die 1990 den Titel trug, war ebenfalls kein Schmuckkästchen. In den sechziger Jahren fiel das dörflich-pittoreske Stadtbild von Patras dem landesweiten Abrisswahn zum Opfer. Patras' Schönheit und Charme sind beiläufig zu finden. Die Stadt braucht Zeit. Zeit sich treiben zu lassen. Abends in einer Taverne an einer von Laternen und Orangenbäumen flankierten Treppe zu sitzen, auf die bunt beleuchteten Fähren unten im Hafen zu blicken, zu spüren, wie mit der Nacht die Planlosigkeit der Stadt der Gelassenheit und Offenherzigkeit der Griechen weicht.

Menschen kann man treffen. Das ist leicht in einer Stadt, in der man, auch ohne Vorwand, schnell ins Gespräch kommt. Als vor sechzig Jahren Henry Miller Patras besuchte, notierte er: "Wohin man sich in Griechenland auch wendet, öffnen einem die Menschen ihre Herzen wie Blumen." Musiker, Schriftsteller und Bildhauer leben in der Hafenstadt. "Patras liegt im Dornröschenschlaf. Es ist nicht viel los," sagt Irni Bratti. Die Malerin hofft, dass der begehrte Titel ihre Heimatstadt aufrütteln wird. Neun Jahre lang lebte sie in Wuppertal. Als sie 1999 zurückkehrte, fand sie eine verschlafene Stadt vor, ohne Elan und Schwung. "Das ganze Land schenkt nur Athen Aufmerksamkeit. Wer Karriere will, muss in die Fünf-Millionen-Stadt," sagt sie.

Kultureller Erdbeben erwünscht

Auch Dimitris Dsumanis, den man hier zu den Avantgardisten zählt, hätte nichts gegen ein kulturelles Erdbeben in Patras einzuwenden. Acht Monate lang arbeitet er für das, was Griechenland die größte Party nennt: Straßenkarneval. Das Fest hat italienische Einflüsse und eine alte Tradition. Jeder kann mitmachen, halb Athen kommt angereist. Im Stadttheater und auf den Plätzen wird getanzt, und in den Häusern finden Partys statt, bei denen man auch ohne Einladung mitfeiern kann. Mit zwölf anderen Arbeitern entwirft, schweißt, schraubt und bemalt Dimitris Umzugswagen, die an einem Sonntag über den Georgiou-Platz rollen. Wenn es nach ihm ginge, wäre der Faschingsumzug ein fahrendes Kunstspektakel mit den Werken lokaler Bildhauer. "Aber von neuen Ideen wollen die Leute nichts hören," sagt er.

193 Treppenstufen über der Unterstadt liegt das halbzerfallene Kastell der Venezianer, eine stille und grüne Oase inmitten der Stadt. Die alte Festung ist ein Garten, in dem die Natur ohne ein gestalterisches Dazutun Wurzeln schlägt: Krumme Feigen- und Kastanienbäume wachsen, und im Frühling ist die Wiese gesprenkelt mit leuchtenden Anemonen. Mit der Topographie eines Backenzahns ragt auf dem gegenüberliegenden Festland Paliovuna, ein kahler, steiniger Berg, senkrecht empor. Westlich davon liegt Messolongi, jener Ort an dem Lord Byron, entflammt von Griechenlands Wiedergeburt, 1824 an einem Fieber starb. Sein Körper wurde nach London gebracht, sein Herz aber vergrub man in Messolongi unter einem Baum.

Eine andere Welt hinter der Großstadt

In den Gassen unterhalb des Kastells blickt man durch Fenster in die niedrigen Küchen und Wohnzimmer kleiner Häuser. Ikonen hängen an den Wänden und vergilbte Fotos toter Ehemänner. Auch zugesperrte, efeubewachsene Gebäude mit einstürzenden Dächern sind zu finden. Es sind Erinnerungen an die Einwanderer von den Ionischen Inseln. Ein Stück hinter dem Kastell endet die Großstadt, und eine andere Welt beginnt. Schafe weiden neben Stallungen, Hühner picken im Gras, in einem Auto liebt sich ein Paar. Städte in Griechenland sind von potemkinscher Raffinesse - immer ist die Stadt auch Dorf zugleich. Das agrarisch geprägte Land hatte Mitte des 19. Jahrhunderts kaum städtische Zentren und die zwei großen, die es gab, Thessaloniki und Konstantinopel, gehörten zum Osmanischen Reich.

Kostas Makris ist mit dem Moped auf dem Weg zur abendlichen Vorstellung. Er fährt vorbei am Leuchtturm und der mächtigen Kathedrale Agios Andreas, die wie ein Bollwerk gegen alles Weltliche an der Uferpromenade thront. Jedes Wochenende führt Kostas Karagiozi auf, das im türkischen Figurentheater wurzelt. Karagiozi ist Aristophanisches Theater. Spottend kommentiert die bucklige Hauptfigur das politische Tagesgeschehen.

An die Eröffnungsfeier seines Theaters kann sich Kostas bestens erinnern. "Täglich berichtete die Presse über den Streit im lokalen Organisationskomitee. Ich baute das Thema in mein Programm ein," sagt Kostas. Mitten in der Feier erschienen zwei uniformierte Herren. Kostas landete im Gefängnis. Die Party ging ohne ihn weiter.

Vergeblich hatte er Monate zuvor eine Betriebserlaubnis für das Theater beantragt, stets wurde er vertröstet. Genervt vom Papierkrieg beschloss er, sein Theater auch ohne Zulassung zu eröffnen. Am nächsten Morgen war er wieder auf freiem Fuß, und zwei Tage später hielt er die Betriebserlaubnis in der Hand. "In Patras geht alles langsam voran," sagt Kostas, "und manchmal geht alles rasend schnell."

© SZ vom 26.1.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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