Duroc
Zwei Schüler steigen ein, der eine wirft seinen Ranzen in die Ecke und führt an der silbernen Haltestange zwischen den Türen eine Mischung aus Breakdance-Übung und laszivem Tabledance auf. Eine ältere Dame echauffiert sich.
Dabei sind die beiden die Einzigen in den zweieinhalb Tagen, die laut lachen oder sich nach außen hin produzieren, die meisten sitzen da, als hätten sie gerade eine stumme Privatimplosion durchlebt.
Kein U-Bahn-Musiker, kein herzhaftes Gelächter, kaum Gespräche, die Hälfte der jüngeren Leute haben Kopfhörer im Ohr, es ist, als seien sie gar nicht da.
In Sant-Denis wohnt ein Slam-Poet und Sänger, der sich den Namen Grand Corps Malde gegeben hat. Ein hochgewachsener junger Mann, der Ende der neunziger Jahre im Schwimmbad auf den Beckenrand sprang und deshalb immer mit Krücke auftritt.
Einer seiner schönsten Songs heißt "Les Voyages en Train", er vergleicht darin die Liebe mit einer U-Bahnfahrt. Klingt gut, stimmt aber nicht, dafür ist die U-Bahn zu öde, zu steril, eigentlich ist sie ein "Non-Lieu", ein Nicht-Ort also.
Der Begriff stammt von dem Soziologen Marc Auge, er bezeichnete damit erstmals 1992 Orte der globalisierten Spätmoderne, transitorische Orte wie Flughafen-Lounges, immergleiche Hotelzimmer, Bahnhöfe, an denen man mit niemandem spricht, Orte, die neue Formen der Einsamkeit erzeugen.
Seinerzeit schloss er die U-Bahn noch von diesen Non-Lieux aus. Jetzt hat er ein kleines Buch über die Pariser U-Bahn geschrieben, in dem er seltsam naiv darüber staunt, wie einsam man hier unten ist: "kein Fahrkartenknipser, keine Verkäufer, keine Musiker, keine Gespräche".
Fazit: Die Metro ist Non-Lieu par excellence. Man fragt sich freilich insgeheim nach der Lektüre, wie lange der berühmte Soziologe vor seiner Recherche nicht mehr U-Bahn gefahren ist, wenn ihm diese Entdeckung ein ganzes Buch wert ist.
Außerdem stimmt es in diesem Fall nicht. Die 13 hat sehr wohl einen Ort, sie verbindet die Kontinente miteinander, Paris und das Drumrum.
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Foto: oh