Olympia-Ort Squaw Valley in den USA:Verrückt, aber es war Amerika

Eisschnellläufer 1960 Olympische Winterspiele Squaw Valley Lake Tahoe Kalifornien USA

Eisschnellläufer in Squaw Valley: Zunächst galt es als völlig undenkbar, dass die Olympischen Winterspiele dort überhaupt stattfinden könnten.

(Foto: Getty Images)

Schon einmal wurde aus dem Nichts ein Ort für Winterspiele geschaffen: In Squaw Valley in Nordkalifornien gab es davor nur einen Sessellift und ein Hotel für 50 Gäste. Ausgerechnet Walt Disney soll damals für Schneefall gesorgt haben.

Von Jürgen Schmieder

Eine Schneeflocke! Jeremy Jacobson freut sich wie ein Kind. "Ich wusste, dass es schneien würde", ruft er und versucht, die Flocke zu fangen. Jacobson ist zuständig für die Vermarktung dieser Wintersportgegend im Norden Kaliforniens. Er sieht so aus, als würde er diese wunderbare Schneeflocke am liebsten mit nach Hause nehmen. Doch sie wird dringend gebraucht in Squaw Valley. Besser gesagt: Es bräuchte noch ungefähr fünf Trilliarden mehr, damit sie glücklich wären hier in diesem Ort in der Nähe des Lake Tahoe.

Es ist Ende Januar, und hier gilt wie überall: Ein Wintersportort ohne Schnee ist wie Disneyland ohne Mickey Mouse. Auf die Pisten haben sie künstlichen Schnee verteilt, doch ist die Region bekannt dafür, dass man vor allem abseits davon Spaß hat: auf den Bergen herumwandern, die Aussicht auf den See genießen und dann zwischen Bäumen und Felsen auf möglichst unberührtem Schnee ins Tal fahren. Bäume und Felsen sind immer da, Schnee fehlt gerade. "Bis zum Wochenende wird es schneien", sagt Jacobson.

Sowohl seiner Stimme als auch seinem Blick ist der Wunsch zu entnehmen, dass er nun gerne Walt Disney anrufen und ihn fragen würde, wie er das damals gemacht hat bei den Olympischen Spielen 1960, hier in Squaw Valley. Die Geschichte, die sich die Menschen am Ort erzählen, geht so: Disney war als begeisterter Skifahrer in die Organisation der Spiele involviert. Er entwarf die Fackel, kümmerte sich um die Eintrittskarten und um möglichst kurze Wege für Sportler und Zuschauer. Disney war auch für die Eröffnungsfeier zuständig, das Problem war nur, dass es in den Wochen zuvor nicht geschneit hatte und die Austragung einiger Wettbewerbe gefährdet war. Er soll gesagt haben: "Bleibt mal ruhig, ich habe alles im Griff."

Die Zeremonie begann bei Sonnenschein, doch exakt in jenem Moment, als am Ende das Disney-typische Feuerwerk losging, fing es an zu schneien. Das verursachte Aufregung bei der sowjetischen Delegation, die sogleich abreisen wollte. Denn: Offenbar hatten die Amerikaner einen Weg gefunden, das Wetter zu kontrollieren.

Freilich war das alles Zufall, doch solche Geschichten erzählen sich die Menschen nun mal, 54 Jahre danach - so, wie der Fisch beim Angler auch mit jedem Jahr einen Zentimeter länger wird. Sie brauchen jedoch keine Mythen kreieren in Squaw Valley, denn die wahre Geschichte dieser achten Olympischen Winterspiele ist skurril genug. Sie handelt davon, wie aus einer Gegend mit gerade mal einem Sessellift und einem Hotel für 50 Gäste ein Olympia-Gastgeber wurde - und sich daraus eines der beliebtesten Ski-Resorts der USA mit 270 Pisten und 43 Liften entwickelte.

Es war verrückt. Es war Amerika.

Was fehlte? Alles

Es gibt ein Foto von Bill Briner aus dem Jahr 1954: Berge, auf denen ein bisschen Schnee liegt, viele Bäume und ein Feldweg. Der führt in einen Ort, der so aussieht, als wäre seit dem Goldrausch mehr als 100 Jahre zuvor niemand mehr vorbeigekommen. Es ist eine Aufnahme von Squaw Valley, sechs Jahre vor den Spielen. Was fehlte, um die Wettkämpfe auszurichten: alles.

Olympics Olympia-Ort Squaw Valley

Skispringen 1959 im Squaw Valley

(Foto: Getty Images)

Es gab keine Arenen, keine Unterkünfte, ja noch nicht einmal eine anständige Straße. Was es gab: Alexander Cushing, einen knorrigen Anwalt von der Ostküste, der 1949 mit seinem Partner Wayne Poulsen das Skiresort in Squaw Valley gegründet hatte und nun nach Möglichkeiten suchte, die Gegend zu vermarkten. Cushing las im Dezember 1954, dass sich Reno um die Austragung der Winterspiele bewerben würde. Er war beeindruckt von der Aufmerksamkeit, die dieser kleine Ort alleine dadurch bekam.

Cushings Idee: eine Olympia-Bewerbung! "Ich hatte genauso viel Interesse, die Spiele tatsächlich zu bekommen, wie ich mich für den Mann im Mond interessierte", sagte Cushing im Jahr 1959 in einem Interview mit dem Time Magazine: "Es war ein Weg, ein bisschen Platz in den Zeitungen zu bekommen." Ein Marketinggag, mehr nicht.

David Antonucci hat über diesen Gag ein Buch geschrieben, es heißt "Snowball's Chance", "Die Chance eines Schneeballs". "Es war zunächst unmöglich, hier Olympische Spiele auszutragen", sagt er, während er durch das Museum spaziert, in dem die Verrücktheit dieser Spiele dokumentiert ist. Zu sehen ist etwa die Bewerbungsmappe, die verglichen mit den monströsen Präsentationen heutzutage herrlich amateurhaft wirkt. Oder riesige hölzerne olympische Ringe, falsch zusammengenagelt, wahrscheinlich, weil sie sonst auseinandergefallen wären. Zu sehen ist auch ein Brief des damaligen IOC-Präsidenten Avery Brundage vom Oktober 1955 an die Organisatoren: "Es ist nicht einfach, eine Picknick-Stelle innerhalb von vier Jahren in ein Weltklasse-Skiresort zu verwandeln."

"Es war unmöglich", sagt Antonucci noch einmal, "dann erschien es unwahrscheinlich. Plötzlich hielten es die Leute für möglich - und als die Gegend den Zuschlag erhielt, halfen alle mit, damit es ein absoluter Erfolg wurde."

Alle Teilnehmer unter einem Dach

Goodwin Knight, der damalige Gouverneur, sicherte eine Million Dollar zu. Squaw Valley setzte sich gegen die anderen amerikanischen Bewerber durch und gewann die Stichwahl gegen Innsbruck. Nun brauchte es nur noch - nun ja: alles. Das wohl bedeutendste Bauwerk können jene Besucher bestaunen, die entweder vom Flughafen in Sacramento oder von dem in Reno aus nach Squaw Valley kommen: die Interstate 80, die extra für die Olympischen Spiele innerhalb von 18 Monaten fertiggestellt wurde. Was noch gebaut wurde: ein olympisches Dorf, wobei die Bezeichnung "Dorf" eine dreiste Übertreibung ist. Für die 665 Athleten gab es zwei Häuser: eines zum Schlafen, das andere zum Essen.

"Zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte der Olympischen Spiele haben alle Teilnehmer unter einem Dach gewohnt", sagt Antonucci. In seinem Buch beschreibt er, wie der amerikanische Langläufer Joe Pete Wilson mit einem russischen Eishockeyspieler zu Abend aß und sich über die Mengen wunderte, die der Russe verdrücken konnte.

Um die Intimität dieser Olympischen Spiele zu verstehen, muss man heute nur zu Fuß von einem dieser Häuser zu den Wettkampfstätten von damals gehen: zur Eishalle (die 1983 einstürzte) brauchte man fünf Minuten. Zum Ziel der alpinen Wettbewerbe sieben Minuten. Nur die nordischen Wettbewerbe wurden im 25 Kilometer entfernten Tahoma ausgetragen. Eine Bobbahn gab es nicht. Nur zwei Nationen hatten für diese Disziplin zugesagt, sie wurde aus dem Programm gestrichen. Dafür gab es zahlreiche Neuerungen: Zum ersten Mal wurde die Zeit elektronisch gestoppt, wurden die Loipen ebenso maschinell präpariert wie die Eisfläche.

Vor allem aber wurde die Übertragung der Spiele zum ersten Mal an einen Fernsehsender verkauft. CBS bezahlte 50 000 US-Dollar, zeigte die meisten Wettbewerbe live - und kam zufällig auf eine bahnbrechende Idee: Weil sich die Kampfrichter nicht sicher waren, ob ein Slalom-Teilnehmer ein Tor verpasst hatte, fragten sie beim Fernsehsender nach, einen Blick auf die Aufzeichnung werfen zu dürfen. Die Fernsehmacher dachten, dass das auch den Zuschauern gefallen könnte: Es war der Beginn von Wiederholung, Zeitlupe und Videobeweis.

Wintersport deluxe

Es waren die Fernsehbilder, die sich im kollektiven Gedächtnis der Amerikaner einprägten, die zuvor nicht besonders viel mit alpinem und nordischem Skisport hatten anfangen können. Ja, es gab da einen Ort in Nordkalifornien, der plötzlich alles hatte, was man brauchte: Skipisten, Lifte, Unterkünfte. Und natürlich eine wunderbare Straße, auf der die Menschen aus den Großstädten am Wochenende hierher fahren konnten. Wenn Cushing ein Gipfel gefiel, dann ließ er einen Lift bauen - und sorgte dafür, dass sich dort oben ein Restaurant, ein Swimmingpool und eine Anlage zum Schlittschuhfahren befanden. "Mit den Winterspielen von 1960 ist alles explodiert", sagt Antonucci.

Es sind nicht mehr viele Gebäude von damals übrig. Eine Kapelle etwa, deren Dach so aussieht wie ein Kartoffelchip. Wenn man vom Eingang aus zu den Bergen blickt, sieht man ein paar Kinder üben. Sie gehören zu den Mighty Mites. So werden die jungen Mitglieder des Skiklubs genannt, die hier bestenfalls zu Olympiateilnehmern ausgebildet werden. Mittlerweile waren 28 Menschen aus Squaw Valley bei Olympia. In Sotschi werden die Skifahrer Julia Mancuso (Olympiasiegerin 2006), Travis Ganong und Marco Sullivan sowie der Snowboarder Nate Holland (sieben Titel bei den X Games) dabei sein.

Es gab da also eine Gegend, in der quasi aus dem Nichts ein Olympia-Gastgeber wurde. Hört sich bekannt an. Wahrscheinlich ein Grund, warum in letzter Zeit zahlreiche russische Journalisten Squaw Valley besucht haben.

Im Süden des Lake Tahoe, etwa 50 Kilometer von den Austragungsorten der Olympischen Spiele entfernt, ist die Spaßversion dieser Wintersportgegend beheimatet. Es gibt einen Ort, den sie ganz unbescheiden Heavenly Village getauft haben. Es sieht aus wie ein kleines Dorf in der Schweiz. Wer ein Zimmer im Forest Suites Resort belegt, geht fußgemessene 300 Schritte zum Lift, der einen zu 90 perfekt präparierten Pisten bringt. Von oben hat man einen bezaubernden Blick auf den See und die Berge, auf teure Hotels, Restaurants und Casinos - Wintersport deluxe.

Im Norden dagegen haben sie sich eine herrliche Schrulligkeit bewahrt. Wenn die Einwohner von Squaw Valley die Eröffnung der Skisaison feiern, dann gibt es eine Art Olympischer Spiele der Feuerwehren, mit sportlichen Wettkämpfen und Sushi-Wettessen. Vor ein paar Jahren haben sie Spenden für eine Maschine gesammelt, mit der sie die Loipen von 1960 nachziehen können - sie sind stolz darauf, Gastgeber gewesen zu sein, wollen es aber auch nicht übertreiben mit der Nostalgie.

Und dann schneit es tatsächlich. Womöglich werden sich die Menschen nun erzählen, dass Walt Disney höchstselbst im Himmel zu Petrus gegangen ist und ihm gesagt hat, dass Squaw Valley ganz dringend ein paar Schneeflocken braucht.

Informationen

Anreise: Flug von Deutschland nach Reno oder Sacramento und zurück ab ca. 600 Euro. Von dort verkehren Shuttlebusse in die Wintersportorte.

Unterkunft: Nordseite des Sees: Tahoma Meadows Cottages in Tahoma, Häuschen ab ca. 103 Euro/Nacht, www.tahomameadows.com; Südseite: Forest Suites Ressort in Heavenly Village, DZ mit Frühstück ab ca. 100 Euro, www.forestsuites.com

Weitere Auskünfte: www.squaw.com, www.visitinglaketahoe.com

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