Oktoberfest in Tallinn, Estland:"Siis juua saab - Oans, zwoa, gsuffa!"

Wikinger, Korsaren und nur ein Dirndl: Wie die Esten mit viel Freude ein Oktoberfest feiern, das besser ist als nur eine billige Kopie des Originals.

Stefan Fischer

Supermax würde auch dem Original zur Ehre gereichen. Supermax hat einen Bauch wie ein Bierfass, sein weiß-blaues Halstuch könnte jeder vierköpfigen Familie problemlos als Tischdecke dienen, außerdem ist Supermax auf eine recht bayerische Weise maulfaul. Supermax ist jedoch kein Münchner, er ist Este. Sein Platz ist demnach nicht auf der Wiesn, sondern im Beer House von Tallinn beim "Oktoberfest spetsiaal" - das gefeiert wird, Wochen, nachdem in München die letzte Maß gezapft ist.

Vielleicht ist Supermax auch deshalb so dick, weil er sich dadurch die Welt besser vom Leib halten kann. Die Stimmung anheizen, Trinklieder mit dem Publikum einstudieren, überhaupt auf die Leute zuzugehen - das überlässt er lieber dem Hünen an seiner Seite, der sich kurioserweise als Wikinger verkleidet hat. Am Eingang war bereits ein Korsar gestanden. Man muss das nicht verstehen.

Nur so viel: Ein in Estland beliebtes Trinklied, das zur Melodie von "In München steht ein Hofbräuhaus" gesungen wird, endet mit dem Vers "Allen zum Wohl - ahoi!". Das Lied erzählt von einem Braumeister und dem ungeduldigen Warten darauf, dass sein Bier endlich fertig wird. Wo auf der Wiesn "oans, zwoa, gsuffa" gegrölt wird, singen die Esten "siis juua saab" - "dann kann man es trinken".

Man kann es in der Tat sehr wohl trinken, das Bier aus den hauseigenen Braukesseln des Beer House - sieben Sorten sind eigens für das Oktoberfest-Wochenende angesetzt worden. Auf der Wiesn wäre aufgrund des Münchner Purismus jedoch mit kaum einer davon ein Geschäft zu machen: nicht mit dem "Oktoberfest Spetsiaal Pilsner", auch nicht mit dem leichten Hellen, und schon gar nicht mit einem Honigbier.

Aber das macht den Charme dieser - auf Estnisch - "Belustikung" aus.

Ballkleid in der Bierhalle

Hier geht es nicht um eine Kopie des Originals, um die man sich andernorts so oft krampfhaft bemüht, sondern eher um eine Art Karneval, eine Motto-Party. Nur eine Kellnerin steckt in einem Kleid, das als Dirndl durchgeht, ihre Kolleginnen scheinen indes einer bulgarischen Volkstanztruppe entsprungen. Egal, nicht zuletzt, weil in München in punkto Tracht ebenfalls längst auf Traditionen gepfiffen wird. Auch die männlichen Bedienungen bevorzugen es multifunktional, sie könnten ohne weiteres auf jedem Mittelalter-Weihnachtsmarkt eingesetzt werden.

Sie bringen neben dem Bier Brezen und Lebkuchenherzen, das ist das Entscheidende; und für alle Gäste sichtbar rotiert ein Spanferkel über offener Flamme. Dass es auf der Speisenkarte einen Kaninchen-Eintopf Salzburger Art gibt, wird womöglich Salzburger noch stärker irritieren als Münchner. Aber so lange wahrscheinlich nicht einmal jeder Zehnte Deutsche weiß, wie er die Hauptstädte Tallinn, Vilnius und Riga den baltischen Staaten Estland, Litauen und Lettland zuordnen soll (die als Einheit zu sehen auch nicht höflich ist), gibt es keinen Grund zur Häme.

Einen unschätzbaren Vorteil hat das Oktoberfest in Tallinn ohnehin: Obgleich das Beer House in einer Gasse am Marktplatz sehr gut besucht ist und schnell Stimmung aufkommt, kriegt man immer noch einen Platz. Und man kann sich, wie die junge Frau drei Barhocker weiter, die sich in Begleitung eines Mitglieds der russischen Boccia-Nationalmannschaft (so steht es auf seinem T-Shirt) recht schnell ein paar Biere reinzieht, auch in einem Kleid in dieses Wirtshaus wagen, mit dem man genau so gut jede Opernpremiere gesellschaftlich bestehen würde.

Wer borniert genug ist, wird sich natürlich mokieren über die kleine Geschichte des tatsächlichen Oktoberfests, die in estnischer, russischer und englischer Sprache auf die Papiersets gedruckt ist. Zu Ehren "of Saxon King Ludwig" sei das Fest erstmals gefeiert werden. Wann hätte es das gegeben: ein sächsischer König in München! Aber wie die Franzosen die Deutschen Alemannen heißen, sagen die Esten eben Sachsen - Saksa. Und als Könige von Deutschland fühlen sich Bayern doch seit jeher, oder? Darauf ein Pilsner Spetsiaal.

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