Oberschlesien:Die Stunde des Goldfasans

Kattowitz und die Kleinstädte Oberschlesiens - eine Reise in die Vergangenheit Südpolens.

Kathrin Hillgruber

In fröhlichem Gelb-Weiß hebt sich der Plakatständer vom regennassen Trottoir ab. "Immer frische Eier", verspricht in geschwungener Schrift eine Handelskooperative, deren Name "Skrzypiec" die landestypische, leicht einschüchternde Konsonantenhäufung aufweist.

In einem Hinterhof der Ulica Teatralna werden landwirtschaftliche Produkte verkauft, der einzige Lichtblick an diesem Schlechtwettertag in der Theaterstraße von Kattowitz. Es herrscht Dauerregen, und über der Hauptstadt der Woiwodschaft Schlesien, dem alten Zentrum der Erz- und Kohleförderung sowie der Schwerindustrie, liegt Kohlegeruch.

Undeutlich zeichnet sich die Jugendstilfassade des imposanten Schlesischen Theaters aus dem Jahr 1907 ab, das nach dem Maler und Dramatiker Stanislaw Wyspianski benannt wurde. Auch sonst hüllt die Stadt ihre diskreten Reize in ein alles gleichmachendes Grau.

Gegenüber dem Hauptbahnhof ragt das Hochhaus-Hotel "Silesia" in den Himmel. Beim Cocktail im Restaurant fühlt man sich durch das Original-50er-Jahre-Dekor in einen altmodischen Agentenfilm versetzt. Die Silhouetten eleganter Damen mit Hut und hochbeiniger Katzen spazieren über eine Kachelwand, leise knistert der Plüsch.

So lädt Kattowitz auf Schritt und Tritt zu Zeitreisen ein. Von 1922 bis zum September 1939 war es die Hauptstadt der Autonomen Woiwodschaft Schlesien innerhalb der Zweiten Polnischen Republik, der nach dem Ersten Weltkrieg Ost-Oberschlesien zugeteilt worden war.

Als architektonisches Symbol dieser stolzen, doch jäh und tragisch beendeten Phase der Unabhängigkeit galt der von Karol Schayer entworfene Neubau des Schlesischen Museums. Heute ist es das Ufo-förmige Stadion "Spodek" (Untertasse). Schayers licht und klar konturiertes Zeugnis der Neuen Sachlichkeit, eines der modernsten Museen in Europa, beherbergte eine bedeutende Sammlung polnischer Malerei seit 1800.

Am 8. September 1939, nur eine Woche nach dem Überfall auf das Nachbarland, machten die deutschen Besatzer dieses Sinnbild der polnischen Kultur dem Erdboden gleich. Ungefähr einhundert Bilder wurden dabei geraubt oder zerstört. Erst 1984 kehrte die inzwischen erweiterte Kollektion in das heutige Schlesische Museum zurück.

Die Industrieregion Oberschlesien zählt dreieinhalb Millionen Einwohner. Doch nur gut zwanzig Kilometer südlich ihres Zentrums Kattowitz, in Tychy, bieten sich ungeahnte Oasen der Erholung und des Genusses. Wie eine Fata Morgana erhebt sich in den Ausläufern des Pszynska-Waldes das Fünf-Sterne-Hotel Piramida. Seinem Namen macht das zehnstöckige Gebäude alle Ehre, und die ägyptische Innenausstattung dürfte Requisiteure begeistern: Jedes Zimmer hat wie in einer echten Pyramide eine schräge Außenwand, das Restaurant "Cleopatra" präsentiert sich in stilgerechter Ausstattung, am Pool halten Kamele und Hundegottheiten Wache.

Die Stunde des Goldfasans

Am Ufer eines kleinen Sees gelegen, offeriert das von dem Bioenergietherapeuten Tadeusz Ceglinski gegründete Zentrum für Rehabilitation Spa- und Wellnessangebote bis in die Pyramidenspitze. "Es gibt viele Beweise dafür, dass Berührung von Herrn Ceglinski hilft und nie schadet", versichert der Hotelprospekt.

Geballte Jagdromantik

Was dem Piramida seine Gipsstatuen, das sind dem nahen Jagdschlösschen Promnice seine stattlichen Geweihe: Das Fachwerk-Kleinod aus dem 19. Jahrhundert gehörte einst der Fürstenfamilie von Pless, die auf die Adelsfamilie Promnitz folgte. Es liegt mitten im Reservat von etwa 40 scheuen Bisons. In drei Sälen mit Original-Mobiliar, Kaminen und Hirschgeweih-Kronleuchtern lassen sich altpolnische Wildgerichte genießen.

Ergänzt wird diese geballte Jagdromantik durch das passende Getränk, nämlich Bier. Seit 1629 wird in Tychy (Tichau) das "Fürstenbräu" gezapft. Nach 1945 hieß die Produktionsstätte des feudalen Gerstensafts in sozialistischer Schlichtheit "Brauerei Nr. 1".

In eine ehemalige evangelische Kapelle ist ein Brauereimuseum eingezogen, das mit 3-D-Animationen kräftig schäumende Eigenwerbung für die Hausmarke betreibt. Das ehedem "bürgerliche Brauhaus Tichau O.S." verlässt sich nach wie vor auf deutsche Technik, etwa bei der computergestützten Gärung; der Hopfen wird aus Weihenstephan importiert.

Die Kleinstadt Pszczyna (Pless) wirkt wie ein beschaulicher Marktflecken aus dem 19. Jahrhundert. Im Restaurant "Va Banque" isst man gut und zeitgemäß und hat dabei das Schloss im Blick, das als eine Perle dieses polnisch-tschechisch-deutschen Kulturraums gilt. Seit 1946 zählt es zu den bekanntesten Museen in Polen.

Von 1870 an versah der Architekt Alexandre Hippolyte Destailleur die einstige Burganlage mit einem "Kostüm der französischen Architektur" im Renaissancestil. Zu dieser äußeren Pracht passen die zahlreichen Bildnisse der englischen Schönheit Maria Theresia Fürstin von Pless, genannt Daisy.

Ihr Enkel Graf Bolko von Hochberg lebt in München. Voller Stolz erzählt die betagte Führerin im schlesischen Dialekt, wie sehr sich der Erbe für die Renovierung der Residenz einsetze. Auch der Barock-Komponist Georg Philipp Telemann schätzte die Plesser Sommerfrische. Ihm zu Ehren werden regelmäßig "Abende bei Telemann" veranstaltet.

"Château Pless" beherbergte von 1914 bis 1917 das Hauptquartier der deutschen Heeresleitung unter Wilhelm II.. Ein Netz von Telefondrähten umspannte damals die ganze Stadt. Das Kaiserpaar verfügte über diverse Zimmerfluchten mit Chinoiserien, Badezubern und spitz zulaufenden Feuerlöschern. Die Türgriffe der Vestibüle waren so niedrig angebracht, dass sich die Bediensteten bücken mussten.

Auch außerhalb der Schlossmauern ist die geschichtliche Dimension von Pless gegenwärtig: In der Nähe eines preußischen Grenzsteins von 1879 erinnert die Holzkirche St. Martin an die polnischen Opfer des Autonomie-Kampfes Anfang der 1920er Jahre. In der Piastowka-Straße hat die "Gesellschaft der Liebhaber des Plesser Landes" ein Museum eingerichtet, das die Historie des polnischen Zeitungswesens in Schlesien dokumentiert, samt Druckerpressen und Buchbinder-Maschinen.

Abstecher in die zweite Winterhauptstadt

Kurz vor dem Besuch des ehemals habsburgisch-polnischen Bielsko-Biala empfiehlt sich ein Abstecher in den äußersten Süden der Woiwodschaft, in die Beskiden. Das Skigebiet umfasst den traditionsreichen Kurort Ustron und Szczyrk sowie Wysla, wo nicht nur die Weichsel entspringt, sondern auch der berühmte Skispringer Adam Malysz geboren wurde.

Routen von mehr als 200 Kilometern und etwa 150 Skilifte stehen zur Verfügung, im Sommer entsprechend ausgedehnte Wander- und Fahrradwege. Die höchste Erhebung rund um Szczyrk, neben Zakopane die zweite "Winterhauptstadt" Polens, bildet mit 1257 Metern der Hausberg namens Skrzyczne. Der Ort bietet in der Hauptsaison etwa 7000 Betten an. Eine der originellsten und günstigsten Übernachtungsmöglichkeiten dürfte das "Beskid Kino" auf der Hauptstraße sein.

Die Stunde des Goldfasans

Ungewöhnlich reizvoll wie die Stadt Bielsko-Biala selbst sind ihre Orte der Ankunft und der Abfahrt. Zugreisende erwartet der phantastisch restaurierte Hauptbahnhof des ehemals österreichischen Stadtteils Bielsko (Bielitz) von 1889.

Das blassrote Bauwerk der "K.k. Privilegierten Kaiser-Ferdinand-Nordbahn" verband Wien mit Lemberg. Die Wartehalle ist mit aparten pompejanischen Motiven verziert. Die Eleganz der öffentlichen Gebäude und der Fabrikantenvillen im Neobarock oder Sezessionsstil trugen der Textilstadt Bielitz den Beinamen "Klein-Wien" ein. Über dem Portal eines lindgrünen Jugendstil-Gebäudes haben sich zwei Frösche im Anzug niedergelassen, der eine musiziert, der andere raucht Pfeife.

Bielitz und Biala, zu beiden Seiten des Flusses Biala gelegen, bildeten von 1457 bis zu den Polnischen Teilungen die Grenze zwischen Schlesien und Kleinpolen. Erst seit 1951 existiert die Doppel-Stadt mit den drei Marktplätzen und einem regen Kulturleben. So halten hier einmal im Jahr die polnischen Komponisten ihr Branchentreffen ab, und in den letzten Novembertagen erklingt der "Jazz-Herbst".

Das angestammte Klima der Toleranz in dieser Stadt belegt nicht nur das prächtige Begräbnishaus auf dem Jüdischen Friedhof in Aleksandrowice (Alexanderfeld), sondern vor allem der sogenannte Bielitzer Zion: Als Anspielung auf den Tempel in Jerusalem bezeichnet der poetische Name eine weitläufige evangelische Siedlung in Hufeisenform.

Sie ging auf das "Toleranzpatent" von Kaiser Josef II. zurück. Es erlaubte den Protestanten Augsburger Bekenntnisses, wie sie in diesem Teil Polens heißen, Kirchen, Schulen und Druckereien zu errichten. Hier steht übrigens das einzige Denkmal Martin Luthers in Polen.

Der deutschsprachige Bischof Pawel Anweiler waltet in dieser Idylle seines Amtes. In der Sakristei hängen über einem ausladenden Biedermeier-Sofa die Porträts all seiner Vorgänger, in ihrer Mitte der Reformator. In der Kirche stapeln sich die Kartons der letzten Altkleidersammlung innerhalb der 1200-Einwohner-Gemeinde. Sie werde selbst von wirtschaftlichen Sorgen geplagt, erzählt der Bischof. Die Gottesdienste hält er in beiden Sprachen ab.

In einem Außenbezirk von Bielsko-Biala liegt das Hotel "Papuga (Papagei) Park". Der 700 Quadratmeter große Wellnesstrakt beweist Mut zur Farbgestaltung, diesmal nicht im ägyptischen, sondern im indischen Stil.

Bleibt der Badegast lang genug im Pool und blickt versonnen nach draußen, taucht mit etwas Glück ein Goldfasan auf. Er schüttelt sein Gefieder und verharrt im Gehölz, nicht die "Zeit des Fasans" anzeigend wie der Epochen-Roman des Schweizers Otto F. Walter, sondern einfach nur: die Stunde des oberschlesischen Goldfasans.

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