Norwegen:Sichten und denken

Auf einer abgelegenen Insel in Nordnorwegen hat ein Musiker ein Refugium für Künstler und Touristen geschaffen.

Von Evelyn Pschak

Håvard Lund sitzt in seiner minimalistischen Küche. Durch lange Fensterfronten fällt das Quecksilberlicht der arktischen Küstenlandschaft ein. Gerade hat er selbstgebackenes Brot aus dem Ofen gezogen, der Geruch warmen Hafers zieht durch den Kubus. Das Gebäude sei genau wie seine Klarinette, sagt der Musiker: "Aus Holz, spielerisch, kontrolliert und doch ungeschützt."

Lund ist Klarinettist, angestellt beim norwegischen Staat. Er wird dafür bezahlt, Kultur bis an die entlegensten Orte des Landes zu bringen. Üblicherweise beinhaltet diese Aufgabe Konzerte und keine Bauvorhaben. Aber der 47-Jährige wollte einen Ort schaffen, an dem Menschen kreativ sein und die Natur erleben können. "Fordypningsrommet Fleinvær" nennt Håvard Lund sein Projekt. Das erste Wort bedeutet "Raum für tiefere Studien", das zweite ist der Name des Archipels im Vestfjord, auf dem Lunds Häuser stehen. Die Meeresbucht liegt zwischen dem nordnorwegischen Festland und den Lofoten. Etwa 300 Inseln gehören dazu, neun davon sind bewohnt, darunter auch das Eiland Sørvær. Hier stehen, auf schroffem, baumlosen Fels, neun silbern schimmernde Holzhütten auf Stelzen - Lunds Vision eines "Arctic Hideaway".

1998 kam Lund zum ersten Mal nach Sørvær, da war er 27. Ein befreundeter Künstler, der Grafiker Are Andreassen, eröffnete hier sein Atelier. Das gelbe Haus, das auf Stelzen übers Nordmeer ragt, ist von Lunds Küche aus zu sehen. 2004 erwarb dann auch der Jazzmusiker Lund sein erstes Stück Land auf der Insel: "Ich wollte hier nur eine Hütte hinstellen und zum Komponieren herkommen", sagt er. Doch dann gerieten ihm seine Vision und weitere zehn Jahre dazwischen. Er benötigte gleichgesinnte Partner, staatliche Zuschüsse, Bankanleihen; 840 000 Euro hat er bereits investiert, gerade arbeitet Lund am zehnten Holzhaus.

"Crab Trap", Krabbenfalle, nennt er seine künftige Outdoor-Küche. Sie steht am Ufer des Eismeeres und komplettiert das kleine Dorf: Vier schmale Schlafkuben stehen am Hang, am Pier gibt es eine Sauna, daneben ein Gemeinschaftsbad mit Dusche und Toilette. Die eigentliche Küche liegt auf halber Hanghöhe. Es gibt einen Aufenthaltsraum mit elektrischem Klavier und Lunds Bassklarinette. Und ganz oben am Hang die "Denkbox", die sämtliche Gebäude überragt, mit Blick auf die vielen Inseln und schneebedeckten Berggipfel der Nordland-Provinz. Der nächste Coup soll ein Unterwasserraum werden. 27 Kubikmeter aus Beton und Glas, ungefähr sieben Meter tief unter dem Meeresspiegel, sind geplant. 19 Meter weit könne man hier unter Wasser sehen, sagt Lund.

"Sei nicht höflich, sei ehrlich. Wenn du hier zu steif herumläufst, wirst du dir ein Bein brechen", ist einer von Håvard Lunds ersten Sätzen, wenn er Gäste auf der Insel begrüßt - er meint es nur halb im Scherz. Die in den Schiefer gehauenen Stufen unter der steilen Holztreppe zur Denkbox liegen auch im März noch unter Eis und Schnee, ein hölzerner Steg führt weiter von Hütte zu Hütte, bis fast hinunter zum Pier. Die Vegetation der Insel soll durch die Gäste so wenig wie möglich belastet werden, das war eine Vorgabe für die Architekten.

Über das Trondheimer Architekturbüro TYIN tegnestue kam der Architekt und Künstler Sami Rintala auf die Insel, dessen Arbeiten bereits auf der Architekturbiennale in Venedig und im Victoria-and-Albert-Museum in London gezeigt wurden. Ein Glücksgriff, sagt Lund: "Ich hatte gedacht, er wäre viel zu teuer für mein Projekt, aber so kam er für Workshops mit seinen Studenten aus der ganzen Welt hierher." Architekten und Bauherr schufen eine Serie von monofunktionalen Kuben und trennten somit die Grundbedürfnisse nach Schlafen, Essen und Sanitärem: "Wir wollten eine Architektur, die den Menschen zwingt, in die Natur hinauszugehen."

Diese Verbindung zwischen Lebensraum und Naturgewalt zeigt sich besonders eindrücklich in der Denkbox, der zeitgenössischen Interpretation einer Njalla. Diese typische Speisekammer der Samen wurde auf freistehende, noch verwurzelte Baumstämme gebaut, um Nager fernzuhalten. Auch die Denkbox ist ein Baumhaus. Ein künstliches, auf stählernem Stamm, an dem der Wind rüttelt.

Viele Gäste nutzen die Box nicht nur zum Denken, sondern auch, um darin zu schlafen. Dann stehen zwei schmale Einzelbetten mit dicken, pludrigen Bettdecken darin und ein Sessel, ganz nah an die verglaste Frontalwand geschoben. Dort sitzt man, die Zehen fest auf Wollteppich und Fußbodenheizung gedrückt, wenn nachts das flimmernde Nordlicht hereinschimmert. Lunds Fordypningsrommet ist ein Ort, an dem sich die Stille finden lässt. Hier geschieht auch mal weiter nichts, als dass ein Seeadler kreist. Was für Norweger nicht einfach zu sein scheint. "Die können nicht einfach dasitzen und den Gezeiten zusehen", sagt Lund. "Sie brauchen Aktivität, um auszuruhen." Und viele würden auch denken: "Was sind das für arme Leute, die durchs Freie bis zum Klo laufen müssen." Es sind daher eher Lunds Gäste aus Südfrankreich oder New York, die diesen Ort zu schätzen wissen. "Er wurde für Menschen gebaut, die die Kunst des Nichtstuns beherrschen." Zudem kommen Künstler, denen die Provinz Nordland einwöchige Arbeitsaufenthalte finanziert.

Vom höchsten Punkt der Insel, auf gerade einmal 39 Metern, sieht man bis zu den rund 80 Kilometer entfernt liegenden Lofoten. Auf der Anhöhe steht auch eine Skulptur des Künstlers Are Andreassen; sie ist ein beliebtes Ziel für Spaziergänge. Auf Vierfarbdrucken protestiert Andreassen gegen Supertrawler im Nordatlantik oder die Pläne Norwegens, vor den Lofoten Öl zu fördern. Als politischer Künstler sei man nicht beliebt, sagt der 61-Jährige, "aber bei manchen Dingen kannst du einfach nicht still sein". Derzeit arbeitet er an der Internetseite Norlandiart, die Künstlern nördlich des Polarkreises eine Plattform bieten soll.

Vor ein paar Wochen hat Lund auf Facebook ein Jobangebot gepostet: Er sucht einen Hauswart, der zwei Monate bei den Hütten bleibt, die Gäste empfängt, sie mit der Einrichtung vertraut macht oder auf Wunsch Frühstück besorgt. Obwohl die Stelle nicht bezahlt wird, trudelten innerhalb kürzester Zeit an die 250 Bewerbungen aus der ganzen Welt ein. "Alles tolle Leute. Wir werden einfach einen nach dem anderen herholen", sagt Lund, der hofft, dass er selbst wieder mehr zum Komponieren kommt, wenn der Hauswart erst mal da ist. Dann nimmt er die Bassklarinette, blickt nach draußen, wo eisgraue Wellen beständig gegen den dunklen Stein des Ufers donnern, und spielt Bach.

Reiseinformationen

Anreise: Scandinavian Airlines fliegt dreimal täglich via Oslo ab München nach Bodø, einfaches Ticket ab 280 Euro, www.flysas.com. Vom Flughafen weiter mit dem Taxi zum Sentrumsterminalen, Fährboot Richtung Ytre Gildeskål, Ausstieg: Sørvær.

Übernachtung: The Arctic Hideaway: Die zehn Häuser kosten für eine Woche (sechs Nächte) ca. 3300 Euro, übernachten können bis zu zehn Personen. Da es auf der Insel keine Geschäfte gibt, muss man das Essen mitbringen; der Gastgeber besorgt es auch gegen Aufpreis. Der Aufenthalt ist auch in der Luxusvariante buchbar, mit Chefkoch, Boot-Charter, Ausflügen und Abholung vom oder Zubringer zum Flughafen von Bodø, www.fordypningsrommet.no

Weitere Auskünfte: www.visitnorway.com

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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