Nordindien:Kamasutra an der Tempelwand

Vor 1000 Jahren sollte der Geist der Gläubigen auf die Probe gestellt werden, heute sind es eher die Moralvorstellungen der Inder: Das irritierende Erbe der Chandella-Dynastie am Khajuraho-Tempel.

Nicolai Spiess

Ein paar Jugendliche kichern. Ein Ehepaar blickt ungläubig in die Höhe. Und neben ihnen zieht ein älterer Herr erzürnt die Brauen zusammen, während sein Enkel respektvollen Abstand hält und in den Himmel starrt. Anlass der merkwürdigen Reaktionen: die Tempelwände.

Nordindien: Von Ferne betrachtet, ist am Khajuraho-Tempel in Nordindien nichts Anstößiges zu sehen. Aber wenn man näher kommt ...

Von Ferne betrachtet, ist am Khajuraho-Tempel in Nordindien nichts Anstößiges zu sehen. Aber wenn man näher kommt ...

(Foto: Foto: agentur laif)

Aber was für Tempelwände! Es sind zumeist vollbusige Frauen, die auf die Besucher herab lächeln. Tanzende Frauen, die kokett die Arme in die Hüfte stemmen, Frauen, die ihre Männer neckend am Bart zupfen, mit ihnen zanken oder aber im Liebesakt versunken sind.

Die Tempel von Khajuraho in Nordindien gehören seit 1986 zum Weltkulturerbe der Unesco und sind fester Bestandteil organisierter Indienreisen. Sie wurden während der Chandella-Dynastie erbaut, die ihren Höhepunkt zwischen 950 und 1050 n. Chr. erreichte.

Viele Skulpturen sind so meisterhaft herausgearbeitet, dass die Gesichter auch nach 1000 Jahren noch lebendig wirken. An einer Ecke des Lakshmana-Tempels scharen sich die Schaulustigen um eine ekstatische Sexorgie. "This man has a very fresh banana!", verkündet der Fremdenführer schelmisch und hat die Lacher wieder einmal auf seiner Seite.

Zwar stellen nur etwa fünf Prozent der Skulpturen Kopulationsszenen dar, doch diesen verdankt Khajuraho seinen Weltruf. Als "Tempel der Liebe" und "Kamasutra-Tempel" werden sie vermarktet, und viele indische Paare verbringen ihre Flitterwochen hier.

Dass um die erotischen Darstellungen so viel Aufhebens gemacht wird, verwundert nicht in einem Land, in dem Sex immer noch ein Tabuthema ist und Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit verpönt sind.

Um Frauen in kurzen Röcken zu sehen, muss man mit den Bollywood-Starlets im Kino vorlieb nehmen, denn draußen auf der Straße gibt es derlei Reize nicht.

Vor drei Jahren musste sich der indische Maler M. F. Husain vor Gericht verantworten, da er es gewagt hatte, indische Gottheiten auf einem eher abstrakten Gemälde mit nackter Brust darzustellen. Und vor kurzem wurde gegen den amerikanischen Schauspieler Richard Gere Haftbefehl wegen "obszöner Handlungen" erlassen, weil er seine indische Schauspieler-Kollegin Shilpa Shetty auf einer Aids-Benefizveranstaltung umarmt und auf die Wange geküsst hat. Daraufhin versammelten sich ebenso empörte wie erzkonservative Demonstranten in mehreren Städten zu Protesten, wobei sie Parolen wie "Berührt unsere Frauen nicht!" skandierten und Richard-Gere-Nachbildungen verbrannten.

Vor 1000 Jahren schienen die Inder mit dem Thema Sexualität weit entspannter umzugehen. Und die indische Oberschicht tut es im Gegensatz zu den einfachen Leuten auch heute noch.

Dabei sind die erotischen Darstellungen der Tempel von Khajuraho keinesfalls einzigartig. Im ganzen Land finden sich halbnackte Schönheiten sowie Kopulationsszenen auf Tempelwänden, wenn auch selten in dieser Fülle.

Sie sind Teil einer Jahrtausende alten Tradition von Fruchtbarkeitsriten. Schließlich ist auch der Lingam, der in tausenden von Tempeln Shiva, den Zerstörer- und Erschaffergott, repräsentiert, ein Phallussymbol.

Doch das wissen heutzutage nur noch gebildete Inder. Und selbst diese stehen befremdet vor Khajurahos Tempelwänden. Kaum jemand vollzieht die in einem hinduistischen Tempel üblichen Ehrerbietungen und verneigt sich vor den Götterstatuen im innersten und heiligsten Teil der Tempel. Zum Beten gehen die Besucher in den nahe gelegenen Matangeshwar-Tempel, der einen riesigen Lingam, jedoch keine anrüchigen Skulpturen aufweist. Warum aber meißelte man diese Kopulationsszenen in heilige Tempelwände?

Kamasutra an der Tempelwand

Die Einheimischen erklären einem, dass das Volk Gefahr lief auszusterben, weil die Chandellas so viele Kriege führten. Eine andere Begründung ist, dass zu viele Männer Sadhus wurden und asketisch in den Wäldern lebten. Deshalb habe der König diese außergewöhnlichen Tempel bauen lassen, um den Fortbestand des Volkes zu gewährleisten.

Nordindien: ... offenbart die Fassade erotische Details:  jahrtausendealte Fruchtbarkeitsriten in Stein.

... offenbart die Fassade erotische Details: jahrtausendealte Fruchtbarkeitsriten in Stein.

(Foto: Foto: Archiv)

Viele lokale Führer sind der Ansicht, dass die Gläubigen in Khajuraho auf die Probe gestellt werden sollten. Nur wer seine Begierde überwand, und nach der obligatorischen Tempelumrundung noch reinen und ruhigen Geistes war, erwies sich als reif für den Eintritt ins Tempelinnere, für die Begegnung mit seinem Gott. Umso verblüffender, dass auch im Inneren der Tempel Kopulationsszenen vorherrschen.

Die meisten Wissenschaftler sind sich einig, dass die Tempel von Khajuraho durch den Tantrismus beeinflusst wurden, die Lehre, wonach die Seele des Einzelnen in der Vereinigung von männlicher und weiblicher Energie mit dem Universum verschmelze.

Die wahren Beweggründe für die ausschweifenden erotischen Darstellungen werden wohl ewig ein Rätsel bleiben, und es scheint, als wäre das einigen der steinernen Schönheiten bewusst. Sie lächeln geheimnisvoll und wenden dem staunenden Besucher dabei den nackten Hintern zu.

So mancher ist es leid, dass sich das Interesse der Besucher immer nur um die erotischen Darstellungen dreht. "Ich habe noch keinen Inder gesehen, der die Schönheit und Kunst dieser Tempel bewundert hat", klagt Anurag Shukla, einer der kundigen Touristenführer.

"Khajuraho bedeutet für die Leute nur Eines: Erotik und Pornographie. Sie halten diese Tempel nicht für verehrenswert. Sie glauben sich auf einem Spielplatz. Aber es ist ein heiliger, ein spiritueller Ort. Khajuraho zeigt den Menschen in seiner Ganzheit!"

Die Einheimischen leben allerdings vom eindeutigen Image der Tempel. Sobald der Besucher, von Eindrücken überwältigt, wieder auf die Straße tritt, wird er von fliegenden Händlern umzingelt, die ihm kleine Kamasutra-Büchlein unter die Nase halten, deren Illustrationen in Indien normalerweise illegal sind.

Und falls diese beim Kunden noch kein Interesse erregen, werden die berüchtigten Schlüsselanhänger gezückt, in Messing gegossene Liebespärchen, deren Hüften sich sogar bewegen lassen. "Maybe you like this, Sir?!"

Kamasutra an der Tempelwand

Nordindien: Lokale Führer glauben, dass die Gläubigen in Khajuraho auf die Probe gestellt werden sollten.

Lokale Führer glauben, dass die Gläubigen in Khajuraho auf die Probe gestellt werden sollten.

(Foto: Foto: Archiv)

Khajuraho war vor 40 Jahren noch ein beschauliches kleines Dorf, zu dem man nur über katastrophale Landstraßen gelangte. Seit 1969 jedoch der Flughafen gebaut wurde, ist Khajuraho ein festes Ziel organisierter Reisegruppen. Heute leben knapp 20 000 Menschen hier, und die sind völlig vom Touristengeschäft abhängig.

Drei Fünf-Sterne-Resorts und 36 weitere Hotels erwarten die Gäste, die täglich von zwei Boeings angeliefert werden. Knapp 240 000 Touristen besuchten die Tempel im letzten Jahr, ein knappes Drittel davon waren Ausländer.

Zwar besitzen und bewirtschaften noch viele Familien in Khajuraho ein wenig Land, doch gerade die lassen ihre Kinder nach (oder schlimmstenfalls während) der Schule auf Touristen los, deren Brieftaschen bekanntlich locker sitzen.

Sie führen einen in ein Geschäft oder ein Hotel und kassieren dafür Kommission, oder sie laden zu sich nach Hause zum Tee ein, in der Hoffnung auf eine Spende für das Begräbnis ihrer gerade gestorbenen Großmutter oder das kaputte Dach.

Spendenbetrug auf der Mitleidsschiene

Es gibt eine berühmt-berüchtigte Schule in Khajuraho, die Agrezi (Engländer), wie Westler hier immer noch genannt werden, höchst willkommen heißt. Sie werden in einen baufälligen zweistöckigen Lehmbau geführt, in dem sie den Kopf senken müssen, um nicht an die Decke zu stoßen. Sodann fallen ihre Blicke auf süß lächelnde Kinder, die auf schmutzigen Matten am Boden kauern.

Der Lehrer müht sich mit tragischer Miene an einer kleinen Tafel ab. Kein Pult, keine Stühle, keine Tische. Die Not scheint groß zu sein. Auf ein Büchlein hingewiesen, in dem sich schon einige edle Spender verewigen durften, lässt sich der Besucher selten lumpen. Der Schulleiter wird sich natürlich hüten, die so dringend benötigten Möbel anzuschaffen.

Viele Einheimische verachten ihn dafür und ebenso viele beneiden ihn wohl auch. Die etlichen Beschwerden und Anschwärzungen bei der Touristenpolizei konnten ihm jedoch bislang nichts anhaben. Schließlich sind Spenden auch bei der indischen Polizei höchst willkommen.

Alleinreisende Frauen werden in Khajuraho schnell feststellen, dass sie nicht nur ihres Geldes wegen begehrt werden. Es ist den Indern bekannt, dass Reisende aus dem Westen "open sex" praktizieren, wie sie hier die freie Partnerwahl nennen.

In Indien ist hingegen die arrangierte Ehe die Regel; voreheliche sexuelle Erfahrungen sind für Frauen äußerst rufschädigend und unterliegen strengster Geheimhaltung. Dies hängt auch mit dem Kastensystem zusammen, denn eine aufgedeckte "Intercast-Relation" führt oft zu Familienfehden, die tödlich enden können.

Eine Ausländerin hat mit alldem nichts zu tun. Im Vergleich zu ihrer indischen Geschlechtsgenossin erscheint sie schon allein dadurch sexuell freizügig, dass sie sich von fremden Männern ansprechen lässt. Manche alleinreisende Frau allerdings hat Khajuraho schon völlig entnervt verlassen, weil sie auf Schritt und Tritt angemacht wurde.

Und was sagen die versteinerten Schönheiten Khajurahos zu alldem? Die setzen, wie zum Spott, wieder ihre geheimnisvollen Mienen auf.

Informationen:

Anreise: Von Frankfurt nach Neu Delhi z.B. mit Virgin Atlantic oder Qatar Airways ab 685 Euro, nach Varanasi z. B. mit KLM ab 850 Euro. Tägliche Flüge von Indian Airways und Jet Airways von Neu-Delhi und Varanasi. Die Busanreise von Varanasi über Satna ist auch möglich. Unterkunft: Fünf Sterne Hotel Taj Chandela, ab 70 Euro, www.tajhotels.com. Drei Sterne Hotel Usha bundela, ab 36 Euro, www.nivalink.com/ushabundela. Weitere Auskünfte: Indisches Fremdenverkehrsamt, Baseler Str. 48, 60329 Frankfurt, Tel.: 069/242 94 90, E-Mail: info@india-tourism.com, www.india-tourism.com

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