Nachtleben Madrid:Rebellen der Straße

Nachtleben in Madrid, Viertel Malasaña, Spanien

Feiernde im Viertel Malasaña.

(Foto: Imago Stock&People)

Erst übergeschnappt, dann abgestürzt: In Madrid ist die Krise noch nicht vorbei, aber der Aufbruch wird trotzdem schon mal anständig gefeiert. Ein Ausflug in das Nachtleben jenseits des alten Schickimicki.

Von Andreas Glas

In der Tür steht ein schmaler alter Mann. Er tippelt auf der Stelle, stellt sich auf Zehenspitzen, schaut zum Tresen, dann auf die Straße, wo sich die Leute drängeln, tippelt, stellt sich wieder auf Zehenspitzen, schaut wieder zum Tresen und ruft: "Was ist jetzt, Casto? Die Leute bringen mich noch um." Aber Casto, der Mann hinterm Tresen, bleibt hart. Er grinst nur. Der Laden ist voll, jetzt kommt keiner mehr rein. "Casto ist der Chef", sagt der Alte an der Tür, zuckt mit den Schultern und tippelt weiter auf der Stelle. Wie ein Läufer, der auf den Startschuss wartet. Aber der Startschuss kommt nicht, das Palentino ist dicht.

Draußen quetscht sich ein Chinese durchs Menschenknäuel, will den Wartenden Dosenbier verkaufen. Seine Hand steckt in einem dieser Plastikringe, die wie ein Netz das Sixpack zusammenhalten, das an seinem Handgelenk baumelt. 1,50 Euro will er für das Bier, aber kaufen will keiner. "Zu teuer", sagt ein Typ, der vor dem Palentino an einem parkenden Auto lehnt, sich das Warten mit einer Zigarette vertreibt und so sehr über seinen eigenen Witz lacht, dass er den Rauch verschluckt und heftig husten muss.

Wer den Witz verstehen will, muss wissen, dass das Bier im Palentino 40 Cent weniger kostet als beim chinesischen Straßenverkäufer. Das Palentino gibt es seit 54 Jahren, seit 54 Jahren steht Casto Herrezuelo hinterm Tresen. Außer Casto und dem Tresen gibt es noch ein paar Tische und Stühle, die dicht an der Wand stehen, darüber stumpf gewordene Spiegel, von der Decke strahlt kaltes Neonröhrenlicht, nicht einmal Musik läuft hier, dafür dudelt ein Spielautomat. Ein Szenetreff ist das Palentino trotzdem. Oder gerade deshalb.

Weil die Leute in Malasaña schon immer gegen den Trend geschwommen sind, weil sie immer schon rebelliert haben. Damals, Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Leute im Viertel den Widerstand gegen Napoleon anführten. Und später, in den siebziger Jahren, als Malasaña zum Symbol wurde für den wilden Aufbruch nach der prüden Franco-Ära, zum Symbol für die Freiheitsbewegung Movida Madrileña. Alles, was 35 Jahre lang verboten war, wurde zuallererst hier wiederbelebt: Kneipen hatten plötzlich die ganze Nacht offen, Transvestiten tanzten, Joints rauchend, durch die Straßen, die Jugend traf sich zu anonymen Sex-Partys in dunklen Schmuddel-Clubs. Dieses Umtriebige ist auch jetzt wieder spürbar, weil Madrids Jugend das Beste aus ihren Nächten macht. Nach dem Motto: Die Krise ist zwar noch nicht vorbei, aber den Aufbruch, den können wir ja trotzdem schon mal feiern.

So gesehen kann die Popularität des Palentino als Rebellion verstanden werden gegen die vielen, überteuerten Schickimicki-Schuppen, die in den vergangenen Jahren aus dem rauen Pflaster Malasañas geschossen sind. Die Schickimicki-Schuppen stehen für das alte Madrid, das der Wohlstand nach der Franco-Ära fett und träge gemacht hat, das irgendwann übergeschnappt und dann abgestürzt ist. Das Palentino steht dagegen für das neue, geerdete Madrid. Wer hier feiert, feiert auf dem klebrigen, von Erdnussschalen übersäten Boden der Tatsachen.

"Gäbe es solche Bars nicht, würde Malasaña seine Seele verlieren", sagt Ana, ein Hipster-Mädchen mit Dutt und bunter Strumpfhose. Sie sitzt mit zwei Freundinnen an einem Tisch, auf dem vierten Stuhl sitzt ein Rentner mit Stoppelbart, sein Kopf liegt auf der Tischplatte, daneben steht ein Glas Rotwein. Er ist eingeschlafen, in seinem Mundwinkel klemmt ein Zahnstocher, er sabbert. Der Rentner, erzählt Ana, sei früher ein bekannter Schauspieler gewesen, jetzt total abgestürzt, eine Tragödie. "Er kann tolle Geschichten erzählen", sagt Ana, "solche Leute triffst du nur hier." Weil man hier jeden trifft: Punks und BWL-Studenten, Hipster und Rentner.

Wenn man so will, hat die Krise das Nachtleben in Malasaña gerettet. Die Immobilienblase ist also noch rechtzeitig geplatzt, bevor die Show-Cooking-Restaurants, die Bio-Schokotörtchen-Cafés und die Diktatur der elektronischen Musik alle Ecken erfassen und den Punk aus dem Viertel vertreiben konnten. Den Punk, den auch Jana schätzt, eine slowenische Sprachenstudentin mit Totenkopf-Ohrringen. Seit ein paar Monaten ist sie hier, wohnt in einer WG in Chueca, dem Schwulenviertel Madrids, auch so ein Ort, an dem es sich exzellent und exzessiv feiern lässt - und wo die Mieten infolge der Krise wieder bezahlbar sind. Zum Ausgehen, sagt Jana, komme sie trotzdem lieber nach Malasaña: "Hier geht man nicht wegen der Musik weg, hier geht man weg, um zu feiern. Mal laden die Clubs einen DJ ein, der Bossa Nova spielt, mal einen der Punkrock auflegt. Das gefällt mir."

Sie suchen nicht, sie lassen sich überraschen

Jetzt lehnt die blonde Jana am Tresen der Bar La Bicicleta, es ist ja erst halb eins, für den Club viel zu früh. An der Decke hängen Rennräder, an den teils unverputzten Wänden Tretlager, die Möbel sind zusammengewürfelt. "Madrids erste Fahrradkneipe", nennt Quique Arias seine Bar, die zum Teil durch Crowdfunding finanziert wurde. Wieder so ein Beispiel dafür, wie die Jugend in Malasaña das Beste aus der Krise macht. Nur ein paar Schritte entfernt liegt die Plaza Dos de Mayo. Wer nicht aufpasst, tritt dort leicht jemandem auf die Füße, so voll ist der Platz am Abend. Es herrscht Picknick-Atmosphäre mitten in der Stadt. Einheimische, Touristen und Erasmus-Studenten sitzen im Schneidersitz auf dem Boden zusammen und erzählen sich Geschichten, trinken billiges Bier aus Flaschen oder haben härtere Sachen mitgebracht: ein paar Flaschen Gin, ein paar Flaschen Tonic Water zum Mischen.

In Spanien gibt es dafür ein eigenes Wort: Botellón, große Flasche. Der Botellón hat einen schlechten Ruf als öffentliches Massenbesäufnis und eigentlich ist er verboten. Aber weil die Leute in Malasaña ihren eigenen Kopf haben, weil es billig ist und man nirgendwo entspannter ins Nachtleben starten kann als auf warmem Kopfsteinpflaster unter dem Sternenhimmel, interessiert das nicht mal Antonio, den Polizisten, der hier jeden Abend patrouilliert. Dass die Plaza so voll sei, sagt Antonio, "zeigt doch nur, dass die Leute einen Sinn dafür haben, ihr Viertel zu genießen".

Und irgendwann schwärmen sie dann alle aus, ziehen von der Plaza Dos de Mayo weiter durch die engen Gassen, mal bergauf, mal bergab, aber immer entlang zwischen Backsteinhäusern und Eisenbalkonen. Es geht von Kneipe zu Kneipe, niemand bleibt länger als eine Stunde im selben Lokal. Nicht mal im El Corazón, dem zurzeit wohl angesagtesten Laden im Viertel, einem Hybrid aus Londoner Pub und Münchner Bierstüberl, mit Plüschsofas und holzvertäfelten Wänden, von denen ausgestopfte Tierköpfe glotzen: Stiere, Steinböcke, Hirsche. Man sieht wahnsinnig viele voluminöse Zottelbärte, wahnsinnig dicht tätowierte Frauenkörper - und überhaupt kommen einem hier alle Menschen wahnsinnig schön vor. Was aber auch an den Cocktails liegen könnte, die nicht nur extrem gut sind, sondern auch extrem reinhauen.

Im El Corazón wird Gin nicht mit Tonic verdünnt, sondern mit Wermut aufgegossen, perdón: mit Vermú, wie die Spanier den süßen Kräuterwein nennen. Eine Mischung, die locker macht und redselig, jedenfalls ist die Wirkung bei Alejandro so, einem Mittzwanziger mit Zottelbart, Muskelshirt und dem tätowierten Schnörkelschriftzug "Lord, I've been trying" am Hals. "Wenn du in Barcelona weggehst, sind alle Leute auf der Suche nach dem Besonderen", sagt Alejandro, "weil das Nachtleben dort den Ruf hat, das beste in ganz Spanien zu sein." Das sei ziemlich anstrengend, findet Alejandro. Hier, in Madrid, seien die Leute entspannter, "weil sie nicht suchen, sondern sich einfach überraschen lassen, was die Nacht so bringt".

Irgendjemand fällt einem sowieso in die Arme

Auf der Calle de la Montera bringt die Nacht immer das gleiche Bild: kurze Röcke, hohe Stiefel, offene Jacken. Die Calle de la Montera ist Madrids Straßenstrich, eine schmale Promenade zwischen Gran Vía und dem Stadtviertel Sol, wo sich das Sala El Sol befindet. Eine Diskothek, in der früher die Punk- und Rockstars der rebellischen Post-Franco-Ära auftraten, wo Pedro Almodóvar seine Schauspieler castete und wo der Movida-Mythos 40 Jahre später immer noch gefeiert wird.

Wer von Malasaña aus dorthin will, muss durch das Spalier der Prostituieren, links abbiegen in die Calle Jardines, an Schlange und Türsteher vorbei, eine breite Wendeltreppe hinunter. Unten angekommen, ist alles rot. Rotlicht auf 250 Quadratmetern, vollgestopft mit tanzenden Menschen. Es ist laut, es ist eng, es ist stickig, es ist herrlich. Wer nicht tanzt, wird einfach mitgetanzt, irgendjemand fällt einem sowieso in die Arme. Das macht die Nächte im Sal El Sol so besonders, so verrückt, so gar nicht erwartbar. So wie auch das Palentino ist, das spätnachts immer noch offen hat.

Jetzt, da die Ersten aus den Diskotheken kommen, um ein Schinkensandwich zu essen oder eine letzte Caña zu trinken, das kleine gezapfte Bier, das Casto Herrezuelo hier für 1,10 Euro verkauft. Es ist leerer geworden, der Lärm hat sich gelegt, nur der Spielautomat dudelt weiter. Die Gelegenheit, um mit Casto über seine schmuddelige, viel zu grell beleuchtete Eckkneipe zu reden, die sich seit Jahrzehnten nicht verändert hat. "Mit meinem Schwager habe ich mal darüber geredet, ob wir die Bar renovieren", sagt der 76-Jährige, die Haare grau, die Wangen eingefallen, der Körper abgemagert, "aber ich bin keiner, der das Risiko mag." Außerdem, sagt er, "kommen die Leute ja auch so. Warum auch immer".

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