Nachtleben in Moskau:Unter Strom

Nachtleben an der Moskwa, Moskau, Russland

Vorbild ist der Gorki-Park in Moskau. Hier tanzen die Menschen im Sommer am Ufer der Moskwa.

(Foto: Ekatarina Anokhina/n-ost)

Moskau erlebt in diesem Sommer tropische Zustände. Am besten also draußen feiern, billig an der Moskwa, im Gorki-Park tanzt man sogar ganz umsonst. Es ist der beste Weg, um allem zu entkommen, was viele an Moskau fürchten.

Von Julian Hans, Moskau

Der Gorki-Park am Ufer der Moskwa an einem typischen Sommerabend. Den Tag über war es schwül, fast 30 Grad warm, dann kamen wie aus dem Nichts die Wolken, und vor einer halben Stunde hat es zum ersten Mal geblitzt. So geht das schon seit Wochen in diesem Moskauer Sommer - brütende Sonne, Gewitter am Abend, tropische Zustände. Wer solche Tage erlebt hat, wundert sich nicht mehr, dass der Literaturkritiker Berlioz am Anfang von Michail Bulgakows berühmtem Roman "Meister und Margarita" nach dem Genuss von einem Glas süßer Limonade in der Moskauer Hitze Halluzinationen bekommt.

Es ist kurz vor zehn, aus den Lautsprechern an der Tanzfläche hinter dem Freilichtkino "Pionier" singen Andy Kirk and his Clouds of Joy "Wham Re Bop Bam Boom", der Song war in den frühen 1940er- Jahren ein Hit in den Jukeboxes drüben in Amerika. Zwei Dutzend Paare machen ihre Swingouts, Promenades und Circles dazu, und das könnte eigentlich noch Stunden so weitergehen, wenn nicht der Regen immer heftiger fiele. Anastasia Muraschko, eine kleine, runde Frau mit Pferdeschwanz, dreht kurz die Musik leiser und ruft in die Menge: "So, Jungs und Mädels, letzter Song, dann wird Tanzen zu gefährlich!" Nicht, dass der Regen den Tänzern etwas ausmachen würde, die meisten haben ihre Hemden und Sommerkleider schon vorher nass geschwitzt. Sie sind gleich aus dem Büro in den Park gekommen, ein paar leichte Schuhe zum Tanzen in der Tasche. Aber der Holzboden wird gefährlich glatt, wenn er sich erst einmal vollgesaugt hat.

Das ist der Nachteil am Feiern im Freien: Es kann plötzlich zu Ende sein, wenn es gerade am schönsten ist und der Himmel sich ausschüttet. Dafür ist es der beste Weg, allem zu entkommen, was viele an Moskau fürchten: den kosmisch hohen Preisen, den abschätzenden Blicken von Damen in Dior, den raumgreifenden Männern mit den dicken Brieftaschen, der aggressiven Verbrüderungswut torkelnder Wodka-Touristen und den bullig-mürrischen Türstehern. Der Park ist Tag und Nacht für alle offen, das Programm auf den drei Tanzflächen ist umsonst, die DJs freuen sich über ein Trinkgeld in die Spendenkasse. Wer völlig abgebrannt ist, kann seinen Durst an den Wasserspendern löschen, die überall auf dem Gelände stehen.

In einer Stadt, in der das halbe Jahr Winter herrscht, hat der Sommer einen besonderen Zauber. Wenn das Leben auf den Datschen spielt, die Staus weniger werden, Großmütter auf der Straße Blaubeeren und Himbeeren und frische Blumen aus dem eigenen Garten verkaufen und verliebte Paare durch die Straßen und Parks spazieren bis zum Morgengrauen. Weil Wohnraum teuer ist und viele junge Leute deshalb lange bei ihren Eltern leben, wird das Intime öffentlich. Sobald die ersten warmen Tage kommen, lösen die Parkbänke die langen Rolltreppen zur Metro ab als beliebteste Orte für erste Küsse. Dort sitzen sie in lauen Nächten, nackte Frauenbeine über den Schoß des Liebsten gelegt und die Arme um den Hals geschlungen.

Näher kommt man dem Fluss nirgends

Es gibt keinen besseren Ort, um diese Zeit zu verbringen, als am Wasser und unter freiem Himmel. Doch mit dem Wasser war das in der Vergangenheit nicht so leicht. Zwar fließt die Moskwa in engen Schleifen durch das Zentrum, bisher konnte man ihr trotzdem kaum nahekommen. Am betonierten Ufer standen Fabriken und fuhren Autos auf sechsspurigen Straßen. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Cafés und Restaurants haben am Ufer eröffnet und auch eine Reihe von Clubs, in denen auf offenen Terrassen mit Blick auf das Wasser und über die Stadt getanzt wird. Und die Stadtverwaltung hat die Autos vom Ufer verdrängt und alte Fabrikgebäude in Ausgehviertel umgewandelt. Näher als im Gorki-Park kommt man dem Fluss nirgends, zwei Tanzflächen sind direkt am Ufer.

Anastasias DJ-Pult ist ein Laptop, den sie unter einem ausgebreiteten Regenschirm aufgeklappt hat. Alle Tanzflächen haben eingebaute Verstärker und Boxen, man braucht nur sein eigenes Abspielgerät anzuschließen. Anastasia macht das jetzt schon im zweiten Jahr jeden Freitagabend im Sommer. "Nachdem der Park umgebaut wurde, fragte uns die neue Leitung, ob wir Lust haben, hier zu tanzen." Sie bezahlen keine Miete, und die Parkverwaltung hat kostenloses Programm. "Beide gewinnen, nebenbei sehen uns viele Leute, manche werden neugierig und kommen in unsere Kurse." Jeden Tag ist ein anderer Verein dran, auf einer Tafel am Rand des hölzernen Podests steht der Stundenplan: Sonntagmittag kubanische Tänze und abends Rock 'n' Roll, Mittwochabend historische Balltänze, Donnerstagabend Argentinischer Tango, und heute, Freitag, Lindy Hop und Balboa mit Anastasia.

Labor eines weltoffenen Russlands

Als der Gorki-Park 1927 eröffnet wurde, sollte er neben der Naherholung für die Bewohner der Großstadt auch eine erzieherische Funktion erfüllen. Die Menschen, die in großer Zahl vom Land in die große Stadt strömten und nicht nur ihre Hühner und Ziegen, sondern auch ihre Umgangsformen vom russischen Dorf mitbrachten, sollten lernen, wie der neue, kultivierte Mensch lebt. Für die Werktätigen standen Gymnastik, Ballspiele, Massentänze und Sonnenbaden auf dem Programm. Ärzte gaben eine kurze Einführung mit dem Titel: "Wie man sich im Park erholt". Auf Schautafeln und in Vorträgen wurde den Besuchern erklärt, dass es viele Vorteile hat, wenn man sich regelmäßig wäscht, dass es sich nicht gehört, auf den Boden zu spucken und dass man seinen Müll nicht auf die Straße wirft. Ein Freilufttraining für den sozialistischen Fortschritt.

Nachtleben an der Moskwa

Nicht immer war die Moskwa so zugänglich wie heute. Am betonierten Ufer standen Fabriken und fuhren Autos auf sechsspurigen Straßen.

(Foto: Ekatarina Anokhina/n-ost)

Und was lehrt der Gorki-Park seine Besucher heute? In gewisser Weise hat der Umbau unter dem heutigen Kulturamtsleiter der Stadt, Sergej Kapkow, an die Ursprünge angeknüpft: An die Stelle passiver Zerstreuungen mit Boxautos und Riesenrad ist wieder die aktive Erholung getreten. Gleich hinter der Tanzfläche beginnt ein Skatepark mit Rampen, Hindernissen und Kanten zum Entlangschlittern. Nicht weit ist das Café La Boule mit Bahnen aus feinem Kies für das Spiel mit den Kugeln. Im "Pionier" geben zwei Musiker gerade einen Kurs in Gesangsimprovisation. Wer tagsüber durch den Gorki-Park spaziert, sieht auf den Bühnen am Fluss Menschen beim Yoga oder beim Üben von Hip-Hop-Choreografien, in Gruppen oder allein mit Kopfhörern. Es gibt Beach-Volleyball, Fahrrad-, Skateboard und Rollerskates-Verleih und auf den Wiesen riesige Sitzsäcke, auf denen junge Leute ihre iPads streicheln. Denn drahtloses Internet hat der Park selbstverständlich auch.

"Aber die Musik bestimmen wir"

Am Rand der Tanzfläche, wo die Zuschauer auf großen Holzpodesten sitzen und sich unterhalten, schlüpft eine junge Frau in ihre Ballettschuhe, zieht schwarze Stulpen über die Knöchel und geht die Grundpositionen des Balletts durch: Relevé, Plié, Port de bras. Es kämen oft Leute vorbei, die ihre iPods anschließen und ihr eigenes Programm machen wollten, erzählt Anastasia. "Neulich war eine Gruppe von jungen Männern aus dem Kaukasus hier, die wollten unbedingt Lesginka tanzen." In Russland gibt es immer wieder Streit um den martialischen Volkstanz. Manche Nationalisten finden, Tschetschenen oder Dagestaner würden zu selbstbewusst auftreten, wenn sie auf öffentlichen Plätzen ihren männlichen Stolz zelebrieren. Gerade so, als wollten sie tanzend ihren Anspruch auf den Boden unter ihren Füßen geltend machen. "Ich habe ihnen dann gesagt, dass sie gern am Rand ihre Lesginka tanzen können, aber die Musik bestimmen wir", sagt Anastasia. Das haben sie akzeptiert und zu amerikanischem Jazz der 1930er-Jahre die Sprünge kaukasischer Bergvölker aufgeführt.

In diesem Labor eines weltoffenen Russlands scheinen bisweilen die Medwedjew-Jahre anzudauern, während sich das Land mehr und mehr abkapselt. Hier hängt noch nicht an jeder Stange eine weiß-blau-rote Fahne, die T-Shirts mit der Aufschrift "Die Krim gehört uns" sind noch nicht vorgedrungen in dieses Reservat für die urbane Mittelklasse.

Eine Viertelstunde zu Fuß den Fluss hinab liegt die künstliche Baltschug-Insel, die von der Moskwa und einem alten Seitenarm des Flusses gebildet wird. Dort ist auf dem Gelände der alten Schokoladenfabrik "Roter Oktober" ein Ausgehviertel mit Restaurants, Bars und Clubs entstanden. Der größte und bekannteste ist schon vom Ufer aus zu sehen und zu hören, meistens mit Techno und House: Das Gipsy hat eine riesige Veranda, auf der man sich auf Liegestühlen ein bisschen wie auf einer Kreuzfahrt fühlen kann. Wie in vielen Moskauer Clubs sind Tanzfläche, Bar und Restaurant unter einem Dach.

Auf dem "Dach der Welt"

In der anderen Richtung, zwei Windungen flussaufwärts hinter dem berühmten Hotel Ukraina, führt eine steile Treppe hinauf auf das "Dach der Welt". Das Kryscha Mira auf dem Dach einer alten Brauerei verdankt seinen Ruf zum einen der Tatsache, dass es ursprünglich als Untergrund-Club gestartet ist, in den nur hereingelassen wurde, wer das Codewort kannte. Der alte Trick hat funktioniert, obwohl das Kryscha für einen Untergrund-Club doch auffällig exponiert und nobel eingerichtet auf der anderen Flussseite gegenüber dem Weißen Haus liegt, dem Sitz der russischen Regierung. Heute sorgt die strenge Auswahl an der Tür dafür, den Ruf eines Ortes für Auserwählte zu bewahren. Aber der Versuch lohnt sich für einen Abend mit Ausblick über die Moskwa, auf das eindrucksvoll beleuchtete Hotel Ukraina, eines der sieben Hochhäuser, die Stalin bauen ließ und die das Gesicht der Stadt prägen.

Nachtleben an der Moskwa

In der kürzlich ausgebauten Fußgängerzone am Krimskaja Ufer in der Nähe des Gorki Parks.

(Foto: Ekatarina Anokhina/n-ost)

Die Zeiten, als Frauen zu Modern Talking um ihre Handtaschen herumtanzten und stiernackige Männer in spitzen Schuhen stumm am Rand standen, sind lange vorbei. Moskau ist Teil des weltumspannenden Karussells, in dem die DJs zwischen London, New York, Tokio und Ibiza rotieren. Dafür ist auch alles etwas austauschbar geworden. Wer das Party-Leben der Schönen und Reichen sucht, wie er es aus Reportagen von Spiegel-TV kennt, findet es im Soho Rooms auf der anderen Seite der Flussschleife. Hier feiern Oligarchenabkömmlinge ihre Kindergeburtstage mit viel Spektakel, Glitter und Tischfeuerwerk, und manchmal auch die Eltern. Dafür gibt es außer Bar und Disco noch einen "Dining Room" im klassischen englischen Stil und ein Kaminzimmer mit schweren Ledersesseln und Bibliothek sowie eine Dachterrasse mit Swimmingpool. Der elitäre Club macht es möglich, dass jene, deren Geld ohnehin in der Londoner City liegt, es auch in der Heimat stilgemäß ausgeben können. Alle, die nicht eingeladen sind, können zumindest die Spielsachen vor der Tür bewundern: auf einem Parkplatz voller Bentleys, Rolls Royces und Porsches.

Die Swing-Tänzer vom Gorki-Park, die sich den ganzen Abend kostenlos unterhalten haben, laufen durch den Regen nach Hause. Das ist immerhin der direkteste Kontakt mit dem Wasser.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: