Nachtleben in Istanbul:Großer Bahnhof

Nachtleben in Istanbul

Enge Gassen voller Bars, voller Menschen: Nicht nur im Stadtteil Beyoğlu herrscht bis nach Mitternacht ein Kommen und Gehen.

(Foto: Carsten Koall/Getty)

Ausgehen kommt von Gehen: Istanbul hat so viele Orte der Nacht, dass man einige Kilometer zurücklegen muss, wenn man die besten besuchen möchte. Ein Abend in Hafenlokalen, versteckten Teegärten und dem Gewühl der wohl längsten Partyzone Europas.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Es gibt in Istanbul Orte, die wie geschaffen sind für den Übergang vom Land ins Meer. Sie eignen sich gewöhnlich auch für andere Passagen: vom Tag in die Nacht. Haydarpaşa ist ein Bahnhof, der berühmteste der Stadt, auf ihrem asiatischen Ufer gelegen. Die Bagdadbahn fuhr hier einst ab. Von Europa musste man die Waggons mit dem Schiff bringen. Die Bahnhofshalle steht direkt am Meer, durch ihre offenen Türen kann man die Wellen sehen. Auch die Fenster des Bahnhofsrestaurants geben den Blick frei auf Himmel und Wasser.

Mythos heißt das Lokal. Es ist eine Meyhane. In diesen traditionellen türkischen Lokalen wurde schon immer Alkohol serviert, im Gegensatz zur Kahvehane, dem Kaffeehaus. Einen langen Istanbuler Abend beginnt man am besten in einer Meyhane, und für die von Haydarpaşa könnte es keinen besseren Namen geben. Es ist ein Ort für Menschen, die für ein gutes Essen einen Zug verpassen. Oder wie ein Kellner sagt: nach zu viel Rakı.

Nun verpasst keiner mehr seinen Zug, der ins Mythos geht, weil kein Zug mehr fährt von Haydarpaşa. Es geht nirgendwohin von diesem Bahnhof. Die Züge stehen auf den Gleisen, als habe jemand mit den Zeigern der Bahnhofsuhr auch die Zeit angehalten. Der Bahnhof ist außer Betrieb, seit die Türkische Staatsbahn die Gleise für eine Vorortlinie erneuert. Auf der soll es künftig viel schneller vorangehen als früher. Und weil eine Bahn nun auch unter dem Bosporus hindurch eilt, liegt Haydarpaşa sowieso nicht mehr an der Strecke. Im Moment sagt kein Offizieller, was mit der Station passieren soll. Von einem Hotel war die Rede, einem Kaufhaus. Oder von einem Museum der Eisenbahn. Das ist Haydarpaşa längst, über 100 Jahre alt, erbaut von deutschen Architekten in preußisch-orientalischer Stilmelange. Ein Museum ohne Eintritt, mit offenen Türen, Serail-Malereien und einem Restaurant, das noch immer keinen Ruhetag hat, wie es sich für ein Bahnhofslokal gehört.

So nah am Wasser muss man Fisch essen

An Wochenenden empfiehlt sich die Reservierung, an den übrigen Tagen findet man Platz, vor allem, wenn man gerade mal zu dritt unterwegs ist. Lina, eine Freundin, die schon lange in Istanbul lebt, bestellt Rakı. "Zu Fisch immer Rakı", rät sie. Und im Mythos muss man Fisch essen, so nah am Wasser. Den Rakı natürlich mit Wasser und Eis. Sinan, ein Freund, der Blogger ist, legt sein iPhone neben die Gabel. Er gehört wie viele Türken zu den Twitter-Abhängigen. "Woody Allen, Midnight in Paris", sagt Sinan begeistert, "wir sind in der Zeitmaschine." Das Mythos kannte er nicht. Istanbul hat so viele Nachtorte, man verlernt das Staunen nie.

Im Mythos sind die Wände mit den Porträts berühmter Dichter und Schauspieler dekoriert, Schwarz-Weiß-Fotos auf rotem Samtgrund, als wär's ein Bühnenvorhang. Die Schüsseln mit den Meze, den Vorspeisen, liegen zur Schaustellung in einer Vitrine. Man braucht keine Speisekarte für die Bestellung. Der Fingerzeig reicht. Besonders empfiehlt sich der Levrek, Barsch in Senfsoße. Köstlich dazu ein Salat mit Walnüssen und grünen Oliven.

Ist es warm, stellen die Kellner die Tische auf den Bahnsteig, vors Lokal. Dann schaut man auf die Gleise, träumt vom Reisen, ein Speisewagengefühl. Hat man noch ein bisschen mehr Glück, schweben durch die Bahnhofshalle ein paar Tangotänzer. Tango ist gerade sehr beliebt in Istanbul. Die Tänzer tanzen auch für den Bahnhof, damit dieser Ort, der auf seinen 1100 Eichenpfählen im Meer wohl noch mal 100 Jahre sicher ruhen würde, nicht im Istanbuler Immobilienrausch untergeht.

Früher haben regelmäßig Schiffe direkt vor Haydarpaşa festgemacht, für die Reisenden und die Restaurantgäste - es kamen immer schon Leute in das Lokal, die gar nicht von Istanbul weg wollten. Die wenigen Bosporus-Boote, die Haydarpaşa nun noch anfahren, tun dies vor dem Abend. Das hat den Vorteil, dass man nicht mehr auf die Uhr schauen muss, um das letzte Schiff auf die europäische Seite nicht zu verpassen. Istanbuls Taxifahrer wissen sowieso, wo sie gebraucht werden und warten vor dem Bahnhof, der einfach nicht in den Dornröschenschlaf fallen will.

Das Taxi kämpft sich durch den Verkehr und schwingt sich auf die erste Bosporus-Brücke, wo es gewöhnlich auch nachts nur im Zotteltempo vorangeht. Unser nächstes Ziel ist das Büyük Londra Hotel. Fatih Akin, der Regiezauberer, hat dieses in Ehren verstaubte Etablissement mit seinen Filmen dem Vergessen und damit auch dem völligen Verfall entrissen. Dass das Londra auch eine spektakuläre, zweistöckige Dachterrasse hat, ist weit weniger bekannt als die Bar im Erdgeschoss mit Piano, Plüsch und Vogelkäfigen. Ein Aufzug, der glücklicherweise moderner ist als das Hotel, trägt uns nach oben. Der Blick auf das Goldene Horn ist überwältigend. In die entgegengesetzte Richtung schaut man besser nicht. Geborstene Ziegel auf den Dächern, gewagte Terrassenaufbauten. Lina sagt: "Jetzt nur kein Erdbeben!" Sinan erklärt uns, dass die ausgeprägte Liebe der Istanbuler zu Dachgärten eigentlich recht neu sei. "Früher blieb man lieber nah am Wasser."

"Wo seid ihr?" ist die häufigste Frage

Wir bestellen Tee, das kann man in Istanbul immer tun, niemand muss den ganzen Abend Alkohol trinken. Viele kommen auch ganz ohne Hochprozentiges durch die Nacht. Junge Türken trinken gewöhnlich weit weniger Alkohol als ihre Altersgenossen in den meisten Ländern Europas, und haben trotzdem nicht weniger Spaß.

Nach dem Tee beschließen wir wieder aufzubrechen. Ausgehen in Istanbul heißt, mit Freunden unterwegs sein, und es hat viel mit Gehen zu tun. "Gehen wir erst einmal ein bisschen", sagen die Istanbuler, wenn sie sich verabreden und Keyif, Spaß, haben wollen. Man lässt sich treiben, auch gern dort, wo es Tausende andere tun, im Strom der İstiklal, der Lokal- und Ladenmeile zwischen Taksim-Platz und Tünel, der Endstation der historischen Straßenbahn. Beim Schlendern wird telefoniert. "Wo seid ihr?", ist die häufigste Frage an die Freunde, die meist auch irgendwo im Gewühl des Barbezirks von Beyoğlu stecken. Auf der İstiklal, der Herzader von Beyoğlu, der wohl längsten Partyzone Europas, kann man bis Mitternacht einkaufen, Klamotten, Schuhe, Schnickschnack. Es ist hier selbst in normalen Nächten meist so voll wie in der Bierzeltgasse auf dem Münchner Oktoberfest. Einen Vogel-Jakob gibt es auch, einen Türken, der Pfeifchen verkauft, mit denen man zwitschern kann. Essen und Trinken gibt es bis zum Morgengrauen. Die Straßenkehrer kommen schon vorher.

Taksim schläft nie - Nachtleben in Istanbul

Straßenszene im belebten Taksim-Viertel.

(Foto: Canan Sevil/dpa)

Von der İstiklal gehen viele Gassen ab, wie enge Blutgefäße von einer dicken Ader. Am lautesten ist es in der Solakzade Sokak. Alle Bars sind zur Straße hin geöffnet, die Livemusik-Lokale sind nur durch Plastikvorhänge voneinander getrennt. Türsteher habe diese Kneipen nicht, es gibt ja keine Türen. Aber eher grimmig wirkende Einweiser, die versuchen, Gäste mit Armwedeln anzulocken. Uns ist es hier zu kakofon.

Die Asmalımescit-Gasse, fast schon am Tünel, öffnet den Weg zu einem überschaubaren gleichnamigen Stadtteil von Beyoğlu. Hier reiht sich ebenfalls Bar an Bar, aber die Atmosphäre ist weniger aggressiv. Lokal-Namen wie Delirium und Asmalı Shot House verraten aber auch, worum es hier vor allem geht. Das neue türkische Alkoholgesetz verbietet den Verkauf von Alkohol in Kiosken und Supermärkten nach 22 Uhr. Für Bars und Restaurants gibt es keine Beschränkung. Allerdings dürfen die Markennamen von alkoholischen Getränken nicht mehr an den Kneipen stehen. So schreiben sie jetzt halt nur die Preise auf schwarze Schiefertafeln.

Einer der schönsten Plätze in Asmalımescit ist Balkon, in der Şehbender Sokak. Sechster Stock, Terrasse, auch doppelstöckig. Einfache Gartenstühle und Tische auf dem Dach. Der Blick geht weit über das Goldene Horn, die Nacht glitzert unter uns. Wir warten einen Moment auf einen freien Tisch, es herrscht hier immer Kommen und Gehen. Das Bier vom Fass ist für Istanbuler Verhältnisse mit zehn Lira (3,50 Euro) für 0,3 Liter günstig.

Sinan aber möchte uns noch einen anderen Ort zeigen und macht uns neugierig: "Da würde ich jeden hinschicken, der junge Leute in Istanbul kennenlernen will." Wir begeben uns erneut auf die lärmige İstiklal, flüchten aber rasch wieder, in die Hazzopulo Passage. Ein enger Schlauch ist das, gesäumt von Schmuckläden. Golfaraberinnen in schwarzer Vollverhüllung begutachten dort auch nach Mitternacht noch das Angebot. Der Gang öffnet sich auf einen Innenhof mit grobem Pflaster. Hunderte kleine Hocker, die zu verschiedenen Lokalen gehören, laden vor halbverfallener Backsteinkulisse zum Niederlassen ein. Das Café Grand Boulevard ist voll, aber die Kellner finden immer noch ein freies Plätzchen für Neuankömmlinge. Dieser Teegarten ist ein Lieblingsziel der Istanbuler Jugend. Die Stühlchen stehen so eng, dass man sich zwangsläufig näherkommen muss. Sinan hatte recht. Wir bestellen wieder Tee, das hält wach. Hätten wir nicht ausgemacht, den Abend am Wasser zu beschließen, könnten wir im matten Laternenschein, aufgehoben im Stimmengewirr, hier noch lange die warme Julinacht genießen.

Zwischen Schiffsausrüstern und Kebab-Bratern

Karaköy, das alte Hafenviertel, ist eine der neueren Vergnügungszonen. Hier gibt es immer noch Schiffsausrüster und kleine Kebab-Brater. Dazwischen aber machen ständig neue Bars und Cafés auf. Nicht alle findet man sofort. Das Fosil liegt im dritten Stock eines Gebäudes, dessen größter Teil noch der Zollabfertigung von Kreuzfahrtschiffen dient. Liegt gerade ein Schiff am Kai, dann versperrt es den Gästen der Bar den Blick aufs Wasser. Heute aber hat kein Ozeanriese festgemacht, und wir haben von den in luftiger Höhe über dem leeren Pier schwebenden Balkonen freie Sicht auf den Topkapı Palast und die Hagia Sophia.

Die zwischen Europa und Asien pendelnden Bosporus-Schiffe haben ihr Wasserballett schon eingestellt, nur ein paar Fischer tuckern Richtung Schwarzes Meer. Der DJ hat sich für Blues entschieden. Hier könnte man den Sonnenaufgang abwarten, würde das Fosil nicht vorher schließen.

So schlendern wir irgendwann müde am Ufer entlang, zurück Richtung Zentrum. Da lockt uns der Duft von Holzkohle. Ein Çaycı, ein Teekocher, hat seinen Semaver aufgebaut. Das Feuer leuchtet in der Nacht. Ein paar kleine Plastikstühlchen hat er auch aufgestellt. Wir setzen uns. Ganz nah am Wasser. Vor uns liegt das Meer als schwarzer Teppich. Der Wind ist sanft wie eine streichelnde Hand. Wir wollen nicht mehr weg.

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Diese Tipps für die Städtereise sind Teil der Serie "Nachtleben", die donnerstags im Reiseteil der Süddeutschen Zeitung erscheint.

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