Mitten in ...:"Noch zzzwei Bier"

Im Zugrestaurant auf Höhe von Duisburg gerät die Bewirtung außer Kontrolle. Und selbst die Stars der Zukunft setzen ihre Hoffnung auf die Pinnwand im schönen Dom von Brixen.

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Quelle: Illustration: Marc Herold

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Mitten in ... Duisburg

"Noch zwei Bier", sagt der Japaner am Tisch nebenan im Zugrestaurant, und natürlich ist das seine Sache. Er spricht schon ein bisschen zu laut mit seiner weiblichen Begleitung. Aber man will ja auch nicht gleich wieder anfangen mit diesem Klischee, dass Japaner keinen Alkohol vertragen. Die Landschaft zieht vorbei, es ist eine Fahrt ohne Störungen. "Noch zwei Bier", sagt der Japaner. Hat er im Deutschkurs keinen anderen Satz gelernt? Seine Sache, wie gesagt. Und vielleicht hat sein glasiger Blick ja auch gar nichts zu bedeuten. Bäume, Felder, Städte ziehen vorbei - im Blick aus dem Fenster kann man versinken wie in einem guten Film. Plötzlich, ungefähr auf Höhe Duisburg, macht es "Rumms!". Der Japaner liegt neben dem Tisch am Boden. Mühsam hangelt er sich auf seinen Platz zurück. Der Kellner kommt. Der Japaner sagt: "Noch ein Bier."

Thomas Hahn

SZ vom 7. Juli 2017

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Quelle: Illustration: Marc Herold

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Mitten in ... Brixen

Wenn der Deutsche an Brixen denkt, dann denkt er an Südtirol, Schinken, Schnaps. Der gut informierte Deutsche weiß noch, dass Brixen an dem Eisack liegt. Aber wer weiß schon, dass der Hofer Andreas (der Südtiroler nennt zuerst den Nachnamen) 1809 die Bayern aus Brixen vertrieben hat? Oder dass der Brixener Bischof Poppo 1048 Papst geworden ist? Dass Brixen einen schönen Dom hat? In diesem Dom gibt es eine Pinnwand, an die man seine Wünsche an Gott heften kann. Darunter: Bitten, dass die kranke Frau wieder gesund werde oder Flüchtlinge gut aufgenommen würden. Oder: ein Dank an Gott, "dass alle gestorbenen Leute bei dir im Himmel gut aufgehoben sind". Schließlich: "Lieber Gott, mach, das ich der berühmteste, beste, reichste Hollywoodschauspieler werde und den Oscar kriege." Wir bitten dich, erhöre ihn.

Gerhard Fischer

SZ vom 7. Juli 2017

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Quelle: Illustration: Marc Herold

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Mitten in ... Penedo

Nordwestlich von Rio gibt es einen Ort namens Penedo, wo das Postamt nicht Correios heißt, sondern Posti. Er vermarktet sich als Klein-Finnland in Brasilien. Der Überlieferung zufolge errichteten Migranten aus Helsinki hier vor knapp 90 Jahren die erste Sauna im tropischen Atlantikwald. Die Cariocas aus der nahegelegenen Strandstadt schätzen Penedo vor allem für sein kulinarisches Angebot. Die tropikalisierten Finnen haben sich auf die Forellenzucht sowie auf den ganzjährigen Verkauf von Schokonikoläusen und Adventsnippes spezialisiert. Es gibt: "Tonttulakki, 100 Prozent belgische Schokolade aus der einzigen finnischen Kolonie in Brasilien." Beliebt sind auch italienische Teigwaren und französische Crêpes. Finnland, das ist hier ein weit gefasster Begriff für einen fernen, kalten Kontinent, auf dem immer Weihnachtsstimmung herrscht.

Boris Herrmann

SZ vom 7. Juli 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Istanbul

Kind müsste man sein. Dann darf man in der Türkei einfach alles. Mit großen Augen den Straßenbahnfahrer anschauen, schon öffnet sich die Glastür zum Führerstand. Große Hand greift kleine Hand zur Begrüßung, Merhaba! Die Türen schließen sich, die Bahn fährt los. Am Steuer nun: eine Fünfjährige.

Ebenso schnell erobert auf diese Art: das Polizei-Motorrad, die Küche im Fischrestaurant und neulich sogar das Herz des Messerkünstlers Herr Hakan, des Metzgers in der Nachbarschaft. Herr Hakan öffnet den Kühlschrank. Oben hängt, was vom Rind übrig ist. Unten liegen die Knochen. Von Angst keine Spur, dafür Bewunderung für Herrn Hakan, das große Messer und den Fleischwolf. Schwupps hebt er die Kleine auf die Arbeitsplatte, in ihren Straßenschuhen. Sie soll das Hackfleisch machen. Vorschriften? Was für den Fleischwolf!

Mike Szymanski

SZ vom 30. Juni 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Astypalea

Kleine Insel, Sandstrand, türkises Wasser, übergossen von warmem Spätnachmittagsgold. In der griechischen Bucht ankern zwei bemalte Fischerboote. Wir schnorcheln an den Felsen am Rand der Bucht entlang und zeigen einander kleine Fische. Vielleicht gibt's im etwas tieferen Wasser ja größere Fische? Tatsächlich. Da, ein Rochen! Aber warum liegt der auf dem Rücken? Daneben ein fliegender Fisch. Ein kleiner Babyhai grinst vom Sandboden hoch, zwei meterlange Neunaugen, mehrere Rochen, alle mit dem Bauch nach oben treibend, das Fleisch strahlend weiß. Ein riesiger Fischfriedhof.

Es ist der heutige Beifang der beiden bemalten Fischerboote, achtlos über Bord geworfen. Abends beim Essen google ich "Fische Mittelmeer". 93 Prozent der Bestände überfischt. Auf der Karte des Restaurants: sechs frische Fischgerichte.

Alex Rühle

SZ vom 30. Juni 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Altenmarkt

Brite heiratet Bayerin. Der Organist spielt Mendelssohn; als das Paar in Frack und weißer Spitze die Kirche betritt, schniefen sofort die Ersten. 230 Gäste haben sich in die Bankreihen gezwängt, mit fantastischen Hüten, mit glänzender Abendgarderobe, mit Dirndl, mit Schottenrock. Wilde Mischung. Trotzdem: Die zwei in der letzten Reihe passen irgendwie nicht ins Bild. Freundliches Rentnerpaar, seniorenbeige Jacken über frisch Gebügeltem. Als der Pfarrer vorn in tiefbayerischem Englisch vermählt, schnäuzen sich die zwei hinten leise.

Anschließend stellen sie sich abseits in die Sonne und beobachten, wie das Brautpaar 230 Glückwünsche entgegennimmt. Viel Zeit für Fragen also. Nein, die Braut kennen sie nicht, nein, den Bräutigam auch nicht. Schelmisches Lächeln. "Aber wir gehen gern auf Hochzeiten. Das hält die Liebe jung."

Laura Hertreiter

SZ vom 30. Juni 2017

Mitten in Wien

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Wien

Man soll ja vorsichtig sein mit Klischees, besonders als Deutscher in Österreich. Was aber die Wiener zum Abschied der SZ-Korrespondentin Cathrin Kahlweit aufbieten, ist an Charme und Liebreiz kaum zu überbieten. Der Bundespräsident spricht warmherzig, der bekannteste Nachrichtenmoderator rührt die Herzen, André Heller singt im Chor, und dann kommt auch noch der Bundeskanzler zu später Stunde und ergreift das Wort. Das Problem: Im Heurigen-Garten, umgeben von Wohnhäusern, sollte eigentlich ab 22 Uhr Ruhe herrschen. Prompt öffnet sich also eine Balkontür, und von oben zischt es herab. Betretene Gesichter in der Festgemeinde, einer versucht dem Protestrufer die Größe des Augenblicks zu vermitteln: "Der Kanzler spricht!" Was man im 16. Bezirk von den Autoritäten hält, kommt ansatzlos zurückgeschossen: "Des is ma wuascht."

Stefan Kornelius

SZ vom 23. Juni 2017

Mitten in Dresden

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Dresden

Sommer ist, wenn die Dealer aus ihren Hauseingängen treten und Verborgenheit wieder unter freiem Himmel suchen. In Dresden kommen dafür die Elbauen infrage, etwa ein Streifen am Rande der sündigen paar Quadratmeter im Stadtteil Pieschen. An einem normalen Werktag wechselt dort gleich zu Beginn einer Begegnung ein Päckchen Gute Laune die Hand. Man luschert interessiert von der Nachbarbank, endlich mal was los hier. Lieferant und Kunde unterhalten sich freundlich, auf den Smalltalk folgt das Finanzielle. Der Kunde holt einen knittrigen Überweisungsträger hervor, es fehlt nur noch die Unterschrift. Er schmiert sie hin, noch ein Handschlag, die jungen Herren gehen auseinander. Man geht ebenfalls und ist nun voll wundersamer Verwunderung: Mensch, so ein richtiger Überweisungsträger, aus Papier, ist doch unglaublich.

Cornelius Pollmer

SZ vom 23. Juni 2017

Mitten in Amsterdam

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Amsterdam

Fantastischer Plan, geradezu naiv: ein Low-Budget-Hostel mit Familienzimmer, Amsterdamer Stadtrand, so lässt sich in Ruhe Geld sparen. Ernüchterung in der Lobby: Betrunkene Deutsche grölen: "Heuuutt Abend geh'n wir in den Puff." Andere stehen mit Bierflasche beim Einchecken, und in einem Sessel sitzt ein wirklich sehr umfangreicher Mann mit T-Shirt-Aufdruck "Ich bin nur zum Saufen da". Geht's denn noch? Derweil zupft der elfjährige Sohn an einer Visitenkarte des Red-Light-Districts, die an der Rezeption herumliegt. Nur so halt. Discount-Preise für Besuche in 15 Nachtklubs. Ich lege sie dezent zurück. Im Hostel-Lift dann der exzellente Hinweis auf die Frühstücksampel für den Morgen: "Rush Hour ab 9.30", aber wir sind schneller - und haben den ganzen Saal für uns allein. Und dann auf ins Reichsmuseum: Die Nachtwache, bitte!

Frank Nienhuysen

SZ vom 23. Juni 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... München

Wozu hat der Mensch Kinder? Kinderverachtende Antwort: Weil er eines Abends vor der Haustüre stehen, den Schlüssel nicht finden und sich damit trösten könnte, dass das Kind im zweiten Stock den Türsummer bedienen wird. Klingeln unten, Haustürsummer: summt. Klingeln oben, Wohnungstürsummer: summt nicht. Nochmaliges Klingeln, "machst du auf?". Kinderstimme von drinnen: "Noch vier Minuten!" Nochmaliges Klingeln: null Summen. Öffnen des Briefschlitzes, hindurchbrüllen, gegen die Tür hämmern. "MACHSTDUMALAUF!?!!" Kinderstimme von drinnen: "Noch vier Minuten!" Ausrasten. Aus Verzweiflung den Schlüssel finden, Tür öffnen, reinstürmen. "WARUMMACHSTDUNICHTAUF?!?" Gekränkter Blick. "Aber Mami, du hast doch gesagt, ich soll AUS machen." Auf dem iPad läuft Folge 25 der "Wilden Kerle". Noch zwei Minuten.

Tanja Rest

SZ vom 16. Juni 2017

Mexiko

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Mexiko-Stadt

Ein Neuankömmling in dieser Stadt braucht Mut. Nicht weil es so gefährlich wäre, schließlich steht an fast jeder Ecke ein bewaffneter Polizist herum. Eher wegen der exotischen Spezialitäten, die den Magen auf die Probe stellen. Micheladas zum Beispiel: Biermischgetränke mit Salz, Limettensaft und Tabasco, gern auch mit einem Schuss Tequila. Oder die dubiosen Früchte des fahrenden Händlers, der seine Kunden mit scheppernden Werbeansagen vom Band anlockt. Oder der schnelle Imbiss auf dem Gehweg. Taco al pastor, direkt am Straßenrand inmitten einer wabernden Abgaswolke zubereitet. Auf einmal vor dem Haus ein Glockenläuten. Oh ja, ein, zwei Kugeln Eis kämen jetzt gerade recht! Schnell ein paar Münzen und raus auf die Straße. Dann die große Enttäuschung: In Mexico City bimmelt nicht der Eisverkäufer, sondern die Müllabfuhr.

Beate Wild

SZ vom 16. Juni 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Johannesburg

Mandela läuft immer. Auch vier Jahre nach seinem Tod ist Südafrikas einstiger Präsident im ganzen Land präsent - politisch, kommerziell, touristisch. In Johannesburg werden eigens "Nelson Mandela Heritage Touren" angeboten - einen Tag lang fährt man im Kleinbus seine Wirkungsstätten ab. Bongani Ndlovu aus Soweto ist der perfekte Reiseleiter, redselig, clever, charmant, schlagfertig. Doch Bongani hadert mit seinem Job, eigentlich würde er lieber in der Fensterindustrie arbeiten, erzählt er. Eine Branche, die boome, in der man sehr viel besser verdiene, sagt der 29-Jährige. Fensterindustrie? Nächster Stopp: Mandelas Haus im Nobelviertel Houghton, hier hat Südafrikas Held nach seiner Haftzeit gelebt. Die Hauptattraktion finde sich nebenan, sagt Bongani, und zeigt auf die Fenster im Nachbargebäude: "Grandiose Rahmenqualität, die verrotten nie."

Viola Schenz

SZ vom 16. Juni 2017

Frankreich

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Santenay

Es lässt sich gut leben im Burgund, Frankreichs Schlemmergegend par excellence. Das weiß auch der Mann, der im Gourmet-Restaurant von Santenay seine Freunde zur Geburtstagsfeier eingeladen hat. Er spricht laut, auf Deutsch, nein auf Sächsisch eigentlich, und heißt Andreas, wie bald alle Gäste des Lokals wissen. Als erstes lässt er eine Magnumflasche Champagner bringen. "Der Korken muss schön knallen!", befiehlt er der Restaurantchefin. Es gibt auch Froschschenkel und Weinbergschnecken, Andreas und seine Freunde sind da sehr offen. Vor allem aber sagen ihnen die feinen Burgund-Weine zu. Es dauert nicht lang, da wollen sie zu Trink- und Geburtstagsliedern anheben. Die Chefin kommt herbeigestürmt: "Sie können hier nicht singen!" Die Feiergesellschaft ist überrascht, denn die Chefin sagt das in perfektem Deutsch. Schweigen.

Leo Klimm

SZ vom 9. Juni 2017

_ BerlinKreuzberg.Haunhorst

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Berlin

An der U-Bahn-Station Görlitzer Bahnhof ist es schon dunkel, wer einen hier um diese Zeit anspricht, will stets Drogen verkaufen, also lieber schnell weitergehen. Ein älterer türkischer Herr ist allerdings beharrlich: "Wohnst du hier in der Nähe?" fragt er immer wieder. Sein Gesicht ist freundlich und offen, vielleicht hat er sich doch einfach nur verlaufen? Dann sagt er aber: "Darf ich dir was schenken?" Skepsis. Worum es denn ginge? "Ich zeig es dir" sagt er. Er geht zu seinem kleinen, zwielichtigen da stark verbeulten Opel Corsa, öffnet die Tür. Müllsäcke fallen ihm entgegen - sie sind bis oben gefüllt mit köstlich riechenden, türkischen Backwaren. "Die waren in der Bäckerei heute übrig, meine Familie kann das aber nicht alles essen", sagt er und drückt einem einen Sack in die Hand. "Aber niemandem verraten."

Charlotte Haunhorst

SZ vom 9. Juni 2017

USA

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Marfa

Die amerikanische Kunst-Schickeria trifft sich nicht nur in New York, LA und ein bisschen auch in Miami, sondern in einem staubigen 2000-Seelen-Nest in Texas namens Marfa. Seit der amerikanische Minimalist Donald Judd aus einer ehemaligen Flugzeugbaracke eine Ausstellungshalle schuf, zieht es Künstler und Hipster aus allen Ecken des Landes in die Wüste. Für ein paar Wochen suchen sie Inspiration. Sie leben in Zelten und Campingwägen, zeichnen, modellieren, schreiben und feiern das freie, das wahre - das individuelle Leben. Man trifft sie, nachdem sie am Morgen in ihren Yogapositionen die Sonne begrüßten, im Bio-Laden auf lauter Klone. Alle tragen Bärte und dieselben Tätowierungen, die aussehen, als hätten sie sie auch noch selbst gestochen. Marfa aber ist zwar einzigartig. Aber der Individualismus ist nirgends uniformer.

Sacha Batthyany

SZ vom 9. Juni 2017

Minneapolis

Quelle: Illustration: Marc Herold

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Mitten in ... Minneapolis

Unterwegs in Downtown Minneapolis mit der einheimischen Schwester und ihrer acht Wochen alten Tochter. Geplant ist ein Spaziergang am Mississippi, aber die Kleine sieht das anders. Kaum hat man den Kinderwagen aus dem Auto gewuchtet, schreit sie los. Klarer Fall von Hunger auf Muttermilch. Nur: Wo? Das Café gegenüber sieht nett aus, doch die Schwester zögert. Das sei eher ein Dating-Spot, ob man da wirklich als stillende Mutter ... Die Kleine schreit. Also rein ins Café; dem Kellner ist anzumerken, dass ihm schreiende Babys und stillende Mütter nicht so recht ins Ladenkonzept passen. Aber an der Tür hängt ja dieses Plakat: "All are welcome here", also: "muslimische Mitbürger, Immigranten, Flüchtlinge". Der Kellner lächelt, sagt: "Wir diskriminieren keine Babys", er klingt etwas zu ernst für die Lage. Na dann: Das Baby freut sich.

Alexandra Borchardt

SZ vom 2. Juni 2017

Messina

Quelle: Illustration: Marc Herold

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Mitten in ... Messina

Auf der Fähre von Kalabrien nach Sizilien, sehr früher Morgen, erste Sonne. An Deck sitzt ein grauer Mann mit dünnem Haarkranz, etwa sechzig, offenes Hemd, im Arm ein fast mannsgroßes Bündel. Eben hatte er es noch durch den Schiffsbauch gerollt, mit viel Bedacht. "Was schleppen Sie da mit sich rum?", fragt eine Frau, laut genug, dass es alle hören. Der Mann fährt mit der rechten Hand über sein Bündel und sagt leise: "Johannes Paul II." - "Wie, Johannes Paul II.?" - "Ja, das ist eine Statue des Heiligen Giovanni Paolo." Er habe sie von Messina nach Rom gebracht, damit Franziskus sie segne. Nun zeigt er unscharfe Handybilder davon, wie der Papst die Statue im Vorbeigehen segnet. Er werde sie nun von Pfarrheim zu Pfarrheim tragen, quer durch Sizilien, damit man sie überall verehren könne. Und ihn, den grauen Mann, gleich ein bisschen mit.

Oliver Meiler

SZ vom 2. Juni 2017

München

Quelle: Illustration: Marc Herold

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Mitten in ... München

Ein italienisches Café, an der Theke Croissants. 1,25 Euro das Stück. Es ist noch früh am Morgen, das Café hat gerade geöffnet, kaum Gäste, man kramt also in seinem Geldbeutel nach den passenden Münzen. Wartet ja niemand. Der Mann an der Theke aber blickt schon argwöhnisch auf das Portemonnaie. Als man ihm dann die 1,25 Euro in mehreren Münzen gibt (eine 1-Euro-Münze, der Rest in 10-, 5-, 2- und 1-Cent-Stücken), sagt er: "Also, die kleinen Münzen können Sie gleich behalten, die nehme ich nicht." Die nehme er nie an, aus Prinzip. Er wüsste auch gar nicht, was er damit anfangen solle. Im Ernst jetzt? Er legt nur den einen Euro und die zwei Zehn-Cent-Stücke in die Kasse, der Rest bleibt auf dem Tresen, er sagt: "Nehmen Sie das bitte bloß wieder mit." Ob es denn eine Sparbüchse gebe, wo man das Kleingeld einwerfen dürfe? Natürlich nicht.

Pia Ratzesberger

SZ vom 2. Juni 2017

Grafik Mitten in

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... München

Manche Kinder haben es eilig, auf die Welt zu kommen. Mitten in der Nacht setzen aus dem Nichts Presswehen ein, 50 Minuten später ist das Baby da. Blöd bloß, dass das Klinikpersonal den werdenden Vater nach Hause geschickt hat, mit den Worten: "Heut' Nacht passiert nix mehr." Da muss er das Gaspedal durchdrücken, um es in den Kreißsaal zu schaffen. Einige Zeit später steckt der Bußgeldbescheid im Briefkasten, eine stolze Summe. Selten erschien ein Einspruch so aussichtsreich, denn der Mutterpass beweist: Zwischen dem Geblitztwerden und dem ersten Babyschrei lagen nur 29 Minuten. Die Staatsgewalt wird doch Milde walten lassen und zur Gratulation ein Polizei-Lätzchen mitschicken. Aber nein, Einspruch abgelehnt, keine Gnade. Das Foto aus der Radarfalle kommt ins Album - als Beweis für eine echte Blitzgeburt.

Nadeschda Scharfenberg​

SZ vom 26. Mai 2017

Grafik Mitten in

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Tel Aviv

Nirgendwo sonst, sagt das Mädchen, würde sie empfehlen, ein fremdes Handy an sich zu nehmen. "Aber wir sind im Flughafenbereich hinter der Passkontrolle, der sicherste Platz Israels, wenn nicht der Welt." Es gehe um eine Studie vom Transportministerium, wie sich Touristen fortbewegen. Ihr Deal: Freies Internet, SMS, Gespräche - den ganzen Urlaub lang. Bedingung: Dieses Smartphone immer mit sich führen. Schräg, aber verlockend. Es folgen schwierige Tage. Das Gerät mit den siebenarmigen Leuchtern drauf, dem israelischen Hoheitszeichen, muss im palästinensischen Nablus versteckt werden. Freunde in Tel Aviv hören sich die Geschichte an, sprechen direkt ins Telefon: "Mossad, hallo?" Dann die Angst beim Abgeben: Was sagen die zur Reise ins Westjordanland? Nichts. Stattdessen gibt es einen Duty-free-Gutschein: 3,5 Kilo Datteln.

Georg Cadeggianini

SZ vom 26. Mai 2017

Grafik Mitten in

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Madrid

"Ohropax mitnehmen!", hatte ein Madrid-Kenner geraten. Die brauche man da nicht nur nachts, sondern auch tagsüber. Stimmt. Die Madrilenen sind laut. Sehr laut. Der Besuch einer Tapas-Bar kann ein taubes Gefühl in den Ohren verursachen, wie nach einem Rockkonzert. Was sich anhört wie Gebrüll, ist aber meist ein normales spanisches Gespräch. Wie erholsam dagegen der Spaziergang durch den Retiro-Park: Kindergeschrei, Hundegebell, kreischende Krähen, klingt vergleichsweise angenehm. Im Glaspalast in der Mitte des Parks gibt es eine Sound-Installation. Auf einem Schild werden die Besucher um "Silencio" gebeten, damit man das akustische Kunstwerk erleben kann. Ruhe? Vergiss es. Das Mitteilungsbedürfnis der Leute ist so groß wie der Glaspalast hoch, dementsprechend laut klirren die Stimmen im Raum. Kommunikation ist auch Kunst.

Titus Arnu

SZ vom 26. Mai 2017

Grafik Mitten in

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Teheran

Mittagszeit, die Taxifahrer an der Ecke Valiasr-Straße/Mirdamad-Boulevard schlürfen Tee und wollen essen. Aber eine Fahrt ins Zentrum und weiter in den Westen der Stadt, das lohnt sich, 450 000 Rial, 11,25 Euro, bringt hier ja nicht jeder Trip, und mittags ist der Stau nicht so schlimm. Der Fahrer bittet in seinen gelben Peugeot. An der nächsten Ampel springt er aus dem Auto, öffnet die Motorhaube. Oje, ist die Fahrt schon zu Ende? Er hechtet zum Kofferraum, holt eine Metallschachtel heraus, wickelt sie in eine Plastiktüte, Motorhaube hoch und die Schachtel hinein. "Mein Mittagessen", sagt er entschuldigend und gibt Gas. "Thunfisch mit Gemüsereis, hat meine Frau gekocht." 75 Minuten später ist der Fisch warm, "funktioniert immer, außer im Winter", sagt der Fahrer. Wichtig sei nur die Tüte: "Damit es nicht nach Motor schmeckt."

Paul-Anton Krüger

SZ vom 19. Mai 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Brüssel

Lang war der Winter und eisig, auch der Frühling kam frostig daher. Nun steigen die Temperaturen, sogar in Brüssel. Gartenbesitzer entfetten Grillroste, ältere Herren zupfen Spinnweben von ihren teuren Rennrädern, alle wollen draußen sein. Für die belgischen Kinder wäre dies die Zeit, sich auf Fußball- oder Hockeyplätzen auszutoben. In der Wärme wären sie endlich angebracht, die kurzen Hosen, die hier selbst bei Minusgraden alle tragen. Aber man sieht jetzt weder Shorts noch deren Träger. Bis Anfang Juli müssen die Kinder drinnen bleiben und lernen, denn die jährlichen Abschlussprüfungen stehen an - und die Eltern sind starr vor Angst, dass es der Nachwuchs nicht in die nächste Klasse schafft. Deshalb ruht der Sportvereinsbetrieb. Kein Training, keine Spiele. Richtig so! Zu viel Spaß und frische Luft stören beim Pauken ja nur.

Thomas Kirchner

SZ vom 19. Mai 2017

Grafik Mitten in

Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Palermo

Geldscheine sind hier nicht gefragt. Dazu muss man kein Italienisch verstehen, das steht in den Gesichtern der Verkäufer. Schein in der Hand - genervtes Augenrollen, abschätzig verzogene Mundwinkel. Auf dem Mercato di Ballarò, dem Markt im Herzen von Palermo, zählt nur harte Währung: Münzen. Zumindest, wenn man Kleinkram kauft. In der eigenen Hand liegt jetzt aber ein Zwanziger, immerhin zusammengefaltet, damit er nicht nach so viel Schein aussieht, also fast wie Kleingeld. Gegenüber erstarrt wie befürchtet der Blick. "Eine Flasche Wasser für einen Euro damit bezahlen?" Sorry, geht nicht anders, hier, der Geldbeutel, leer. "Nicht machbar. Nein." Beim Gehen die Frage: "Halt, wo kommst du her?" Deutschland. Freude in den Augen, "ah, Angela, wir mögen Merkel!", Augenzwinkern. Der Nordafrikaner zählt strahlend Wechselgeld ab.

Anne Backhaus

SZ vom 19. Mai 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Wien

"Vergesst nicht, ihr seid Sternenstaub!", raunt die Handleserin Julie Delpy und Ethan Hawke im Film "Before Sunrise" zu. Da sitzen die beiden in einem Café auf dem Franziskanerplatz, weshalb amerikanische Romantik-Touristen noch heute hierher pilgern und manchmal in der Franziskanerkirche eine wundersame Entdeckung machen. "Look at that!" Ein Amerikaner hat im Dämmerlicht den Wurlitzerautomaten erblickt. "Betriebsbereit", sagt die neongrüne Digitalanzeige. In den Fächern schlummern CDs mit Orgelmusik, Kirchenführer, Kerzen. Der Amerikaner zögert, drückt dann 4,50 Euro in den Münzschlitz und wählt die Nummer 55, ein Flachmannflascherl, sehr vielversprechend. Etwas plumpst krachend nach unten. Der Mann fingert das Flascherl aus dem Automaten und buchstabiert ratlos das Etikett: "W-e-i-h-w-a-s-s-e-r".

Jutta Czeguhn

SZ vom 12. Mai 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Rio de Janeiro

Anlässlich der Olympischen Spiele wurde Rios Flughafen vergrößert, vielleicht war er vorher ein bisschen zu klein, ja. Jetzt ist er definitiv zu groß. Das neue Terminal 2 besticht durch endlose leere Gänge. Wer aus Übersee nach Rio kommt, hat das Gefühl, auf halber Strecke gelandet zu sein - der Rest der Reise besteht aus der Wandertour bis zur Kofferausgabe. Auch dem bemitleidenswerten Personal der Airport-Putzfirma ist das offenbar viel zu weit. Die Reinigungskräfte sind jetzt mit Inline-Skates unterwegs, Besen und Schaufeln in der Hand, fegen im Sprint die Gänge, entmüllen im Vorbeifahren die Gates. Es wird oft behauptet, die Spiele hätten Rio nichts hinterlassen, abgesehen von leeren Stadien und noch leereren Kassen. Aber das stimmt so nicht. In Rio gibt es dank Olympia nun eine neue, faszinierende Sportart: Flughafen-Müllhockey.

Boris Herrmann

SZ vom 12. Mai 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... London

Eine Galerie in London, das Publikum hip und fröhlich, an den Wänden Werke von Gilbert & George. In den Ecken singen Tenöre buchstäblich Löcher in die Wand; aber jeder ist ein Künstler, hat schon Beuys gesagt. Auf einmal strecken vier starkblonde Russinnen einem ein Smartphone entgegen. Okay, gern, dann wollen wir mal. Klick, klick, klick. Aber die Russinnen sind unzufrieden, sie rufen etwas wie "Relax". Noch ein Versuch, klick, klick. Die Russinnen verlieren die Geduld: "RELAX, RELAX", rufen sie, mit wachsender Verzweiflung. Ja, schon gut, bin ja total entspannt. Dann die Erlösung, ein Kunstdandy klärt das Missverständnis auf: "MORE LEGS!" Also, bitte, paar Schritte zurücktreten, damit die Beine der Damen auf dem Foto in voller Pracht zur Geltung kommen. So einfach sei das, sagt der Dandy: Russinnen in London machen nie halbe Sachen.

Christian Mayer

SZ vom 12. Mai 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Dakar

Ein Taxi nach Saint Louis? Kein Problem, sagt der Mann im Hotel in Dakar. Die Fahrt in den äußersten Norden Senegals dauere so fünf Stunden, sagt der Mann. Und Saint Louis sei wunderschön, oh, là, là! Er empfehle einen sehr alten Mann, mit dem man allerdings im Morgengrauen aufbrechen müsse, damit er nicht in der Dunkelheit zurückmüsse, weil "nachts sieht er nichts". Man guckt skeptisch. Nein, nein, tagsüber sehe der Alte wie ein Adler, und das Wichtigste: Er sei keiner dieser jungen Heißsporne, die wie verrückt über die Straßen rasen, mon Dieu! Am nächsten Tag im Morgengrauen: Der sehr alte Mann kommt mit dem Taxi, freundliche Begrüßung, dann geht es los. Nach 200 Metern hält er an - und verschwindet grußlos. Am Steuer kurz darauf: ein junger Heißsporn, der wie verrückt über die Straßen rast. Fünf Stunden lang. Mon Dieu.

Bernd Dörries

SZ vom 5. Mai 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... Frasso Sabino

Unterwegs auf der Via Salaria in Roms gebirgigem Hinterland. Die alten, oftmals einspurigen Konsularstraßen entschleunigen, man fährt durch Dörfer, bleibt in ihrem Lokalverkehr stecken, und hält auch mal beim Metzger, der seine harten Würste vom Wildschwein und von der Ente verklärt, als wären sie Delikatessen (sind sie ja auch). Dann zur Ölmühle auf einem Hügel bei Frasso Sabino, die ihr kalt Gepresstes ab Hahn verkauft, aus großen Stahlbehältern. Das neue Olivenöl ist trüb und bitter, und es kostet mehr als das einjährige Öl, das klarer ist und süßlich. Ein Kunde kommt, er sagt, er beliefere die besten Restaurants von Rom, die Stadtleute wollen ja immer das, was neu und teuer ist. Dann füllt er 150 Liter in gelbe Kanister - vom einjährigen. Die Leute, sagt er, "glauben, ich bringe ihnen das neue", aber das behalte er für sich. Merkt keiner, Banausen alle.

Oliver Meiler

SZ vom 5. Mai 2017

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Quelle: Marc Herold

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Mitten in ... München

In ihrem Ehrgeiz, die größtmögliche Zielgruppe anzusprechen, wirkt die Kinobranche integrativ. Im Saal finden die Geschmäcker von Alt und Jung zusammen, das beginnt schon bei den Trailern, etwa dem zur Neuverfilmung von "Die Mumie". Das Original wurde 1932 gedreht, Mittelalte kennen die Version von 1999, die Generation dazwischen erfreut sich an der Musik im Trailer ("Sympathy for the Devil", Rolling Stones, 1968); und die Kinder genießen Tom Cruise in 3-D. Die Vorschau zu "King Arthur" ist mit Led Zeppelins "Babe, I'm gonna leave you" (1969) unterlegt. Und der Hauptfilm, "Guardians of the Galaxy Vol. 2": ein einziges Musikvideo zu Hits der 70er. Aber wo ist eigentlich die Grenze zwischen Alt und Jung? Auf dem Nachbarsitz zieht sie der Elfjährige mit einem Satz: "Den da habe ich schon mal gesehen." Auf der Leinwand: Sylvester Stallone.

Martin Wittmann

SZ vom 5. Mai 2017

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