Mitten in ... Paris
Die Metro ist der große Gleichmacher von Paris. Die alte Dame im Pelz, der Malocher im Anorak, der Manager mit Smartphone im edlen Zwirn - alle fahren sie, weil oben der Stau regiert, am frühen Abend unterirdisch nach Hause. Egalité!
Im rumpelnden Wagen der Linie 10 sitzt auch eine dunkle Schönheit, sie zieht verstohlene Blicke auf sich. Hohe Stiefel, Nylon, kurzer Rock, enges tiefrotes Thermoshirt. Auch die großen Augen eines vierjährigen Bengels wandern das Wunder staunend ab.
Die junge Frau lächelt, beugt sich herab, gibt dem Verehrer einen Kuss auf die Wange.
Während er, tätowiert von feuerrotem Lippenstift, zurück zu den Eltern huscht, schreitet sie zur Tür. Das Fenster dient ihr im dunklen Tunnel als Spiegel, noch einmal zieht sie sich die Lippen nach. Endstation, sie schwebt davon. Nach oben, auf die Straße, zur Nachtarbeit.
Christian Wernicke, SZ vom 21./22.12.2013