Massentourismus:Ernüchterung im Baltikum

Schnell erreichbar, preiswert feiern: Zunehmend entdecken ausländische Urlauber Estland, Litauen und Lettland als Reiseziele. Ihre guten Manieren lassen offenbar viele dabei zu Hause.

"Warum können Touristen, besonders britische, eigentlich nicht einfach normale Toiletten aufsuchen?", fragt in Vilnius Stadtführerin Irena Tumaviciute provokativ. Den Balten gehen die Exzesse von ausländischen Besuchern zunehmend auf die Nerven und sie fürchten dabei auch um das Image ihrer Länder.

Der Beitritt zur EU, die Aufhebung der Visa-Prozeduren und neu am Markt eingeführte Billigflüge haben Estland, Lettland und Litauen in den vergangenen Jahren einen Touristenstrom gebracht. Auf der einen Seite sind die Gäste wegen der mitgebrachten Wirtschaftskraft wohl willkommen, andererseits aber sind die ersten Erlebnisse mit dem Massentourismus auch äußerst ernüchternd.

Denn ein schwer zu beziffernder, vor Ort aber unübersehbarer Prozentsatz der Anreisenden ist gar nicht erst an den historischen Stadtkernen, den Museen oder Konzerthäusern interessiert - sie wollen feiern, billig und non-stop. "Hey Ho, hier kommt die London-Show" oder ähnlich grölt es dann in den Bars und Striptease-Clubs.

Und hinterher, wenn schwertrunken das Hotel gesucht wird, vergehen sich die "Elche" - so nennen beispielsweise Esten finnische Sauf- und Sex-Besucher - auch noch an allerheiligstem.

Immer wieder machen Ausländer im Baltikum Schlagzeilen, nachdem sie etwa an den zentral gelegenen Mauern des litauischen Präsidentenpalasts oder dem Sockel des lettischen Freiheitsdenkmals "Wasser gelassen haben" und sich in Polizei-Gewahrsam wiederfinden mussten.

Von offizieller Seite bemüht man sich das Phänomen herunterzuspielen. "Ein "europäisches Bangkok" oder "Mallorca des Ostens" sind wir nicht", heißt es aus den Infostellen der Hauptstädte.Es lässt sich aber nicht verheimlichen, dass die Zahl der zweifelhaften Etablissements zunimmt, schon im Flugzeug-Magazin sind Reklamen wie "Erotic Old Town" oder "Thai-Massage" nebst "Escort-Service" und "Limousine inclusive" zu finden.

Kneipen-Bier für einen Euro

Zwar ist Straßenprostitution verboten, auch müssen einschlägige Lokale Schutzabstände zu Schulen, Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen einhalten. Weil aber das Kneipen-Bier umgerechnet etwa einen Euro kostet und Animierdamen preiswerter als in Westeuropa ihre Dienste anbieten, lassen die Kunden nicht auf sich warten.

Doch Tumaviciute erinnert auch daran, dass Vilnius 2009 die Kulturhauptstadt Europas sein wird. Mehrere hundert Veranstaltungen sind dafür in Planung.

Oder das Beispiel Tallinn: Vor dem neuen estnischen Kunstmuseum bilden sich wochenends in- und ausländische Schlangen, sogar für die Dauerausstellung.

An einem Cafétisch dort sitzt Sarah (28). Die junge Französin wundert sich zwar, "dass es kein Begrüßungsküsschen gibt wie zu Hause", aber die Stadt sei einfach "beeindruckend" und die Gastfreundschaft "außergewöhnlich". "Alle versuchen zu kommunizieren." Und die Toilettenfrage? - "Ach, wissen Sie, die sind hier ziemlich sauber verglichen mit den Autobahn-Latrinen in Frankreich", sagt Sarah.

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