Lyon:Der Traum der Muralisten

Die Künstlergruppe Cité de la Création hat an Lyoner Hausfassaden die Porträts der Bewohner gemalt und lässt deren Gesichter bei Bedarf sogar altern.

Michael Winter

La Sarra, 5. Arrondissement

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(Foto: Foto: Cité de la Création)

Die Oma schaut mit ihren zwei Enkeln etwas skeptisch auf den Fremden unten. Man winkt ihr zu, aber sie rührt sich nicht. Dann steht sie plötzlich neben einem. "C"est moi", sagt Madame und zeigt auf das gemalte Fenster.

"Lyon war eine schreckliche Stadt", sagt Halim Bensaïd. Auch heute noch empfinden die meisten Lyon vor allem als Verkehrshindernis auf dem Weg von Paris an die Cäte d"Azur. Dabei ist die Stadt vollkommen unterschätzt.

"Was meinen Sie, wie es hier aussah, als wir angefangen haben. Die Altstadt war verkommen, die Banlieue verrufen." Heute stehen das mittelalterliche und das barocke Lyon in der Weltkulturerbeliste der Unesco.

Das Zentrum von Lyon liegt auf einer Landzunge an der Mündung der Saäne in die Rhäne und auf den Hügeln rings um die Flüsse. Dort wo heute der Stadtteil La Sarra ist, war einst der Kern der römischen Stadt Lugdunum.

In den sechziger Jahren wollte niemand das Areal kaufen. Der römische Untergrund war zu heiß. Überall stieß man auf antike Mauerreste. Eine halbstaatliche Wohnbaugesellschaft errichtete ein Wohnviertel aus Beton auf dem Plateau, von dem man eine phantastische Aussicht hat.

Ein gewagtes Experiment

Bald war hier ein sozialer Brennpunkt: Graffiti, Banden, zerschnittene Reifen. Die Mülltonnen brannten, und viele Anwohner hatten Angst, die Kinder draußen spielen zu lassen.

"Wir haben die Chefs der Wohnungsgesellschaft davon überzeugt, ein Experiment zu wagen", sagt Halim Bensaïd. Und dann startete die Lyoner Künstlergruppe "Cité de la Création" die 1978 als "Groupe Populart" gegründet wurde, ihr bisher weltweit größtes Projekt einer Fassadenbemalung im Trompe-l'êil-Stil.

Das Ganze beruht auf Augenbetrügerei und ist technisch so alt wie die Wandmalereien in den Villen der Griechen und Römer. "Wandmalereien gibt es, seit Menschen Höhlen bemalt haben", sagt Halim. Halim Bensaïd ist nicht der Chef der Künstlergruppe, aber er wird als Sprecher von den zwölf Künstlern der Kerntruppe akzeptiert, um die sich weitere

50 Designer und Fassadengestalter scharen, die auch in Québec, Jerusalem, Berlin und Barcelona arbeiten.

Halim geht an den Häusern entlang und zeigt nach oben. "Wir haben die Mietskasernen zu einem Ensemble von Stadtschlössern umgestaltet." Da gibt es keinen Block mehr, sondern zig einzelne Hauspartien, die sich von den anderen farblich und perspektivisch absetzen.

Menschen schauen aus Fenstern, und erst wenn man näher kommt, kann man sehen, welche von ihnen nur gemalt sind. Und wenn man Glück hat, schaut gerade die lebendige Familie neben ihrem gemalten Abbild aus dem Fenster.

Blumentöpfe, Gardinen, Efeu, ein Junge mit einem Fahrrad. Maler, die Wände anstreichen. Leitern, Briefkästen, das meiste davon ist gemalt, einiges ist echt. Schließlich durchdringen sich die wirkliche und die gemalte Welt, und der Betrachter ist in einer anderen Dimension, in der Zeit und Raum durcheinanderwirbeln.

"Täglich kommen Busse, und wir führen die Touristen herum. Hier wird nichts mehr zerstört, und die Kinder wachsen in einem sicheren Viertel auf", sagt Halim.

Der Traum der Muralisten

Die Wand der Seidenweber (Le Mur des Canuts) Croix-Rousse, 4. Arrondissement

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(Foto: Foto: Cité de la Création)

Wir stehen vor der "Mur des Canuts" der größten Einzelfläche, die die Gruppe in Lyon bemalt hat, ehemals eine öde, fensterlose Hausmauer, sechs Stockwerke hoch im alten Seidenweberviertel nördlich der Altstadt. Das Wort "canut" wird im Wörterbuch mit "Lyoner Seidenarbeiter" übersetzt.

Lyon war seit Ende des 18. Jahrhunderts die Hauptstadt der europäischen Seidenmalerei, der Seiden- und Textilproduktion. Als der Fabrikant Joseph-Marie Jacquard hier den automatischen Webstuhl auf Lochkartenprinzip erfunden und damit den ersten Schritt zum Computer getan hatte, wurden viele Weber arbeitslos.

Es gab Revolten. "Lyon war immer eine aufsässige Stadt", sagt Halim Bensaïd, der in Annecy geboren und algerischer Abstammung ist. Viele Einwohner von Lyon haben sich sehr gegen die Jakobiner und gegen die Nazis gewehrt. Im ehemaligen Hauptquartier der Gestapo (Avenue Berthelot) ist heute das Museum "Centre d"Histoire de la Résistance et de la Déportation" untergebracht.

Die "Mur des Canuts" gibt den Blick frei in eine phantastische, den Berg ansteigende Stadt, in deren Mitte Treppen zu den höher gelegenen Häusern führen. Eine Wandmalerei hält etwa zwanzig Jahre. Die Gruppe finanziert sich durch Sponsorengeldern. Die "Wand der Seidenweber" war 1997 zehn Jahre alt.

"Unsere Devise ist, nichts zu konservieren", sagt Halim, "aber es gab einen Wasserschaden. Die Bewohner wollten, dass alles wieder so hergestellt würde, wie es war." Nach einigen Verhandlungen hätten sich die Künstler bereit erklärt, das Gemälde zu erneuern - allerdings unter der Bedingung, es alle zehn Jahre zu aktualisieren.

Eine Frau, die 1987 "aus dem Fenster schaute", war gestorben. Heute ist nur noch ihre Silhouette zu sehen. Auf der Mitteltreppe stand eine Mutter mit Kind. Die Künstler haben lange nach dem Kind gesucht und das inzwischen 16-jährige Mädchen gefunden.

Jetzt ist die junge Frau auf der Treppe abgebildet, und weiter oben sind die Mitglieder der Gruppe versammelt, mit dem Rücken zum Betrachter. Auf der rechten Seite haben sie ein Geldinstitut ins Untergeschoss gemalt, in das gerade jemand hineingeht. Daneben ist ein Geldautomat.

"Es kommt vor, dass Autos halten, und der Fahrer erst wenn er vor der Wand steht merkt, dass der Automat ein Fake ist."

Halim geht über die Straße auf die Wand zu, und man würde sich nicht wundern, wenn er darin verschwände. Kurz vor dem Eingang zur Bank dreht er sich um und zeigt nach oben auf den gemalten Sims. "Eines Tages haben wir Kratzer an der Wand gefunden, die sich niemand erklären konnte, bis uns ein Anwohner sagte, dass die Tauben anfliegen, um sich zu ihren gemalten Kameraden zu setzen."

In jedem Gemälde steckt die Faszination des Augenblicks. "Du kannst die Illusion ausknipsen", sagt Halim und schiebt den Betrachter dicht an die Wand. Da kippt die Illusionswelt in eine schnöde, rumpelige Vertikale, und aus ist es mit der Augentäuschung und der Sehnsucht.

Der Traum der Muralisten

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(Foto: Foto: Cité de la Création)

Die Wände der VIP's und der Bücher (Fresque des Lyonnais) 1. Arrondissement

Lyon ist nicht nur Trompe-l'êil. Die Altstadt ist mit ihren überdachten Hinterhofdurchgängen, den "Traboules" so überraschend wie die von Genua, der einstigen Konkurrentin im Seidenhandel. Wir stehen an der Ecke Quai Saint-Vincent, Rue de la Martinière vor der fensterlosen Rückwand eines Hauses, aus dessen 54 gemalten Fenstern und Balkonen dreißig berühmte Bürger auf die Betrachter schauen.

Die Künstlergruppe hatte zu den Olympischen Spielen in Barcelona eine Hauswand mit den dreißig bekanntesten Katalanen bemalt. "Unser Bürgermeister Michel Noir hat uns gefragt, ob wir sowas nicht auch in Lyon machen können", erzählt Halim. Es dauerte ein Jahr, bis die passende Wand und die Sponsoren gefunden waren. Dann kam der große Streit, wer abgebildet werden sollte.

Von hundert Berühmtheiten wurden dreißig ausgewählt, unter ihnen der römische Kaiser Claudius; Joseph-Marie Jacquard; Laurent Mourguet, der Erfinder der Kasperfigur Guignol; André-Marie Ampère, Entdecker des Elektromagnetismus; Auguste und Louis Lumière, die Erfinder des Kinos; Tony Garnier, der Idealstadtplaner; Antoine de Saint-Éxupéry, Schriftsteller und Pilot, und schließlich Paul Bocuse, der Lyon zur Gourmethauptstadt Frankreichs gemacht hat.

"Wir haben oben einige Fenster leer gelassen für die Berühmtheiten der Zukunft", sagt Halim und verneigt sich vor Paul Bocuse, der streng aus der Vinothek von "Inter Beaujolais" herausschaut. "In der Neufassung ist seine Kochmütze ein wenig durchsichtig geworden", sagt Halim und grinst.

Teil der Illusionswelt

Die Bücher in den Regalen der Buchhandlung nebenan sind minutiös gemalte Abbildungen der Originale. Halim stellt sich vor einen Spiegel, der zwischen der Buchhandlung und der Vinothek in die Wand eingelassen ist.

Hier kann sich jeder selbst zusammen mit allen Berühmtheiten in der Wand sehen. "Wir integrieren das Publikum. Wir haben Buchrücken frei gelassen. Da kann man seinen Namen und einen Phantasietitel hinschreiben. So greift die Illusion ins Leben, und jeder kann Teil der Illusionswelt werden."

Lyon ist eine Stadt gleich neben Alices Wunderland. Im Bistro an der Ecke sitzt die Tochter Halim Bensaïds und schaut in die Speisekarte. "Bei der ersten Version der Wand war sie sechs. Jetzt haben wir sie mit sechzehn ins Bistro gesetzt", erzählt der Vater.

Gefragt nach der Technik, antwortet er, es sei die alte Technik, die schon Michelangelo für seine Fresken genutzt hat. "Wir haben sehr viel von Caravaggio gelernt." Die Bilder werden im Kleinformat am Computer nach Fotos oder alten Vorlagen zusammengesetzt und in eine Modellfassade integriert.

Dann wird die Fassade ausschnittweise vergrößert. Für die Umrisse werden Schablonen im Eins-zu-eins-Format hergestellt, mit einer Lochrolle perforiert und die Schablonen werden auf die vorbereitete Wand aufgebracht.

"Straßenkunst für jedermann"

Durch Besprühen entstehen dort die Grundstrukturen, die anhand der Bildvorlagen ausgemalt werden. Die Fassadenmaler arbeiten mit allen Tricks der Freskenmalerei seit der Renaissance, und mit den Tricks für perspektivische Illusionen, welche die Bühnenbildner vom Barock bis zu den Hollywoodkulissen angewandt haben.

Sie machen keine Kunst für Eliten, keine Avantgardekunst für Spekulanten. Sie arbeiten nicht für das Museum und nicht für die Ewigkeit. "Wir machen Straßenkunst für jedermann", sagt Halim.

Viele Wände sind zu einem Wahrzeichen Lyons geworden. Die Künstlergruppe Cité de la Création hat im Lauf von zwanzig Jahren aus Lyon mit fast 30 Wandmalereien eine doppelte Stadt gemacht. Die gemalte dehnt die reale Stadt räumlich aus, ohne Raum zu verbrauchen.

Sie hat inzwischen die gebaute Stadt in der Publikumsgunst überholt, und sie hat einige soziale Brennpunkte entschärft. Nicht nur La Sarra, sondern ebenso das Arbeiterviertel im "Etats-Unis"-Distrikt.

Der Traum der Muralisten

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(Foto: Foto: Cité de la Création)

Museé Urbain Tony Garnier und Babylon, 8. Arrondissement

Der Lyoner Stadtplaner Tony Garnier hat hier Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts einen Teil seiner Pläne für eine ideale Cité industrielle realisiert. Das Viertel wurde in den Sechzigern zu einem Slumgebiet, und heute möchte niemand mehr wegziehen. Anfang der neunziger Jahre hat eine Baugesellschaft die siebzig Jahre alten Häuser saniert.

Cité de la Création ist mit den Bewohnern in einen Diskussionsprozess eingestiegen, und da haben die meisten erst erfahren, dass sie in einem architektonsichen Denkmal wohnen. "Wir haben alle zusammen Pionierarbeit geleistet", sagt Halim.

Mauern können Menschen voneinander isolieren. In diesem Viertel kann man durch die Wand gehen. Auf die leeren Wände hat die Gruppe die Idealstadtpläne Garniers aufgetragen, und Künstler aus Indien, Ägypten, Mexiko, der Elfenbeinküste, Russland und den USA haben ihre Träume auf die Hauswände gemalt.

Es gibt einen Satz, den die Gruppe über ihre Arbeit gestellt hat: "Die Mauern sind die Haut der Bewohner." Es dauert ein bisschen, bis der Besucher den Satz wirklich versteht. Und dann setzt Halim nach: "Möchten Sie in einer hässlichen Haut voller Pickel leben oder möchten Sie bestaunt werden?"

Zum Abschied zeigt er im Atelier das neueste Projekt. Das Europaviertel in Berlin-Hellersdorf. Der "Boulevard der Nationen" wird die größte Wandmalerei weltweit. Am 10. September geht es los. Man verabschiedet sich mit leisem Zweifel, ob das, was in Lyon gelungen ist, auch im äußersten Osten von Berlin Erfolg haben kann. Auf dem Rückflug werden die Zweifel leiser. Wer Lyon verwandelt hat, schafft das auch in Berlin.

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